ADB:Waser, Heinrich
der Bürgermeister (s. d. A.) angehört hatte –, machte sich Johann Heinrich W. schon während der Studienzeit, durch seine Vorliebe für die physikalisch-mathematische Disciplin, ebenso auch für Geschichte, bemerkbar. Doch war er wegen seines schnell auffahrenden, launenhaften Wesens, wegen eines Hanges zu hämischem Spott bei den Altersgenossen [221] wenig beliebt. Nach Vollendung der theologischen Vorbereitung wurde er im Herbst 1770 Pfarrer an der Filialkirche des Großmünsters von Zürich, in der südöstlichen Vorstadt, zum Kreuz (der seit 1839 so geheißenen Kirchengemeinde Neumünster). W. zeigte hier anfangs, so als er 1771 der drückenden Hungersnoth durch persönliche Opfer aus seinen keineswegs überflüssigen privaten Mitteln zu steuern suchte, großen Eifer, und die Acten der Visitation vom April dieses Jahres sagen, das anfangs W. in der Gemeinde entgegen gebrachte Mißtrauen habe sich in Liebe und Vertrauen verwandelt. Aber W. ging bald mit übereilten Schritten vor und verdarb seine Stellung völlig. Er fand Grund, die Vorsteher der Gemeinde Riesbach anzuklagen, sie ließen es bei der Verwaltung der Gelder an Ordnung fehlen, und deutete sogar die Möglichkeit einer Unterschlagung an. Die obere Behörde, die Verwaltung der Obervogtei Küßnach, deren Gebiet Riesbach zugetheilt war, fand Waser’s Beschuldigung richtig und verurtheilte die Gemeindevorgesetzten zu Buße und Schadenersatz; aber diese stellten die Buße der Gemeinde in Rechnung, und diese Sache ließ man hingehen. So trat der Pfarrer 1772, empört darüber, von neuem klagend auf, und jetzt stieß er auch die Obervögte vor den Kopf; nachdem er schon früher durch eine etwas scharfe Predigt die Gemeinde geärgert hatte, machte er sich nunmehr vollends zum Träger von Ohrenbläsereien, und als er an einem Sonntag Abend in ein benachbarte berüchtigtes Wirthshaus hatte schicken lassen und da „noble Sauf- und Spielgesellen mit brennenden Pfeifen und Billardstöcken“ ertappt worden waren, hatte er vollends seine Competenz weit überschritten. Weitere Dinge kamen hinzu, bei denen er oft sachlich im Rechte war, während die Art der Durchführung ihn in das Unrecht stellte. Wie Lavater später mit Recht an Schlözer nach Göttingen schrieb, wollte W. in diesen Jahren der Ungerechtigkeit wehren und beging selbst Ungerechtigkeiten, zieh Andere der Lüge und log selber. So kam es bis zum October 1773 so weit, daß die Obervögte an den Rath von Zürich als die oberste Behörde einen Bericht über das Betragen des Pfarrers, mit Bitte um Untersuchung, einreichten; die Sache der im Unrecht befindlichen Gemeindevorsteher war durch Waser’s Unbesonnenheit und Leidenschaft diejenige der Obervögte, einer beleidigten Obrigkeit, geworden. So wurde W. das Opfer eines formlosen Proceßverfahrens, das am 16. Februar 1774 zu seiner Amtsentsetzung durch den Rath – als „Ahndung und Strafe seiner unüberlegten und ungründlichen Handlungen“ – führte. Die Sache war zu weit gediehen; umsonst hatte W. um Niederschlagung gebeten, alle mögliche Genugthuung angeboten. Die Entsetzung aber nährte nun in dem unglücklichen Manne jene zur Rachbegier sich steigernde Unzufriedenheit, die ihn zu immer weiter gehenden Schritten antrieb. Er suchte die Revision seines Urtheiles stets von neuem nach, stieß durch seinen Eigensinn die Gönner und Freunde, die ihm noch geblieben waren, stets mehr zurück. Durch die Verlesung eines bitteren Memorials, voll von giftigen Ausfällen und heftigen Anschuldigungen, vor seiner versammelten Zunft zog er sich den gänzlichen Ausschluß von derselben auf vier Jahre hinaus zu. Neben allem Weiteren machte sich auch finanzielle Noth fühlbar, die den gereizten Mann – schon gleich nach der Amtsentsetzung sagte er zu Lavater: „Die Glocke wider mich ist gegossen“ – immer mehr verbitterte.
Waser: Johann Heinrich W., Theologe und Litterat, geboren am 1. April 1742 zu Zürich, hingerichtet daselbst am 27. Mai 1780. Als Sohn eines Handwerkers, aber aus einer wohlhabenden und geachteten bürgerlichen Familie geboren – doch zählte sie nicht zu dem Zweige, demIndessen benutzte nun W. diese seine unerwünschte Muße zu angestrengten wissenschaftlichen Arbeiten, in denen es ihm gelang, unleugbar vielfach neue Pfade in ergiebiger Weise einzuschlagen. Als volkswirthschaftlich-statistischer Schriftsteller trat er mit großem Erfolge auf. 1775 erschien als erste Frucht dieser Studien, noch ohne Nennung des Autors, die Schrift: „Abhandlung über die Grösse der ganzen Löbl. Eidgnoßschaft überhaubt und des Kantons Zürich insonderheit“, für deren Durchführung er sich eines auf Horn gezeichneten Mikrometers [222] als des Meßinstrumentes bedient hatte. 1778 folgten: „Betrachtungen über die Zürcherischen Wohnhäuser, vornämlich in Absicht einer Brandkasse und Bürgerprotokolls, sammt einigen anderen dahin einschlagenden ökonomisch-politischen Bemerkungen“ – und: „Abhandlung vom Geld“. Die erste Arbeit beruht auf sorgfältigen Berechnungen und enthält beispielsweise auch den Status der unumgänglichen Baarausgaben einer geringen, einer mittleren, einer vornehmen Haushaltung, je nach der Wohnung in der Stadt oder auf dem Lande, und auf ihren Ergebnissen wurde später die zürcherische kantonale Gebäudeassecuranz eingeführt. Das zweitgenannte Buch enthält neben interessanten historischen Ausführungen über das schweizerische und zürcherische Münzwesen auch wichtige praktische Vorschläge, betreffend Fixirung des Münzfußes, Abhülfe gegenüber der großen Verschiedenheit der verschiedenen Münzgattungen. 1779 kam in Folioformat heraus: „Historisch diplomatisches Jahrzeitbuch zur Prüfung der Urkunden (etc.)“, mit Kupfern und Tabellen. Anderes gelangte nicht zum Druck, wie „Ceres Thuricensis oder chronologische Beschreibung der Getreid-Preise und Beschaffenheit der Jahrgänge in troknen und nassen Früchten im Zürich-Gebiet, auch anderen Orten der Eidgnoßschaft“. Andere Arbeiten bezogen sich auf die Bedeutung der Volkszählungen und auf die Möglichkeit der Ableitung einer Absterbeordnung – eine in graphischer Form dargestellte, im Manuscripte erhaltene Mortalitätstabelle soll mit denjenigen der besten modernen Rentenanstalten wetteifern –, ferner auf Verirrungen wissenschaftlicher Bestrebungen, namentlich in der Naturkunde, und Anderes.
W. nannte sich auf dem Titel mehrerer Publicationen: „Der Physikalischen Gesellschaft in Zürich ordentliches Mitglied und Bibliothecarius“, und allerdings lag ein wesentlicher Theil seiner Thätigkeit auf dem Boden dieser seiner Beziehungen zu der 1746 durch Johannes Geßner (s. A. D. B. IX, 103–106) gestifteten Naturforschenden Gesellschaft. Daneben war er seit Herbst 1778 durch die Staatskanzlei beschäftigt, und da er, wie sein gelehrtes Werk über Chronologie bewiesen hatte, auf diplomatische Studien sich sehr wohl verstand, wurde er bei Verfertigung eines zweiten Copialbuches über die Urkunden von Stadt und Landschaft Zürich, des sogenannten Corpus diplomaticum novum, herangezogen. Infolge dieser Arbeiten für das Archiv wandte Stadtschreiber Landolt W. das weitgehendste Vertrauen zu, und dieser erhielt sogar die wichtigsten Stücke zum Copiren nach Hause. Aber auch in politischen Tagesfragen trat W. stets wieder hervor. Als 1777 wegen des Abschlusses des Bündnisses mit Frankreich eine lebhafte Bewegung unter einem Theile der Zürcher Bürgerschaft entstand (s. A. D. B. XI, 298), da war W. ein Vertrauter der Mißvergnügten; allein er ließ sich dadurch nicht abhalten, auch dem Bürgermeister Heidegger als Berichterstatter zu dienen.
W. hatte schon in den genannten veröffentlichten Schriften da und dort sehr subjective Bemerkungen und praktische Nutzanwendungen, die sich auf die Gegenwart bezogen, einfließen lassen. Jetzt begann er mit dem berühmten Publicisten, Professor Schlözer (s. A. D. B. XXXI, 567–600, speciell 584 u. 585), anzuknüpfen, dessen „Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts“, von dem je sechs Hefte – seit 1779 erschienen jährlich zwölf – einen Band bildeten, seit dem Beginn der Zeitschrift 1776 weit und breit durch seine neuen, oft überraschenden Mittheilungen das größte Aufsehen hervorrief. Am 22. August 1779 schickte W. nach Göttingen die ersten Beiträge; dabei nannte er Schlözer „Vater oder wenigstens Säugeamme und Erzieherin der deutschen Statistik“. Diese Aufsätze waren: „Verzeichniß über das Einkommen der geistlichen Pfründen im Kanton Bern“ und „Geschichte des zürcherischen Kriegsfondes“, sowie drei Reden, die bei Anlaß jener Bundeserneuerung von [223] 1777 in Zürich gehalten worden waren. Aber W. wollte ausdrücklich diese Reden blos zum klugen Gebrauche Schlözer mitgetheilt haben, unter Erinnerung an Schlözer’s Versprechen, daß er keinen seiner Correspondenten, ohne die größte Noth, namhaft machen wolle: glaube das Schlözer hier nicht thun zu können, so bittet W.: „Obsecro per omnia sacra: machen Sie diese Reden niemals bekannt, sondern werfen Sie dieselben weit eher ins Feuer, als daß Sie mich dadurch unglücklich machen“. Dagegen verhieß W., wenn Schlözer seinen Namen verschweigen wolle, noch eine vollständige documentirte Geschichte der französisch-helvetischen Bündnisse. Hinsichtlich des Aufsatzes über den Kriegsfond meinte W., Schlözer könne, da man da schon Waser’s Autorschaft in Zürich kenne, für denselben je nach Gutdünken den Namen des Verfassers angeben; immerhin bat er den Empfänger der Sendung auch hinsichtlich dieser Abhandlung um ein fictives Antwortschreiben, dessen Inhalt er ihm vorschrieb: „Wenn wir nicht die Inquisitoren auf eine geschickte Art hintergehen können, so werden die Fremden Helvetien, ja, was sage ich! – wir selbst unser Vaterland nie kennen lernen“. Am 10. October sandte Schlözer den begehrten fictiven Brief nebst einem größeren vertraulichen Schreiben, das mit den Worten anhob: „Da haben Sie meine deutsche Hand, deutsch-helvetischer Mann! Kein Censor, kein Inquisitor, kein Satan soll je erfahren, weder was Sie mir schon geschickt haben, noch was Sie künftig schreiben werden“. Der weitere Inhalt der Antwort führt den Gedanken aus, daß Publicität der Puls der Freiheit sei, und erbat sich von W., aus „Helvetien, bisher einer stillen Polyphemushöhle“, noch weitere Einsendungen, „auch ältere wichtige geheime Sachen“, aus Zürich oder aus anderen Kantonen.
Mit dem 31. Hefte des Theiles VI – 1780 – begannen im „Briefwechsel“, ohne Waser’s Nennung, die Veröffentlichungen seiner Beiträge, mit dem S. 57–61 füllenden Stücke Nr. 5: „Ursprung und Beschaffenheit des Kriegs-Fonds in Zürich“, dem zwar Schlözer selbst eine Bemerkung: „Dieser Aufsatz ist nur für helvetische Leser lesbar“ – beifügte. Thatsächlich war die erste Bestimmung dieses seit 1683 aus bei der Erwählung der größtentheils schlecht oder gar nicht direct besoldeten zürcherischen Magistratspersonen erlegten Summen entstandenen Fond gewesen, die ärmeren Milizpflichtigen für ihre gleichförmige Bekleidung zu unterstützen, wogegen später die Regierung den Ertrag für andere militärische Zwecke benutzte und alle Pflichtigen angehalten wurden, sich selbst sowol zu bewaffnen, als zu bekleiden. Eine von W. angefügte, durch Schlözer in eine Anmerkung gestellte Erläuterung zu dem nur kurze Zahlenangaben enthaltenden Aufsatze redet von „unbarmherziger Strenge gegenüber dem armen Landmann“, von „verderblich monopolischem Handel mit Kriegsbedürfnissen“ und klagt ein Regierungsmitglied an, daß es Gelder des Fonds unter eigenem Namen angelegt habe. Der Aufsatz Nr. 7 im 32. Hefte, S. 67–82, kennzeichnet sich genügend durch den Titel: „Schweizer-Blut und Franz-Geld, politisch gegen einander abgewogen“; derselbe bringt, freilich mit bedeutenden Irrthümern und sehr gewagten Berechnungen, interessante Angaben über den Schweizer Kriegsdienst in Frankreich. Im gleichen Jahre kamen noch, S. 102–106, 120–123, die statistischen Arbeiten Nr. 10 und 15: „Bevölkerung des löbl. Kantons Zürich, in verschiedenen Zeitaltern“, an deren Schluß der „Herausgeber“ frageweise die „zu starke, zu ungewöhnliche“ Schwankung – „Ebbe und Flut“ – hervorhob, und: „General-Etat der Bevölkerung der Hauptstadt und Landschaft Bärn“. Im 33. Heft machten die von W. schon in jenem Briefe vom 22. August hervorgehobenen Reden: „Dispüten in Zürich, über das Staatsrecht dieses Kantons, bei Gelegenheit der französischen Allianz“ (S. 151–196) den Schluß der Einsendungen.
[224] Allein nun war eine ganz andere Folge aus diesen Veröffentlichungen erwachsen, als W. angenommen hatte. Die von ihm so gefürchtete Mittheilung der Reden erregte in Zürich gar kein Aufsehen, wie an Schlözer geschrieben wurde. Um so mehr richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Aufsatz über den Kriegsfond, sowie auf die drei weiteren als Nr. 7, 10 und 15 bezeichneten Mittheilungen des „Briefwechsels“. Als „sehr boshafte, höchst bedenkliche und ärgerliche, der Ehre hiesig hohen Standes nahe tretende Pièces“ standen sie in dem Verhaftsbefehle bezeichnet, der gegen W. erlassen wurde. Am 17. März 1780 wurde W. in einer Sänfte in den bürgerlichen Civilarrest auf das Rathhaus gebracht. Allein zu diesem Schritte war noch eine zweite Ursache vorhanden gewesen. Stadtschreiber Landolt, ein redlicher, aber unbedeutender Mann, hatte es eines Tages versäumt, bei Zurücksendung der durch den Kanzleiläufer wieder gebrachten, an W. mit vollstem Vertrauen ausgeliehenen Fascikel die Bündel sogleich zu revidiren, und nun fand er erst nachträglich eine arge Unordnung. Neben mehreren anderen Documenten fehlte besonders eines der wichtigsten Stücke des ganzen Archivs, der österreichische Pfandbrief über die Grafschaft Kiburg, auf dem die seit 1424 erworbenen Rechte Zürichs über den ganzen nordöstlichen Theil des Kantonalgebietes in ihrem Ursprunge ruhten. Auf das anfangs zurückhaltende, dann immer stürmischere Andringen Landolt’s hatte sich W. mit Drohungen, Anklage der unordentlichen Amtsführung des Stadtschreibers bei dem Bürgermeister, verantwortet. Es hatte Landolt an Beweisen gefehlt, aber heimlich hatte er seine Angst den höchsten obrigkeitlichen Personen mitgetheilt. Eben in diesem Augenblicke waren nun die Artikel des Göttinger Blattes in Zürich bekannt geworden, und jetzt wurde, wie ein Correspondent aus Zürich an Schlözer meldete, „die gute Gelegenheit, wo W. die Obrigkeit berechtigte, auf ihn zu greifen und ihn mit Arrest zu belegen“, ausgebeutet.
Nach der Gefangensetzung folgte die Haussuchung bei W.; aber man beging den ganz unbegreiflichen Verstoß, mit dieser nothwendigen Aufgabe den Mann zu betrauen, der durch das Verschwinden der wichtigen Urkunde selbst zumeist betheiligt war, den geängstigten Stadtschreiber. Dagegen war das Ergebniß höchst überraschend. Erstlich stellte sich heraus, daß W., der ersichtlich seine Verhaftung vorausgeahnt, unmittelbar vorher viele Papiere verbrannt, auch sonst seine Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte. Dann aber fanden sich zahlreiche Bücher, Karten, Kupferstiche, ein kostbares optisches Instrument, Dinge, die er aus verschiedenen Bibliotheken und Sammlungen, auch aus der von ihm als Bibliothekar verwalteten der Naturforschenden Gesellschaft – er hatte da stets wortreich solche Verluste bedauert – weggenommen hatte; viele aus werthvollen Werken herausgerissene Blätter hatte der Dieb theils an den Wänden seiner Wohnung aufgehängt, theils in Bücher eingeklebt. Auf entwerthete, aus dem Staatsarchive gestohlene Schuldtitel hatte er beim eigenen Vater Gelder erhoben. Den schmerzlich gesuchten Kiburger Pfandbrief entdeckte man endlich sorgfältig versteckt im Bettstroh der Dienstmagd. Noch schlimmer gestaltete sich für W. die Lage, als er nach dem ersten Verhör in der Nacht vom 19. auf den 20. März einen mißglückten Fluchtversuch anstellte, worauf er in den Thurm Wellenberg inmitten der Limmat, das Gefängniß der Staatsverbrecher, versetzt wurde. Bei der körperlichen Untersuchung Waser’s nach dem gescheiterten Ausbruch fand man in einem Strumpfe ein kleines Papierblatt von der Hand des verstorbenen Bürgermeisters Heidegger, das W., da es nicht an ihn gerichtet war, entwendet haben mußte, ganz besonders aber in der Seitentasche des Rockes einen Brief Schlözer’s vom 10. October des vorhergehenden Jahres, dessen Inhalt die Vermuthung nahe legen mußte, W. habe seither noch manche schwer in das Gewicht fallende Einsendungen nach Göttingen abgehen lassen.
[225] Waser’s Sache nahm rasch eine immer gefährlichere Gestalt an. In einem zweiten Verhöre gestand er, während er daneben – unwahr genug – aussagte, er, der stets in historischen Fragen so wohl erfahrene Urkundenkenner, habe den Werth des Pfandbriefes nicht gekannt, daß er im äußersten Nothfalle auch an anderen Orten von den widerrechtlich zurückbehaltenen Urkunden habe Nutzen ziehen wollen, und ein so gewichtiger Zeuge, wie Heinrich Füßli (s. A. D. B. VIII, 263–266) war, wußte noch weit später zu erzählen, bei der Auffindung der Urkunde habe sie die Aufschrift: Josepho secundo vindici meo! getragen; ebenso wurde 1782 aus der Schweiz amtlich von Seite der Gesandtschaft nach Frankreich berichtet, daß von W. eine Schrift: „Deduction der Rechte des Hauses Oesterreich auf seine alten in der Schweiz gelegenen veräußerten Besitzungen“ ausgearbeitet gewesen sei. Mochte sich das nun verhalten, wie immer, es war gegenüber dem unruhigen Plänemachen Joseph’s II., dessen an Polen und Baiern angestellte Proben in frischem Gedächtnisse lagen, sehr begreiflich, daß eine so mißtrauische und ängstliche Regierung, wie die zürcherische war, das Schlimmste gerade von diesem Fürsten befürchtete. Und was W. betraf, so wußte man, daß er auch in einer anderen damals als hochwichtige Staatsangelegenheit angesehenen Frage, im Streite Zürichs mit dem Stande Schwyz wegen der Grenzen im Zürichsee, sich in einer handschriftlichen Abhandlung völlig gegen das Recht Zürichs geäußert habe. Ueberall traute man dem unwahren Manne das Schlimmste zu.
Inzwischen war nun aber auch Schlözer in die Angelegenheit hineingezogen worden. Zur Verhütung des Abdruckes weiterer etwa durch W. bewerkstelligter Einsendungen im „Briefwechsel“ wandte sich die Zürcher Regierung schon am 20. März an die kurfürstliche Regierung in Hannover, welche Schlözer eine Warnung zugehen ließ. Dieser selbst antwortete am 29. einer zürcherischen Buchhandlung, von der aus an ihn geschrieben worden war, und versprach, ohne vorher erhaltenen „obrigkeitlichen zürcherischen Consens“ nichts mehr publiciren zu wollen – am 22. April nach Göttingen abgeschickte Verbesserungen betreffend den Kriegsfond druckte er nachher im 39. Hefte des Theiles VII, S. 169–173, ab –; doch wollte er wissen, ob das das Schicksal Waser’s, der ihm überhaupt nie „Staatsgeheimnisse in der Bedeutung, wie man das Wort in dem ganzen cultivirten und freien Europa nimmt“, zugeschickt habe, lindern könne: „Wüßte ich bloß, daß Herr W. ein geschickter, in mancher Rücksicht wirklich patriotischer Mann und dabei Vater zweier unerzogener Kinder wäre, ich würde zu seiner Rettung meinen ganzen Briefwechsel, mein ganzes historisches Amt zum Opfer anbieten“. Allein nun brachte W. im Verlaufe der Verhöre, in denen er sich zu seinen Veröffentlichungen im „Briefwechsel“ bekannte, auf einmal noch etwas Weiteres vor. Er begann mit allen Einzelnheiten zu behaupten, er habe im December des vergangenen Jahres noch eine „Zürich, wie es ist, nicht wie es sein sollte“ betitelte Autobiographie an Schlözer abgeschickt, unter dem größten Geheimnisse, gegen das feierlichste Versprechen, vor des Verfassers Tode die Schrift weder zu öffnen, noch bekannt zu machen. Mit allen Anzeichen des Entsetzens und unter fließenden Thränen erzählte W., welche Anklagen und aufhetzende Ausführungen er in diesen Aufzeichnungen niedergelegt habe. Allein diese neue freche Lüge – denn es war durchaus nichts anderes, als eine pure Erfindung – verfehlte völlig ihren Zweck. Die von Furcht gepeinigte Zürcher Regierung wurde nur noch besorgter; in den Augen der Richter lag ein weiteres schweres Verbrechen vor. Schlözer seinerseits versicherte in wiederholten Schreiben nach Zürich, in feierlichster Weise, niemals dieses Manuscript erhalten zu haben, während W. log, er habe mit der ganzen Correspondenz auch Schlözer’s betreffende [226] Empfangsbescheinigung verbrannt. Noch viel später bezeugte Schlözer’s Biograph, sein ältester Sohn, Christian v. Schlözer, daß er unter des Vaters genau und sorgsam geordneten Papieren nicht die kleinste Spur, keine Andeutung von dieser Schrift gefunden habe, während dieser doch mit größter Gewissenhaftigkeit Alles aufgehoben hatte. Es ist kein Zweifel, daß diese Sendung nach Göttingen nie geschah. Ja, es ist sehr zweifelhaft, ob W. jemals diese Schrift verfaßt habe, wenn er auch immerhin das Geschriebene vor seiner Verhaftung, mit den vielen anderen eigenen und entwendeten Dingen, vernichtet haben könnte.
Waser’s Schicksal nahm nun rasch die letzte traurige Wendung. Der Begriff des Hochverraths, dessen W. beschuldigt wurde, war gesetzlich nicht bestimmt festgestellt. Allein W. hatte sich nach dem Begriff der vor der Staatsumwälzung von 1798 feststehenden politischen Auffassung schwer gegen die Regierungsautorität vergangen, und in übel verstandener Staatsklugheit meinte man, ein Exempel statuiren, künftigen Verbrechen eines Mannes, dessen Bosheit man kannte, dessen Rachsucht weit und breit gefürchtet war, vorbeugen zu müssen. Während gerade die tüchtigsten Persönlichkeiten der entscheidenden Behörden entschieden dagegen sprachen, überwies eine kleine Mehrheit des Rathes – es waren 21 gegen 18 Stimmen – W. an den „neuen Rath“, nämlich an die über todeswürdige Verbrechen urtheilende Abtheilung, und hier entschieden zwölf Stimmen für den Tod durch das Schwert, während acht lebenslängliche Gefangenschaft aussprachen. Das Urtheil betont die Lügenhaftigkeit, völlige Erdichtung, auf Erweckung von Unruhe und Mißvergnügen geschehene Berechnung der Veröffentlichungen, die freche Beleidigung der mit Vorbedacht zurückbehaltenen, unter Vertrauensmißbrauch dem Archive entzogenen wichtigen Originaldocumente, die vielen an verschiedenen öffentlichen Anstalten, wo W. ungehinderten Zutritt gehabt, vollzogenen niederträchtigen Diebstähle: W. habe sich auf pflichtvergessene, treulose, meineidige Weise gegen das gemeine Wesen und liebe Vaterland sträflichst vergangen.
Lavater (s. A. D. B. XVIII, 783–794), der schon längst, soweit ihn nicht Waser’s Vergangenheit nothwendigerweise abstieß, an dem talentvollen früheren geistlichen Standesgenossen mitleidigen Antheil genommen hatte, der dann insbesondere auch mit Schlözer in lebhafte Correspondenz über die Angelegenheit eintrat, bietet die verläßlichsten Nachrichten über die letzten Lebensumstände des Verurtheilten. Er nahm den auch eine längere Zeit gegen W. gehegten Verdacht ausdrücklich zurück. Als nämlich 1776 in der Großmünsterkirche am Bettage zahlreiche Personen nach Genuß des Abendmahlsweins unwohl geworden waren und man nach chemischer Analyse im Bodensatze der Becher gefährliche Gifte entdeckt zu haben glaubte, da hatte sich – es ist bezeichnend für das üble Licht, in dem W. in seiner Vaterstadt stand – der Verdacht auf W. gelenkt, ohne daß es zu einer Untersuchung dieser niemals aufgeklärten Geschichte gekommen wäre. Lavater bat jetzt W. nachdrücklich diesen Verdacht für seine Person ab. Sonst freilich hatte er von dem Delinquenten im allgemeinen keineswegs eine bessere Meinung gewonnen: „das fatale Hohnlächeln, die leeren, kalten, zerstreuten, gleichgültigen, cruden Mienen“ ließen alle Augenblicke vergessen, daß man einen Menschen vor sich hatte, der in wenigen Stunden sein Leben auf dem Schaffot endigen sollte. Lavater urtheilte, W. finde für seine Eitelkeit – den Kopf mit Papilloten bedeckt, ging er zum Tode – und seinen Ehrgeiz eine gewisse Befriedigung in dem bevorstehenden öffentlichen Schauspiele, wo er die Hauptperson zu stellen hatte. W. starb nach allgemeinem Zeugniß äußerst gelassen, besonnen, ruhig.
In Zürich sah die große Masse des Volkes dem Schauspiele der öffentlichen Hinrichtung stumm und theilnahmlos zu; Waser’s Charakter, seine Vergehungen wurden allzu sehr mißbilligt. Die Gebildeteren zeigten vielfach zwar [227] keine Sympathie für die Person; doch stießen sie sich grundsätzlich an der Verurtheilung. Groß war dagegen das Aufsehen im Auslande, daß in der Stadt Bodmer’s, Salomon Geßner’s so etwas habe vorkommen können, und besonders Schlözer, der anfangs ruhiger sich verhalten zu wollen schien, erging sich bald in den unerhörtesten Declamationen gegen Zürich.
W. war, wie L. Meyer von Knonau, der selbst als Knabe diese Dinge mit erlebt hatte, das Urtheil ablegt, seinem Charakter nach „eine seltsame Mischung von Ehrgeiz und Kriecherei, Haß fremder Ungerechtigkeit und eigener Neigung zu Rechtsverletzungen, Gefälligkeit und hämischer Schadenfreude, Offenheit und doppelzüngiger Verstellung“. Für W., wie für Zürich war es ein schweres Unglück, daß die beleidigte Obrigkeit zugleich die richterliche Macht besaß, daß sie in eigener Sache urtheilte. So konnte der intellectuell hochstehende, durch werthvolle Arbeiten noch heute nennenswerthe, aber sittlich äußerst geringwerthige Mann zur gänzlich unverdienten Ehre des Martyriums kommen.
- Vgl. zuerst „Beleuchtung des Waser’schen Prozesses größtentheils aus den öffentlichen Akten und aus den Schriften der Herren Diakonus Cramer und Lavater gezogen“ (Berlin 1780), dann, daraus theilweise wiederholt, in der Zeitschrift „Helvetia“, Band IV (1828), S. 288–416, Band V (1829), S. 127–160, ferner über den Zwist in Riesbach A. Urner: „Einige Nachträge zur Geschichte des Pfarrers Joh. Heinrich Waser von Zürich“, im Archiv für schweiz. Geschichte, Band IX (1853), S. 261–275, weiter Christian von Schlözer: „A. L. von Schlözer’s öffentliches und Privatleben“ (1828), Band I, S. 256 ff., Band II, besonders S. 58 ff. Briefe Lavater’s an Schlözer, Th. von Liebenau: „Briefe des Pfarrers R. Schinz an F. von Balthasar in Luzern“ (in den Katholischen Schweizerblättern, 1888, S. 723–735). C. K. Müller, Chef des kanton. statistischen Bureau, schrieb 1877 in die „Zürcher Jahrbücher für Gemeinnützigkeit“, S. 86 ff., über W. als den „zürcherischen Volkswirthschafter des 18. Jahrhunderts“, in der ausgesprochenen Absicht, „dahin zu wirken, daß Waser’s Todestag in zwei Jahren nach Verfluß eines vollen Jahrhunderts als der eines Märtyrers gefeiert werde“; wenn es auch nicht dazu kam, so benützt dennoch Parteipolitik gern wieder von Zeit zu Zeit den Anlaß zur Verherrlichung, so in der werthlosen Berner Dissertation von A. Hadorn: „Die politischen und socialen Zustände im Staate Zürich gegen Ende des 18. Jahrhunderts und Waser’s Proceß und Hinrichtung“ (1890). Gute Zusammenfassungen bieten die allgemeinen Werke über schweizerische Geschichte von L. Meyer von Knonau, Band II, S. 403–407, K. Dändliker, Band II (2. Aufl.), S. 239–246, über zürcherische Geschichte von J. J. Hottinger, Band 111, S. 548 u. 549.