ADB:Wiehrl, Martin
*): Martin W., Priester der Diöcese Speier, † am 19. März 1794. Aus dem bischöflichen Seminar in Bruchsal, dessen Alumnus er gewesen war, wurde W. im J. 1778 auf das Ersuchen des Markgrafen von Baden, ihm einen geeigneten Lehrer der Philosophie für die katholische Lehranstalt in Baden zu überweisen, von dem Fürstbischof von Speier dahin gesandt, um diese Professur zu übernehmen. Der im übrigen unbedeutende Mann, der einer seichten rationalistischen Modephilosophie und Nützlichkeitsmoral gehuldigt zu haben scheint, gelangte zu einer zeitweiligen Berühmtheit eigener Art durch die philosophischen Thesen, die er im März 1780 drucken ließ: „Lehrsätze aus der praktischen Philosophie vertheidigt von Franz Anton Gall aus Tiefenbronn, August Schnitzler aus Steinbach. Baden den 16. März 1780“ (vollständig abgedruckt auch in den Acta hist.-eccl. nostri temporis VII, 623–634). Die Thesen waren dem Lehrbuch der praktischen Philosophie des Göttinger Professors der Philosophie J. G. H. Feder entnommen, nach welchem Buche W. seine Vorlesungen über philosophische Moral hielt, wie dasselbe damals auch an andern katholischen Lehranstalten, besonders an den österreichischen Universitäten, als Lehrbuch benutzt wurde. W. hatte diese Thesen eigenmächtig drucken lassen, ohne sie zuvor in vorschriftsmäßiger Weise dem Director der Lehranstalt zur Censur zu unterbreiten. Dieser nahm davon Veranlassung, sich bei dem Markgrafen zu beschweren, sodann die Abhaltung der Disputation zu verbieten und die Thesen dem Fürstbischof einzusenden. Von Seiten des bischöflichen Ordinariates wurden darauf dem W. achttägige geistliche Exercitien zur Buße auferlegt für die ordnungswidrige Handlungsweise, und ihm die öffentliche Vertheidigung der Thesen untersagt, da Anstößiges darin vorkomme. Eine darauf hin von dem Markgrafen anberaumte Disputation in Gegenwart der Professoren der Lehranstalten von Baden und Rastatt verlief ohne Resultat. Inzwischen wollte der Fürstbischof den W. von Baden abberufen, um ihm eine Lehrstelle an dem Clericalseminar in Bruchsal zu übertragen und ihn dort unter unmittelbarer Aufsicht zu haben. W. weigerte sich aber, von Baden wegzugehen, und der Markgraf stellte sich auf seine Seite. Auch der Aufforderung, persönlich in Bruchsal zu erscheinen, um über seine Thesen Rechenschaft zu geben, leistete W. nicht Folge. Die darüber zwischen dem Fürstbischof und dem Markgrafen entstandene Meinungsverschiedenheit veranlaßte jenen, die Thesen den theologischen Facultäten von Heidelberg und Straßburg vorzulegen, damit dieselben ihr Gutachten abgeben sollten, während der Markgraf sich an die theologische und die philosophische Facultät zu Freiburg wandte. Die beiden Freiburger Facultäten gaben ihre Gutachten zu Gunsten Wiehrl’s, während die Heidelberger und Straßburger Theologen mehrere Sätze als verwerflich bezeichneten. Unter den als anstößig bezeichneten Sätzen sind besonders die beiden folgenden hervorzuheben: „Selbstliebe ist der einzige ursprüngliche Grundtrieb des Menschen“. „Aus vernünftigen [496] Begriffen von Gott erhellet, daß Ehrfurcht, Liebe, Dankbarkeit, Anbetung und Vertrauen auf Gott die unmittelbarsten Folgen der Selbstliebe sind.“ Die Gutachten von Heidelberg und Straßburg ließ der Fürstbischof von Speier, August Graf von Limburg-Styrum, mit einem Hirtenbrief vom 28. December 1780 drucken. W. wurde die fernere Ausübung des Lehramtes und den andern Professoren zu Baden die Vertheidigung seiner Thesen untersagt. Gegen die Heidelberger und Straßburger Gutachten verfaßten die Freiburger Facultäten im Februar eine neue Vertheidigung, welche zugleich mit deren früheren Gutachten im Auftrage des Markgrafen in Karlsruhe gedruckt wurde („Vollständiger Abdruck zweier, von der phil. u. theol. kath. Facultät der k. k. vorderösterreichischen Akademie zu Freiburg i. B. gestellten Bedenken …“, Karlsruhe 1781), mit einem vorausgehenden „Aktenmäßigen Vorbericht“ von dem markgräflich badischen geheimen Referendar K. F. Seubert, und einer von W. selbst lateinisch verfaßten Erklärung der angefochtenen Sätze. (Letztere ist in deutscher Uebersetzung auch abgedruckt in den Acta hist.-eccl. nostri temporis VII, 684-714.) Gegen Seubert erschien eine Erwiderung von dem geistlichen geheimen Referendar Anton Schmidt in Bruchsal (Bruchsal 1781). Ein anonymes „Schreiben an einen Freund“ zu Gunsten der Wiehrl’schen Sache (1781) verurtheilte der Fürstbischof in einem Hirtenbrief vom 10. März 1781. Seitdem erschien noch eine größere Anzahl von Schriften für und gegen W., theils von Professoren der durch ihre Gutachten an dem Streite betheiligten Facultäten, theils anonym. Eine gute bibliographische Uebersicht über die Litteratur ist in der Nova Bibliotheca Friburgensis gegeben, eine noch vollständigere bei Walch (s. unten). Die vollständigste Sammlung der amtlichen Actenstücke ist die „Collectio Scriptorum ad theses philosophicas Bedenses … spectantium. Sammlung der Schriften über die Badenschen Lehrsätze aus der praktischen Philosophie vom 16. März 1780“ (Bruchsal 1781). Im J. 1782 äußerten sich noch die Facultäten von Wien, Prag, Fulda und Salzburg zu Gunsten Wiehrl’s; diese Gutachten sind gedruckt in der Schrift: „Weitere Beleuchtung der Wiehrlischen Sache“ (1782). (Die wichtigsten Documente sind theilweise auch abgedruckt in der unten anzuführenden Litteratur.) Inzwischen war die Sache auch in Rom anhängig gemacht worden. Da die Entscheidung auf sich warten ließ, wurde W. vom Markgrafen wieder in das Lehramt eingesetzt und begann seine Thätigkeit wieder am 9. Januar 1783. Die inzwischen erfolgte Verfügung der Index-Congregation wurde ihm mit einem Schreiben des Fürstbischofs vom 20. Januar 1783 zugestellt. Die Index-Congregation legte ihm eine Erklärung der beanstandeten Sätze vor (abgedruckt in der Nova Bibl. Frib. VI, 721–725) und verlangte von ihm die Erklärung, daß er die Sätze nur in diesem Sinne verstanden haben wolle; ferner sollte er versprechen, auch von den übrigen Sätzen eine lat. Uebersetzung nach Rom zu senden und später das Ganze mit den ihm etwa weiter zukommenden Erläuterungen drucken zu lassen. Etwas weiteres scheint indessen in der Sache nicht mehr erfolgt zu sein, nachdem W. die geforderte Erklärung abgegeben hatte. Auf den Index sind die Thesen nicht gekommen. Seitdem hört man nicht mehr viel von dem Manne. Er blieb noch bis 1791 in seinem Amte in Baden; an Ostern dieses Jahres wurde er abgesetzt und erhielt dann die Pfarrei Mörsch bei Karlsruhe, welche er am 23. November 1791 bezog; dort ist er auch gestorben.
Wiehrl- Nachrichten und Urkunden zur Geschichte der Verketzerung Herrn Martin Wiehrl; Acta historico-ecclesiastica nostri temporis, VII. Band (1781), S. 599–716. – Brevis notitia dissidii de Thesibus Badenae anno 1780 propugnatis; deque scriptis, quae in eam rem hucusque prodierunt; Nova Bibliotheca ecclesiastica Friburgensis, Vol. VI, 2 (1781), p. 272 bis [497] 297; ib. VI, 2 (1782), p. 487–507; VI, 4 (1783), p. 718–725. – A. L. Schlözer’s Briefwechsel meist histor. u. polit. Inhalts, VIII. Theil, Heft 46 (1781), S. 222–258 (S. 246–258 ein Schreiben von Feder an Schlözer); IX. Theil, Heft 49 (1781), S. 55–68; Heft 52, S. 204–231. – Religions-Journal Bd. V (Mainz 1780), S. 572–574; Bd. VI (1781), S. 183 ff.; 286 ff.; 380 ff.; Beilagen Bd. III. S. 67–101; 193–206. – Chr. W. F. Walch’s Neueste Religions-Geschichte, IX. Theil (1783), S. 407–498. – Ph. J. von Huth, Versuch einer Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts, II. Band (1809), S. 370–374. – Reusch, Der Index der verbotenen Bücher, Bd. II, 2 (1885). S. 1006. – Oberdeutsche allgem. Litteraturzeitung, 1791, Bd. II, 153. Stück, S. 1200; 1794, Bd. I, 43. Stück, S. 707 f.
[495] *) Zu Bd. XLII, S. 395.