ADB:Wunderlich, Gottlob Friedrich Walter Agathon
Wunderlich, dortselbst (s. o.), verlor seinen Vater schon im 6. Jahre. Von einem Specialcollegen des Letztern, Professor Dissen, in den alten Sprachen unterrichtet, erhielt er, obwol Nicht-Preuße, durch Verwendung väterlicher Freunde eine Freistelle an der bekannten Schule zu Pforta, der er von 1824–1828 angehörte. Nach Göttingen heimgekehrt, trieb er anfänglich philologische Studien, mit denen er später juristische verband, welchen er sich zuletzt ausschließlich widmete. Vier Jahre später (1832) erlangte er mit der Dissertatio philologico-juridica „de antiqua literarum obligatione“ die juristische Doctorwürde, habilitirte sich im folgenden Jahre (1833) an der Universität seiner Vaterstadt als juristischer Docent und trat zugleich in den praktischen Staatsdienst.
Wunderlich: Gottlob Friedrich Walter Agathon W., Oberappellationsgerichtsrath, geboren 1810 in Göttingen, † am 21. November 1878. W., der älteste Sohn des Professors der class. Philologie,Die Aufhebung des hannoveranischen Staatsgrundgesetzes durch König Ernst August und die damit zusammenhängende Absetzung der Göttinger Sieben (1837), bewogen W. nach Berlin überzusiedeln, um sich an einer preußischen Hochschule aufs neue zu habilitiren. Allein schon im nächsten Jahre (1838) erging an ihn eine Berufung nach Basel als Professor des römischen Rechtes. W. besuchte von hier wiederholt Paris, um dort für Herausgabe mittelalterlicher [312] Processualisten eingehende Studien zu machen. Infolge dieser Arbeiten erschienen zu Basel, wo er bis 1842 blieb: „Joannis Andreae Summula de processu judicii“ (1840); „Tancredi Summa de matrimonio“ (Göttingen 1841); „Anecdota, quem processum civilem spectant Bulgarus, Damasus, Bonaguida“ (Göttingen 1841). – Bereits 1842 folgte er einem Rufe nach Rostock als juristischer Docent, wo er als Mitglied, dann als Ordinarius des Spruchcollegiums zu der ihm besonders zusagenden praktischen Rechtsanwendung zurückkehren konnte, mit welcher er bereits in Göttingen bei seinem ersten Auftreten begonnen. 1846 gab er in Berlin eine Sammlung von „Rechtssprüchen und Gutachten der Juristen-Facultät Rostock“ anonym heraus. W. zog es vor, mit Verschweigung seines Namens zu schreiben, vermuthlich aus krankhafter Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen das Urtheil der Kritik. 1847 erging aus Halle ein Ruf an unsern Gelehrten, wo er auf umfassendere Lehrthätigkeit rechnen konnte. Infolge dessen verfaßte er nach seines Lehrers Hugo Vorbild unter dem Titel: „Das römische Recht der Gegenwart“, ein größeres Werk für Studirende, welches sieben Bände enthalten sollte. Bereits 1848 erschien ein kleines Bruchstück: „Eine Pandekten-Vorlesung“ (bes. Obligationen-Recht, Halle). Im nächsten Jahre folgte der siebente Band: „Juristische Aufgaben“ (Halle anonym), sodann 25 Jahre nach dessen Druck ein weiteres Bruchstück: „Familienrecht“ (Lübeck 1875, Selbstverlag des Verfassers). Auch die wohlwollendste Beurtheilung (sagt Jhering) kann bei Würdigung dieser Schrift mit dem Urtheile der Seltsamkeit des Eindruckes, den sie macht, nicht zurückhalten. Dieser Eindruck des Seltsamen wurde noch dadurch gesteigert, daß der Verfasser ohne Paginirung und ohne Benützung der neuesten Litteratur, sich mit Ausnahme der Entscheidungen des Lübecker O.A.-Gerichts aller und jeder Litteraturangaben enthält. Daß das im Selbstverlage des Verfassers erschienene Werk auf buchhändlerischen Erfolg keine Aussicht hatte, braucht wol nicht erst gesagt zu werden.
Im J. 1850 hatte W. die Wahl zwischen der Universität Dorpat und dem Oberappellationsgericht zu Lübeck. W., der seiner Anlage nach mehr Richter als Lehrer, mehr Praktiker als Forscher war, entschied sich für Letzteres. Dasselbe galt damals mit Recht als der „gelehrte Gerichtshof Deutschlands“, da an ihm seit Jahren neben namhaften Männern des Richter- und Anwaltsstandes hervorragende Vertreter der Theorie wirkten, wie Heise, v. Wächter, Kierulff (als Präsidenten), Cropp, Schweppe, Blume, Zimmermann u. a. als Mitglieder. .. In Lübeck befaßte sich W. neben seinen Berufsarbeiten mit Sammlung von Entscheidungen des Lübecker Gerichtshofes. Wir besitzen von ihm „Die Jurisprudenz des Oberappellationsgerichtes der vier freien Städte Deutschlands in Wechselsachen 1821–57. Nebst Anhang aus der Jurisprudenz des Handels- und Obergerichtes zu Hamburg in Wechselsachen. November 1855 bis 1857“ (Frankfurt a. M. 1858, anonym); dann „Die Jurisprudenz des O.-A.-Gerichts der vier freien Städte Deutschlands in bürgerlichen Rechtssachen aus Lübeck 1848–55“ (2 Bde., Bremen 1866). Um dieselbe Zeit erschienen von ihm noch: „Heise’s Handelsrecht. Nach dem Originalmanuscript“ (Frankfurt a. M. 1858) und drei weitere Schriften, hauptsächlich Besprechungen von Rechtsfällen. Endlich publicirte er unter seinem Namen einen ausführlichen Katalog seiner werthvollen Bibliothek Bibliotheca Wunderl.: Altera editio (!) Hal. Sax. 1858. – Die Ereignisse des Jahres 1866 waren auch für den obersten Gerichtshof von Lübeck von wesentlichem Einflusse durch das Ausscheiden Frankfurts aus dem Jurisdictionsbezirke des O.-A.-Gerichtes (1867), sowie durch Errichtung des Leipziger Oberhandelsgerichtes (1870). W. sah diese Competenzschmälerungen nur ungern, konnte sich aber trotzdem zu einer Uebersiedelung nach Leipzig nicht entschließen. .. Im Sommer 1871 veranlaßte Professor v. Jhering, [313] der Gründer der Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechtes, auf der Durchreise durch Lübeck W. zum Eintritt in die Redaction dieser Zeitschrift. Dessen Betheiligung an derselben beschränkte sich aber außer einem kleinen anonymen Beitrage in Band 13, Seite 410–415 leider nur auf die Angabe seines Namens auf den Titelblättern der Jahrbücher. Im J. 1870 stellte sich bei W. ein intensives nervöses Leiden ein, welches seine sonst so rüstige Gesundheit untergrub und ihn 1878 nöthigte, in den wiederholt nachgesuchten Ruhestand zu treten. Nur wenige Monate später, am 21. November desselben Jahres wurde er vom Tode ereilt. W. war verheirathet; seine Tochter war die Gattin seines Lübecker Collegen Schlesinger.
v. Jhering, der dem Verstorbenen einen warmen Nachruf widmete, schildert ihn als einen höchst eigenartigen Charakter, als scharf ausgeprägte Persönlichkeit, die bei dem, was sie als recht und passend erkannt, sich durch hergebrachte abweichende Ansichten und durch Erregung von Anstoß in keiner Weise beirren ließ. Der Grundzug seines Wesens war eine eigenthümliche Mischung von Offenheit, Wohlwollen, strengster Rechtlichkeit verbunden mit dem Besitze seiner weltmännischer Formen und gewinnender Liebenswürdigkeit und dabei große Reizbarkeit und ein bis zum Excessiven gehendes Streben, auch in kleinen Dingen sich nicht dem Hergebrachten zu fügen, sondern unter Herausforderung desselben unabhängig und selbständig nur der eigenen Meinung zu folgen. „Dürfte ich“, sagt v. Jhering am Schlusse seiner Charakteristik, „eine psychologische Studie geben, der Verstorbene würde hierzu einen interessanten Stoff liefern“.
Als Mann der Wissenschaft besaß W. die gründlichste, philologische Bildung, eingehende, litterarhistorische Kenntnisse und beherrschte das römische Recht sowie den Proceß in ausgedehntester Weise. Da er nach seiner ganzen Anlage mehr Praktiker als Theoretiker, sohin eine wesentlich receptive Natur war, ist der Schwerpunkt seines Wirkens in der richterlichen Thätigkeit gelegen.
- Agathon Wunderlich. Ein Nachruf von R. v. Jhering in den Jahrbüchern für Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechtes. Bd. XVII, 145–157.