ADB:Vilmar, Wilhelm
A. F. C. Vilmar’s, wie dieser zu Solz im Kreise Rotenburg a/F. geboren, am 4. Juni 1804. Bis zum 16. Lebensjahre in demselben einfachen, sittenstrengen und frommen Hause aufgewachsen, das wir aus A. Vilmar’s Autobiographie kennen, bezog Wilhelm V. 1819 das Gymnasium von Hersfeld, und 1822 die Universität Marburg, wo er, ohne tiefere Anregungen zu empfangen, sein theologisches Triennium absolvirte. Reichern geistigen Gewinn brachte ihm seine Thätigkeit als Erzieher eines Prinzen von Hohenlohe-Langenburg, mit dem zusammen er in Gotha die obern Classen des Gymnasiums noch einmal besuchte, und den er auch auf die Universität Leipzig als Mentor begleitete. Hier in Leipzig betrieb V. mit großem Eifer das Studium der classischen sowie einiger der neuern Sprachen, widmete sich auch der für sein späteres Leben so bedeutsamen Rechts- und Staatswissenschaft, vor allem aber vertiefte er sich hier in die Glaubenslehre Schleiermacher’s, die einen solchen Eindruck auf ihn machte, daß er Schleiermacher bis in sein spätes Alter als seinen geistigen Führer pries, obschon er sich an mehr als einem entscheidenden Punkte von ihm getrennt wußte.
Vilmar: Jakob Wilhelm Georg V., hessischer Theologe, weiland Pfarrer und Metropolitan zu Melsungen, der Hauptvertreter der sog. Renitenten unter den hessischen Geistlichen, war ein jüngerer BruderAus Sachsen zurückgekehrt, trat V. 1830 in den Dienst seiner niederhessischen Kirche, der er eine hohe Mission für die gesammte evangelische Kirche zuschrieb. Alle andern lutherischen Landeskirchen schienen ihm völlig erstorben zu sein; nur in der niederhessischen, die er, wie sein Bruder auch, für eine lutherische, trotz des Namens „reformirt“, ansah, vermuthete er noch Leben, wenn es auch zur Zeit in tiefem Schlafe läge. An der Erweckung dieses Lebens, an dem sich dann auch die andern Landeskirchen wieder Kraft holen könnten, mitzuwirken, betrachtete er als die höchste Aufgabe seines Lebens. Eines der wichtigsten Mittel zur Erreichung dieses Zieles schien ihm die alte, noch zu Recht bestehende, hessische Kirchenordnung von 1657 zu sein. Er beurtheilte diese so hoch, daß er sie nicht nur als die einzige Garantie für die rechtliche Gültigkeit der Confessio Augustana invariata in Hessen ansah, sondern sie sogar für den heiligen Leib erklärte, den das Bekenntniß sich einmal geschaffen hätte, und den man daher nicht antasten könnte, ohne das darin enthaltene Leben mit anzutasten, oder, mit andern Worten, die Kirche Christi aufzuheben. In dieser Meinung wußte er sich von seinem Bruder, mit dem er sonst in den meisten Fragen [726] übereinstimmte, völlig geschieden. Sie war es, die ihn später zur Renitenz führte. Er wußte sie mit wuchtiger Gewalt zu vertheidigen und durch eine ihm eigenthümliche Auffassung von dem Wesen der göttlichen Offenbarung zu begründen, wonach nicht nur die altkirchlichen Bekenntnisse und die C. A., sondern auch die Kirchenordnungen, die das Bekenntniß einmal zum bürgerlichen Gesetz erhoben und ihm den Einfluß auf Familie, Obrigkeit u. s. w. gewährt haben, als Manifestationen des erhöhten Herrn der Kirche anzusehen sind.
Als das Jahr 1866 mit seinen die hessische Kirche so sehr verwirrenden politischen Folgen hereinbrach, war V. Pfarrer in Melsungen und Metropolitan dieser Classe, nachdem er von 1830–1851 das Amt eines 2. Pfarrers zu Rotenburg a/F. verwaltet hatte. Eine unbedachte Aeußerung seines Argwohns gegen das neue Regiment zog ihm schon im August 1866 die Versetzung von Melsungen auf eine abgelegene Dorfpfarrei zu, doch wurde der Strafbefehl 1867 wieder zurückgenommen. Man plante damals eine neue Synodalordnung für Hessen. Eine solche Neuerung erklärte V. für eine unstatthafte Verletzung der bisherigen Ordnung und damit für eine Bedrohung der Kirche selbst. Da man wol befürchtete, er möchte auch die ihm untergebenen Pfarrer, ja den größten Theil der niederhessischen Geistlichen in seinem Sinne beeinflussen, ward er 1868 seines Metropolitanats enthoben und 1869 auch von seinem Pfarramt suspendirt, indessen ließ man ihn 1873, nachdem inzwischen der beabsichtigte Plan aufgegeben worden war, seine Predigtthätigkeit wieder aufnehmen. Aber bald darauf, am 28. Juli 1873, erfolgte eine andere Neuerung: die seit 1821 fungirenden 3 Provinzialconsistorien, das reformirte zu Kassel, das lutherische zu Marburg und das unirte zu Hanau wurden zu einem Gesammtconsistorium verschmolzen, wobei aber ausdrücklich bestimmt wurde, daß an dem Bekenntnißstande der drei verschiedenen Kirchengemeinschaften Hessens, insbesondere an dem der niederhessischen reformirten Kirche nichts geändert werden sollte. Trotzdem erklärten V. und etwa 40 Geistliche mit ihm, daß sie die neue Behörde nicht anzuerkennen vermöchten, einmal weil sie wider das Recht ohne Mitwirkung der althessischen Synode eingesetzt sei, zum andern aber, weil sie auch durch ihre Zusammensetzung die weitere rechtliche Gültigkeit der früheren Kirchenordnung von 1657 und damit das Bekenntniß selbst in Frage stelle. Vergeblich waren alle Versuche, die Opponirenden von der Rechtmäßigkeit und der Harmlosigkeit der neuen Einrichtung zu überzeugen, vergeblich blieb die Androhung von Geldstrafen oder Absetzung, sie verharrten bei ihrem Widerstand, und es blieb dem Consistorium nichts anderes übrig, als die Renitenten ihres Amtes für verlustig zu erklären. Von Stund an stellten sie sich als die vor Gott allein rechtmäßigen Träger des kirchlichen Amtes in Hessen hin und constituirten sich mit den ihnen treu bleibenden Gemeindegliedern zu einer besondern Kirchengemeinschaft, während sie von den dem neuen Consistorium sich fügenden Gemeinden erklärten, daß sie, die Nichtrenitenten, kein Ausdruck der Kirche Christi, sondern vielmehr Angehörige einer Kirche der Menschen, ja wohl gar des Teufels seien. Es war eine merkwürdige Verkettung der Umstände, daß gerade V. einer der Hauptführer in dieser Bewegung sein mußte. 1847 hatte er es gegen Thiersch als die furchtbarste Revolution bezeichnet, wenn man versuche die Kirche vom Staate zu lösen, nun mußte er selbst eine Freikirche begründen! Allerdings, die Verhältnisse hatten sich geändert, das angestammte hessische Fürstenhaus war gestürzt – für V. stand es fest, daß damit auch der staatliche Summepiskopat für die hessische Kirche wenigstens als von Gott nicht mehr gewollt bezeichnet worden sei. Die Renitenten wurden unter sich selbst bald uneins. V. blieb bis zu seinem Tode das Haupt eines Zweiges derjenigen Partei, die den Anschluß an die separirten lutherischen Gemeinden in Hannover [727] und andern Ländern verschmähte. Er wollte die sog. hessischen Verbesserungspunkte nicht aufgeben, obwohl diese gerade den lutherischen Charakter des niederhessischen Bekenntnisses in Frage stellen, den doch auch er immer zugestanden wissen wollte.
V. starb am 7. December 1884, von seinen Anhängern als ein Märtyrer der hessischen Kirche und geradezu als ein Prophet verehrt. Bis zu seinem Tode nahm er den Titel als Pfarrer und Metropolitan von Melsungen als sein Recht in Anspruch. Er war ein Mann von nicht geringerer Entschiedenheit und Thatkraft als sein Bruder. Wie er seine Gegner durch die Schroffheit und die dictatorische Bestimmtheit seiner Behauptungen abstoßen mußte, so bannte er seine Anhänger geradezu in den Kreis seiner Anschauungen, sodaß man in ihren Veröffentlichungen allenthalben auf W. Vilmar’s Ideen und die von ihm geprägten, oft wunderlichen, Ausdrücke stößt. Durch die von ihm 1862 gegründete Pastoralconferenz konnte er seinen Einfluß auf weitere Kreise von Geistlichen geltend machen, wie er seine Gedanken durch die Zöglinge des, von ihm 1870 ins Leben gerufenen, Missionshauses in Melsungen sogar bis nach Nordamerika verbreitete. Um seiner Renitenz willen wird niemand sein Andenken verunglimpfen dürfen, aber die, bis heute noch unter seinen Anhängern fortlebende, agitatorische Art und Weise des Widerstandes gegen die preußische Staatsgewalt dürfte selbst mit dem Hinweis auf die harte Behandlung und das bittre Loos, das ihn, wie alle Renitenten traf, nicht ganz zu entschuldigen sein.
Von seinen Schriften seien erwähnt: „Die protestantische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben (eine kurhessisch-galiläische Conventsabhandlung etc.)“ (1838); „Was faßt der biblische Begriff der Sünde in sich?“ (1840); ein Aufsatz über die Entheiligung des Predigtamtes in der Rudelbach–Guerikeschen Zeitschrift für Theologie und Kirche (1840); „Die kurhessische Kirche“ (1845); „Protestantismus und Christenthum“ (gegen Thiersch) (1845); „Die in ihrem Bekenntnisse ruhende Gemeinde“ in der Rudelbach-Guerikeschen Zeitschrift von 1848; „Predigt über Sacharja 5“ (1849); „Die Liebessprache Gottes an sein untreues Volk, Predigt über Ps. 81, 12–17“ (1861); „Die niederhessische Mission“ (1861); „Die niederhessische Pastoralconferenz“ (1863); „Die hessische Kirchenordnung vom Jahre 1657“ (1867); „Der gegenwärtige Kampf der hessischen Kirche um ihre Selbständigkeit mit Rücksicht auf das in ihr hervorgetretene Zeugniß vom geistlichen Amt“ (1871); „Die hessischen Kirchenordnungen und das Regiment der hessischen Kirche“ (1873); „Der am 1. November 1873 begonnene Todeskampf der hessischen Kirche. Ein Weihnachtsgruß an das gesammte hessische Volk in der dunkelsten Mitternachtsstunde seiner Geschichte“ (1873); „Das hessische Zeugniß und die Zukunft der Kirche“ (1874); „Die ihres Amtes verlustig erklärten hessischen Pfarrer. Eine Appellation an die Majestät Jesu Christi und ein Auferstehungsruf an die hessische Kirche“ (1874); „Das Recht der Kirche und das Unrecht der Welt“ (1874); Sendschreiben in Betreff der hessischen Verbesserungspunkte vom Jahre 1604 (1874); „Gedächtnißrede auf Se. Kgl. Hoheit den hochseligen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I.“ (1875); „Die Anklage gegen den renitenten Pfarrer und Metropolitan Vilmar in Melsungen inbetreff der offenen Erklärung“ (1875); „Die hessische Kirche in ihrer Stellung für die Zukunft nach dem Tode des letzten Kurfürsten von Hessen, Friedrich Wilhelm des Standhaften“ (1876).
- Auf Grund von: Reden und Predigten beim Begräbniß J. W. G. Vilmar’s von Schilling, W. J. Vilmar (Sohn des Metr.), Chr. Frick, W. Baumann, W. Hartwig. Kassel 1885. – Ueber das Verhältniß A. und W. Vilmar’s zu einander, von A. Schilling in Nr. 7 und 8 des Melsunger Missionsblattes von 1885. – Unter Benutzung der zahlreichen Broschürenlitteratur [728] über die hess. Renitenz von Pfeiffer, Zülch, Martin und vielen anderen. Vgl. auch A. F. C. Vilmar, die Gegenwart und die Zukunft der niederhessischen Kirche. Marburg 1867.