ADB:Vischer, Wilhelm (Baseler Ratsherr)
Eman. Fellenberg’s zu Hofwyl (Kt. Bern) gewann V. vom 8. bis 17. Lebensjahre eine tüchtige wissenschaftliche und sittliche Jugendbildung und unter trefflichen Lehrern die Liebe zu seinen spätern Studien in Geschichte und griechischer Litteratur. Die Erziehung der Anstalt sorgte auch für Ausbildung des Körpers, so daß der anfangs schwächliche Knabe mit der Zeit ein rüstiger Fußgänger und Freund des Turnens wurde, dessen Beförderung er später in seiner Vaterstadt eifrig betrieb. Der Verkehr mit Zöglingen aus vornehmen Familien des Auslandes, namentlich Deutschlands, und der Geist der Erzieher legten den Grund zu einem selbständigen, pflichtgetreuen Charakter und einer streng sittlichen Auffassung aller Lebensverhältnisse. – Nach seiner Heimath Basel im J. 1825 zurückgekehrt, widmete sich V. den Studien des class. Alterthums an der Baseler Universität und bezog dann, nach einem halbjährigen Aufenthalt in Genf, die Hochschulen Bonn und Jena (1828–1831), wo er besonders Niebuhr, Welcker und Göttling hörte. Nachdem er in Jena promovirt hatte (April 1831), hörte er noch in Berlin namentlich Böckh. Der letztere und Welcker sind es, die den nachhaltigsten Einfluß auf seine Geistesrichtung ausübten, und in denen er stets die hohen Vorbilder seines wissenschaftlichen Wirkens erblickte. – In Basel habilitirte sich V. gleich nach seiner Heimkehr (Sommer 1832) und wurde 1835 als außerordentlicher, 1836 als ordentlicher Professor der griechischen Sprache und Litteratur angestellt. In dieser Stellung sah er seine wesentliche Lebensaufgabe und behielt sie bis an sein Lebensende bei, doch mit Verzicht auf den Gehalt, seitdem er Mitglied der Aufsichtsbehörde der Universität (der „Curatel“) und des Regierungsrathes geworden war. Er [68] las über die griechischen Elegiker, Lyriker, Tragiker, Aristophanes, Thukydides, die Redner, Plato und Aristoteles, behandelte mit ausgedehnter Belesenheit die Geschichte der griechischen Litteratur bis zur Spätzeit, griechische Alterthümer und Epigraphik und leitete die Seminarübungen, zu denen er den Schülern instructive und anregende Stoffe vorzulegen wußte. Genaue Benutzung des Materials und strenge, kritische Methode, mit Fernhaltung eigenwilliger oder geschmackloser Erklärungen, waren die Stärke seines Unterrichtes. Kühne Versuche war er mehr zu beurtheilen als selbst zu unternehmen befähigt. Dreimal, 1845, 1846 und 1857 war er Rector der Universität, deren Hebung er überhaupt sein wärmstes Interesse widmete. Mehrmals, als eine eidgenössische Hochschule in Sicht war, in den Jahren 1851 und 1874, vertheidigte er in Druckschriften das Recht und die Vorzüge kleiner Universitäten, namentlich mit Rücksicht auf die besondern Verhältnisse der Schweiz und auf die geistigen Bedürfnisse seiner Vaterstadt. Es waren für V. Tage hoher Freude, als die seit den 30er Jahren durch freiwillige Steuern aus der Bürgerschaft (die „akademische Gesellschaft“ wurde gegründet 1835) und die Bereitwilligkeit des Staates immer besser dotirte Hochschule Basels die Feier ihres 400jährigen Bestehens abhielt (September 1860). Auf diesen Anlaß hin verfaßte er im Auftrag der akad. Regenz die Festschrift: „Gesch. der Univ. Basel von der Gründung 1460 bis zur Reformation 1529“, Basel 1860. Wiewol der Gegenstand Vischer’s Fachstudien fern lag, bietet die Schrift doch eine klare, quellenmäßige Darlegung der Universitätsverhältnisse jener Zeit und ist in mehreren Partien, die ein allgemeines Interesse haben, von grundlegender Bedeutung. Gleichzeitig mit der Thätigkeit an der Hochschule gab V. am oberen Gymnasium („Pädagogium“) den griechischen Unterricht (1833–1861), wobei allerdings seine Schwerhörigkeit, ein mütterliches Erbe, sein Wirken beeinträchtigte. Wie er als Hochschullehrer viel und gern mit Gelehrten der Heimath und des Auslandes verkehrte uno manchen derselben in seinem gastlichen Hause aufnahm, so besuchte er auch regelmäßig die jährlichen Versammlungen des Vereins schweiz. Gymnasiallehrer (gegründet October 1861), indem er dabei wissenschaftliche Vorträge hielt und an den Verhandlungen sich betheiligte. – Für das Staatswesen seines Heimathkantons war V. thätig zuerst als Mitglied des Großen Rathes (der gesetzgebenden Behörde), dem er seit 1834 angehörte, später als Mitglied des Kleinen Rathes (der Regierung), in dem er, am 2. December 1867 gewählt, bald die oberste Leitung des Erziehungswesens übernahm und so Gelegenheit fand, durch glückliche Berufungen von Lehrern der Universität und der höhern Schulen wie durch allgemeine organisatorische Maßregeln für Hebung des Schulwesens zu wirken. Kurz vor seinem Tode trat er gesundheitshalber von der Stelle eines Rathsherrn zurück (29. Mai 1874). Von Anfang an hielt er sich, gemäß seinem Sinn für gegebene Rechte und Verträge, zur conservativen Partei seines Vaterlandes. Darin bestärkten ihn die betrübenden Basler Wirren der Jahre 1831 bis 1833 um so mehr, als beim Auszug der Stadt gegen die Landschaft sein Vater, ein Mann von liberaler Gesinnung und philanthropischer Richtung, wider Willen zum militärischen Führer gewählt, das Unglück des 3. August 1833 und damit die Trennung der Landschaft von der Stadt mußte herbeiführen helfen. Vischer’s unerschrockenen und streng rechtlichen Charakter bezeichnet sein Auftreten in der Groß-Rathssitzung vom 6. November 1847, als es sich für Basel um den Zuzug zum Kriege gegen den Sonderbund der 7 katholischen Kantone der innern Schweiz handelte. Indem er die Frage von bundesrechtlicher Seite beleuchtete, erklärte er die Theilnahme an dem Zuge als Verletzung des Bundesvertrages von 1815 und als Verleugnung der bisherigen, vermittelnden Haltung des Kantons Basel; daher beantragte er, freilich ohne durchzudringen, Verweigerung des Zuzugs, aber Anbietung [69] des Contingentes „zu jeder bundesgemäßen Verwendung nach außen oder innen“. Wenn er übrigens die politischen Vorgänge in der Schweiz während der 30er und 40er Jahre scharf mißbilligte, so befreundete er sich doch bald mit der neuen Bundesverfassung von 1848, und bei der ersten Revision derselben (12. Mai 1872) nahm er sie in einem anonymen Flugblatt („Unmaßgebl. Gedanken zur Revision d. Bundesverfassung,“ Beilage zu Nr. 109 der Basler Nachrichten) gegen solche Veränderungen in Schutz, die ihm das Princip des Föderalismus aufzugeben und den die Schweiz gefährdenden Einheitsstaat in sich zu tragen schienen. Das Interesse für die öffentliche Gestaltung des Vaterlandes galt ihm neben dem für die Wissenschaft als das wichtigste. Mit demselben Sinn für Recht und Ordnung verfolgte er die Erscheinungen der großen politischen Welt und begrüßte namentlich die Erfolge Deutschlands im deutsch-französischen Kriege mit freudiger Sympathie. – Die Ansprüche doppelter Amtspflichten erlaubten V. nicht größere schriftstellerische Arbeiten auszuführen; beim Eintritt in die Regierung versagte er sich mit Selbstüberwindung diesen Wunsch, um der Pflicht zu genügen, die er seiner Vaterstadt zu schulden glaubte. Und noch andere Arbeiten, denen er sich freiwillig im Interesse seiner Mitbürger unterzog, hinderten ihn daran. Mehr als 30 Jahre war er Vorsteher der im J. 1842 gegründeten Gesellschaft für vaterländische Alterthümer, hielt als solcher zahllose größere oder kleinere Vorträge über archäologische Gegenstände und Werke altgriechischer Kunst und wirkte so, im Verein mit Fachgenossen, für die Verbreitung dieser Interessen, namentlich auch das jüngere Geschlecht zur Mitarbeit heranziehend. Daß das im J. 1849 eröffnete Basler Museum auch ein hübsches Antiquitäten- und Münzcabinet enthält (seit 1894 mit dem „Historischen Museum“ vereinigt), verdankt es Vischer’s stiller, unermüdlicher Arbeit und Liberalität, die er besonders der Sammlung altgriechischer Münzen und der Ordnung römischer, in der Umgegend gefundenen Münzen zuwendete. Indessen verfolgte er rastlos auch die Litteratur der eigenen Fachwissenschaft und publicirte eine Reihe eigener kleinerer Arbeiten auf diesem Gebiete, die in ihren Ergebnissen den Bau der Forschung solid weiter führen. Die meisten beziehen sich auf die athenische Geschichte zur Zeit des peloponnesischen Krieges und wurden als Gelegenheitsschriften der Universität oder des Pädagogiums gedruckt. Die wichtigsten sind folgende: „Die oligarchische Partei und die Hetärien in Athen“ (1836); „Perdikkas II., König von Macedonien“ (1837); „Das Kriegssystem der Athener vom Tode des Perikles bis zur Schlacht bei Delion und Demosthenes der Sohn des Alkisthenes“ (1837); „Ueber das historische in den Reden des Thukydides“ (1839); „Ueber die Benutzung der alten Komödie als geschichtlicher Quelle“ (1840); „Untersuchungen über die Verfassung von Athen in den letzten Jahren des peloponnesischen Krieges“ (1844); „Alkibiades und Lysandros“ (1845); „Kimon“ (1846); „Ueber die Stellung des Geschlechtes der Alkmäoniden in Athen“ (1846); „Ueber die Bildung von Staaten und Bünden oder Centralisation und Föderation im alten Griechenland“ (1849); „Ueber die Prometheustragödien des Aischylos“ (1859). Dazu zahlreiche Beurtheilungen und Erweiterungen fremder Arbeiten. Ausgrabungen im Gebiet der Heimath und anderswo, jene theilweise von V. selbst geleitet, namentlich aber zwei Reisen nach Griechenland, in den Jahren 1853–54 und 1862, gaben den Anlaß zu einer Reihe antiquarischer Arbeiten theils auf dem Gebiete der Numismatik theils auf dem der Epigraphik. Eine Frucht der ersten griechischen Reise ist das größere Werk: „Erinnerungen und Eindrücke aus Griechenland“ (1857), worin sich präcise Beobachtung mit reichem Wissen und treffendem Urtheil verbindet. V. wurde im Februar 1874 zum correspondirenden Mitglied der Berliner Akademie ernannt. Alle seine Arbeiten tragen den Stempel gewissenhafter, vorurtheilsfreier Forschung. Die meisten derselben wurden nach seinem Tode, zum Theil durch [70] Ungedrucktes vermehrt (Epameinondas, Basel in d. röm. Zeit), vielfach durch Nachträge des Verfassers erweitert, von Schülern in zwei Bänden als „Kleine Schriften“ herausgegeben. Bd. I enthält die historischen Schriften, herausgegeben von Heinr. Gelzer 1877, Bd. II die archäologischen und epigraphischen Schriften, mit 26 lithographischen Tafeln, herausgegeben von Achilles Burckhardt, 1878 (Leipzig, S. Hirzel). – V. war glücklich verheirathet und sah seine drei Söhne in ehrenvollen Stellungen wirken; der Tod der einzigen Tochter schuf ihm eine unheilbare Wunde. Seine ökonomisch unabhängige Stellung wußte er zum Wohl Anderer und seiner Vaterstadt freigebig auszunützen. Nach der äußern Erscheinung wie nach seinem Wesen war er eine vornehme Natur, zurückhaltend in Aeußerungen des Gefühls aber von tiefem Gemüthsleben und ein treuer Freund, streng im Urtheil gegen sich selbst wie gegen Andre, sparsamer im Lob als im Tadel, doch auch fröhlicher Geselligkeit durchaus nicht abgeneigt. Kirchlich hielt er sich zur Rechten, doch ohne Ausschließlichkeit und mit entschiedenem Widerwillen gegen Glaubensstreitigkeiten.
Vischer: Wilhelm V. (d. Aeltere), Professor der griechischen Sprache und Litteratur und Rathsherr zu Basel, geboren am 30. Mai 1808, † am 5. Juli 1874. Er war der Sohn eines angesehenen Basler Bürgers, des Handelsmannes und eidgenössischen Obersten Benedict V. In der damals blühenden Erziehungsanstalt- Zum Andenken an Herrn Prof. Wilh. Vischer des Raths, Basel 1874 (Leichenrede mit Personalien und Gedächtnißreden). – Ausführliches Lebensbild von Dr. A. v. Gonzenbach im II. Bd. der Kl. Schriften. – Ueber Vischer’s schriftstellerische Wirksamkeit: Achilles Burckhardt im 7. Jahresheft des Vereins schweiz. Gymnasiallehrer (Aarau 1875), S. 34–58. Hierbei ein Verzeichniß aller Druckschriften, das auch Gonzenbach’s Lebensbild beigedruckt ist. – Anzeiger für schweiz. Gesch. Neue Folge, Bd. II, S. 89 (1874).