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ADB:Wechsler, Ernst

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Artikel „Wechsler, Ernst“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 41 (1896), S. 780–782, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wechsler,_Ernst&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 04:30 Uhr UTC)
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Wechsler *): Ernst W., Schriftsteller, wurde am 24. Juni 1861 zu Güssing in Steiermark geboren, kam sehr früh nach Graz, wo er die Eltern verlor und das Gymnasium besuchte. Aus diesem kurz vor dem Absolutorium wegen der Dichtung „Der Festzug des Lebens“ 1880 relegirt, wurde er, da er nun auf die akademischen Studien verzichten mußte, von Robert Hamerling, der wol verwandte Züge in dem höchst strebsamen Jünglinge entdeckte, ermuthigt und gefördert. Noch im genannten Jahre erschien das incriminirte Werk im Druck, und seitdem bekundet seine Weltanschauung, desgleichen Art und Stimmung seiner Poesie, entschieden den Einfluß seines Gönners. Leider war ihm allerdings ein regelrechter Ausbau der angeborenen hohen Dichtergaben aus äußeren Gründen verwehrt, und so ist der Fortschritt seiner Entwicklung fast nur formell. Hamerling, in Alltagsfragen selbst nicht übermäßig praktisch, konnte ihn durch seinen Schutz nicht in sichere Lage bringen. So lebte W. erst theils in Graz, theils in Wien als freier Litterat, vielerlei Journalistisches zwangsweise producirend, nicht ohne rastlos seine Muse zu erziehen. 1886 übersiedelte er nach Berlin, wo es ihm allmählich gelang, sich eine ziemlich unabhängige Position zu begründen, indem er bei angesehenen Tagesblättern periodischer belletristischer Mitarbeiter wurde und dann daneben die Redaction der „Feuilleton-Zeitung“ des Literarischen Instituts Greiner & Comp. übernahm, die er durch Geschick und Eifer über ihre zahlreichen Concurrentinnen emporhob. So figurirte er auch bald in verbreiteten Unterhaltungsjournalen und Revuen; z. B. in Westermann’s Monatsheften hat er einige gediegene litterarhistorische Studien veröffentlicht. In Berlin ist ihm von Koryphäen der Kritik besonders Karl Frenzel freundlichst entgegengekommen und hat ihm die von ihm geleitete Feuilletonrubrik der „National-Zeitung“ bereitwillig geöffnet. Daselbst rühmte dessen knapper präciser Nachruf von W.: „in seinen zahlreichen, bald kürzeren, bald umfassenderen kritischen Aufsätzen schätzten die Leser eine große Belesenheit, Milde und Besonnenheit des Urtheils, eine feine und durchsichtige Darstellung und eine, bei unsrer literarischen Jugend doppelt anerkennenswerthe Tugend: die Bescheidenheit des Auftretens. Diese Bescheidenheit, Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit der Sitten zeichnete auch den Menschen aus und machen den Verlust, den sie durch den vorzeitigen Heimgang dieses guten Menschen und dieses vielversprechenden Talentes erlitten haben, seinen Freunden zu dem schmerzlichsten. Sie werden ihm ein treues Gedächtniß bewahren“. Kurz nach dem Antritte des 33. Lebensjahres ist W. nach rascher, harter Krankheit im St. Urbanspitale an perniciöser Anämie gestorben, den 10. Juli 1893; am 13. wurde er auf dem Friedhofe zu Weißensee bei Berlin nach jüdischem Ritus beerdigt, aus welch letzterem er trotz aller Unbill, die er bei seiner ausgesprochen deutschnationalen Gesinnung zu erdulden gehabt hatte, nicht ausgeschieden war.

Auf seinem eigentlichen Gebiete hat W. nach jenem Erstlinge nur zwei größere Erzeugnisse hervorgebracht: „Der unsterbliche Mensch. Eine Dichtung in fünf Gesängen (frei nach einer Sage über Moses Maimonides)“, 1884, 2. Auflage 1889, und „Orgien und Andachten“, 1886. Mit dem ersteren schwimmt W. ganz im Fahrwasser seines Protectors, so daß ein Kritiker sagte: „Seit Hamerling’s ‚Ahasver in Rom‘ ist wol kein Epos entstanden, das wie diese Wechsler’sche Dichtung gluthvollste Phantasie, fesselndsten Gedankenreichthum und nahezu vollendete Formschönheit in sich vereinigt und so als ein [781] Ganzes, als ein Kunstwerk erscheint, das von nachhaltiger Wirkung auf den Leser ist“. Und weiter äußert sich derselbe: „Quellfrisch, oft wohl überschäumend in hastigem Lebensdrange, dann aber wieder milde dahinfließend, von Sonnenglanz durchwoben, Himmelsbläue und Sternenlicht, den Zauberreiz des Orients in sich spiegelnd, so umfluthet uns die Wechsler’sche Dichtung, den Geist durch ihren mystischen, philosophisch ausgestalteten Kern in angenehmster Weise fesselnd, die Phantasie durch die Gluth ihrer farbenprächtigen Schilderungen lebhaft beschäftigend. Wie die Ausführung des Epos mit seiner sich spannend, förmlich dramatisch steigernden Handlung dem Dichter W. zum Ruhme gereicht, so stellt die Wahl des Stoffes dem Denker und Forscher das günstigste Zeugniß aus. Im Mittelpunkte der Dichtung steht die sagenumwobene Gestalt des jüdischen Gelehrten Moses Ben Maimon, genannt Maimonides, der durch die Almohaden aus Andalusien vertrieben, sich nach dem Orient wandte, aber auch hier durch seinen rastlos vorwärts strebenden Wahrheitsdrang sich den Haß, die Verfolgung seiner Glaubensgenossen zuzieht. Vielfach unverständlich, wie er, der weit Vorausblickende, seinen Zeitgenossen erscheinen mußte, ergibt es sich fast von selbst, daß die Sage sich seiner Erscheinung, seines Wollens und Wirkens bemächtigte und, wie schon im Titel angedeutet, eine dieser Sagen ist’s denn auch, welche dem vielgestaltigen Inhalt des Epos zu Grunde liegt. Die ganze Durchführung beweist, daß der Dichter nur nach eingehendstem Studium der reichlich vorhandenen Ueberlieferungen an sein Werk herangetreten ist, gleichzeitig aber auch, daß er den conformen Fragen der Gegenwart nicht fremd gegenüber steht; er hat hier ein Bindeglied zu schaffen gewußt, welches dem Werke eine nicht gewöhnliche symbolische Bedeutung verleiht“. Wie man (vgl. F. Brümmer, Lexik. d. d. Dichter u. Prosaisten d. 19. Jhrdts.3 II, 457 a) dies Dichtwerk als „materialistische Dichtung“ bezeichnen kann, ist unerfindlich. Auch in den „Orgien und Andachten“ hat Frenzel (a. a. O.) mit Recht Hamerling’schen Schwung und Tiefsinn athmen gespürt. Die rein sachlichen Elemente lassen sie zurücktreten, aber sie haben, wie Gottschall bemerkt, warmes Lebensblut, dem bisweilen die Pulse etwas fieberisch schlagen. Ein streng epischer Hexameter kleidet diese Novellen und Legenden öfters ein, auch wenn keine heroischen oder idyllischen Themata angeschlagen werden. Die Ideen- und didaktische Poesie konnte von W. noch erhebliche Leistungen erwarten, falls nicht pecuniäre Verhältnisse und zeitiger Tod ihn dieser wenig gepflegten Gattung entrissen hätten. So ist er nur noch zu verschiedenartigen Novelletten und Skizzen gekommen, die nicht bloß regste Einbildungskraft, sondern auch, nach Frenzel’s Ausdruck, fein drolligen, aus der Wirklichkeit gleichsam herauswachsenden Humor verrathen. Die besten davon bietet die bunte Sammlung ernster und heiterer Nummern unter dem Titel „Gespenster im Sonnenschein. Merkwürdige Alltagsgeschichten“ (1889). Ein Recensent offenen Blicks, Wechsler’s Landsmann Fritz Lemmermayer, spricht sich über sie wie folgt aus: „Die Gespenster, die der junge Verfasser meint und die nicht bei nachtschlafender Zeit sich zeigen, sondern bei klarem Sonnenscheine, sind nicht die alten romantischen, unserer nüchternen Zeit als antiquirt erscheinenden, es sind keine Gespenster von Verstorbenen, keine fieberhaften Phantasmagorien, es sind der Hauptsache nach sehr greifbare Gespenster, entweder wirkliche Menschen mit absonderlichen Merkmalen behaftet oder Seelenzustände, die sie beunruhigen und foltern, Vereinsamung, trübe Erinnerung, böses Gewissen, Nervosität. Leicht und gewandt versteht E. W. zu erzählen, anregend und spannend zu erfinden. Er taucht seinen Pinsel in lebendige Farben, die überall eine reiche Stimmung mit sich führen und unabweislich den Leser in ihren Bannkreis ziehen“. Das erste Stück ist etwas gekünstelt, freilich klug combinirt und voller Geist, wie [782] alle Ausgeburten reifen Wechsler’schen Schaffens; jedoch weisen die übrigen mehr von jenem unstillbaren Drange nach wahrer Schönheit auf, die allenthalben die Dichtungen Wechsler’s als echten Genossen seines Meisters Hamerling beseelt, „neben der antheilvollen und sinnigen Betrachtung der traurigen Räthsel des menschlichen Daseins, die der anonyme Referent in „Westermann’s Monatsheften“ (Bd. 67, S. 141 f.) ferner hervorhebt. Das anmuthende letzte Product aus Wechsler’s fleißiger Feder, „Wilhelm Hauff. Eine literarische Studie“, erschien in letztgenanntem Organe aus dem Nachlasse im September 1894. Derartiger Charakteristiken und kleinerer skizzenhafter Beiträge zur Geschichte der zeitgenössischen Litteratur, wie „Zur Leidensgeschichte des Dichters Oskar v. Redwitz“, aus der National-Ztg. 1891, Nr. 415, in mehrere andere Tagesorgane übergegangen, hatte er eine Reihe geschrieben, wobei er meistens über die Sonderheiten des Porträtirten sich gut unterrichtet zeigt und fesselnd plaudert, mehr als über das Milieu. So leidet sein aus solchen Einzelsilhouetten zusammengefügter Band „Berliner Autoren“ (1892) an manchen Einseitigkeiten, so gleich schon an Willkür der Auswahl: neben seinem älteren Freunde Frenzel – diese Schilderung schon 1891 in Heft 1 von „Die moderne Literatur in Einzeldarstellungen“ – stehen da Adolf Glaser, dessen Schriften W. 1891 i. d. Nat.-Ztg. Nr. 495 gut kategorisirt hatte – H. Heiberg, K. Bleibtreu, H. Seidel, Trojan, A. v. Roberts, Wildenbruch, flüchtiger erwähnt werden Fontane, Spielhagen, P. Lindau, Sudermann, Kretzer, Rodenberg, dazu viele andere mit dem Namen gestreift. Zwei weitere Bände, nicht mehr ausgeführt, sollten die Rückstände ausgleichen. Das ältere Bändchen „Wiener Autoren“ (1888) ist zwar in dem maßgeblichen Lufthauche der litterarischen Atmosphäre der Donau-Kaiserstadt gleichmäßiger daheim, führt aber fast nur Männer der Tagespresse vor. Auch die großen Dichter seines österreichischen Vaterlandes, Lenau (Westermanns Monatshefte Bd. 68), Grillparzer (Nat.-Ztg., 2. Apr. 1891) u. A. hat er behandelt.

Von oben eingeflochtenen kritischen Stimmen findet man K. Frenzel Nat.-Ztg., 46. Jhrg., Nr. 415 S. 3 (anonym), die über „Der unsterbliche Mensch“ im „Lpzg. Tagebl.“ 1889 (M[ari]e U[hse]), die R. v. Gottschall’s „Die dtsch. Nationallitt. d. 19. Jhs.“6 III, 427, die erste über „Gespenster im Sonnenschein“ Blätt. f. lit. Unterhltg. 1889, S. 595b (ebd. 1892 Nr. 37 Ad. Schröter über „Berliner Autoren“: „das Bravourstück eines literarischen Strebers“!). Das Buch „Berliner Autoren“ bespricht eingehend und abfällig G. Roethe, Jahresberichte f. neuere dtsch. Litteraturgesch. 3. Bd., IV 1e, 362 (vgl. auch 363–364 und 2. Bd., IV 3, 233–234 u. 3. Bd., IV 1, 19).[1]


[780] *) Zu S. 369.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 782. Z. 15 v. u. Wechsler, Ernst: Ein knapper aber würdiger Nekrolog in der Frankf. Zeitung 1893, Nr. 192. [Bd. 44, S. 574]