ADB:Tuchfeldt, Victor Christoph
[773] Visionen gehabt zu haben meinten, und T., der davon erfuhr, hielt diese Geschichte für von Gott gewirkt. Die Halleschen Theologen, die er für seine Ansicht gewinnen wollte, vermochten ihn nicht davon abzubringen. Da er nun die angebliche Göttlichkeit dieser Visionen bekannt zu machen suchte, schritt die Obrigkeit gegen ihn ein; er wurde nach Berlin gebracht und daselbst über ein Jahr in der Hausvogtei in Arrest gefangen gehalten. Darauf wurde er seines Amtes entsetzt. Er begab sich in der Folgezeit nach Halle, wo seine Familie Unterkommen fand, während er wegen öffentlicher Unruhestiftung dort internirt und dann an die sächsische Grenze gebracht wurde. 1722 kam er aber wieder zurück und erregte auf dem Waisenhause in einer Erbauungsstunde durch eigenmächtiges Beten und Reden wieder öffentliches Aergerniß, gab auch in demselben Jahre gegen die Halleschen Theologen (A. H. Francke, Anton u. s. w.) eine Schrift unter dem Titel „Bekehrung der Väter zu den Kindern“ heraus, wobei er sich selbst göttliche Eingebungen zuschrieb, während er den Gegnern Schiffbruch am Glauben Schuld gab. Zur Ehrenrettung der Angegriffenen erschien noch 1722 ein „Sendschreiben an einen christlichen Prediger zur Beantwortung einer unter dem Titel ‚Bekehrung der Väter zu den Kindern‘ ohnlängst edirten Schrift abgefasset und zur Rettung der Unschuld der in gedachter Schrift zur Ungebühr verunglimpften Personen in Druck ertheilet“ – eine Schrift, aus welcher auch über Tuchtfeldt’s Vorleben geschichtliche Mittheilungen gemacht sind, so daß sie als Quelle seiner Lebensgeschichte beachtet werden darf. Die Folge war, daß er Halle verlassen mußte und sein unstätes Wanderleben weiter führte; da er aber von seiner Eigenart nicht ließ, sondern als schwärmerischer Prediger gelegentlich auf offenem Felde und in Wäldern auftrat, erregte er überall, wohin er kam, Unruhen und fand bei der Geistlichkeit wie bei der staatlichen Obrigkeit heftigen Widerstand, so 1724 in Clausthal am Harz, wo er gefangen gesetzt wurde, 1731 zu Nürnberg, wo er eine „Gemeinschaft von Philadelphiern“ zusammenbrachte, so daß das geistliche Ministerium gegen ihn einschritt, während der Freigeist Dippel ihn 1733 durch eine besondere Schrift vertheidigte. Zu diesem hatte T. in Berleburg Beziehung erhalten, und neben ihm wurde er selbst als Hofcaplan der Gräfin Hedwig Sophie v. Wittgenstein und als Informator der gräflichen Kinder zu den berühmten Leuten dieses Kreises gerechnet. Um Johannis 1733 aber ging T. aus dieser seiner Stellung unerwartet, ohne Wissen seiner Frau (die er also jetzt bei sich gehabt haben muß) und seiner Herrin, heimlich fort, weil er einen innerlichen Befehl von Gott habe, anderwärts in der Freiheit daß Evangelium zu presigen. (Bei Göbel [s. unten] nach Briefen Marsay’s.) 1738 finden wir ihn wieder in der Nähe von Berleburg, wo er zu Christianseck der sterbenden frommen Gräfin Hedwig Sophie v. Wittgenstein in ihrem Todeskampfe seelsorgerlich beistand; und noch 1741 mußte T. vor dem schwerkranken Grafen Casimir zu Berleburg (der am 5. Juni 1741 starb) so oft wie möglich in dessen Zimmer predigen. Weitere Nachrichten über T. fehlen bis jetzt.
Tuchtfeldt: Victor Christoph T., protestantischer Separatist († nach 1741 ?) – Unter den Extremen des Pietismus begegnet uns im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als Schriftsteller der Pastor Victor Christoph T. Er hatte in Helmstedt und Halle studirt, war Pfarrer zu Dössel und Dobitz im Magdeburgischen unweit Halle geworden und soll sein Amt eine Zeitlang nicht ohne Nutzen und Erbauung verwaltet haben. Dafür spricht auch seine im J. 1715 von ihm veröffentlichte Schrift vom „vernünftigen und unvernünftigen Gottesdienst“, worin er Einfältigen Anweisung giebt, wie sie sich alle bei dem äußerlichen Gottesdienst vorkommenden Stücke und Ceremonien heilsam zu Nutze machen könnten. Da geschah es, daß zwei Mägde, welche bei ihm gedient,Schriften (außer den angegebenen): „Der von Christo zubereitete neue lebendige Weg, in der Gemeinschaft seines Leidens oder Blutes die Heiligung zu vollenden u. s. w.“ (1724); „Das endliche Gerichte der großen und kleinen heutigen Religionen u. s. w.“ (1724); „Die Scheidung des Lichts und der Finsterniß“ (1724); (Ob von ihm oder einem seiner Anhänger? „Von einem nicht Paulisch, nicht Kephisch, nicht Lutherisch, nicht Tuchfeldisch, sondern mit Paulo, Petro, Luthero und Tuchfelden nach Christo gesinneten Philadelphier angestellete genaue Forschung u. s. w.“ (1732) gegen die von dem Nürnberger Kirchenministerium 1731 veröffentlichte Schrift „Eine treuherzige Vermahnung und Warnung an die anvertrauten Gemeinden wegen entstandener Glaubensirrungen“); [774] (Ob von ihm? „Hellpolierter Ketzerspiegel der Abbildung eines abscheulichen Anti-Christs in Halle, aus denen Orthodoxen aufgestanden … contra Victor Tuchtfelden, Zeugen der Wahrheit; … öffentlich vor Augen gestellet von einem Liebhaber der Wahrheit“, 1731); (Ob von ihm? „Der von einem reißenden Schaf verfolgte unschuldige Wolf oder kurze Abfertigung der drei Lästerbriefe, welche von Halle aus an das Ministerium zu Nürnberg wider Tuchtfelden sind geschrieben worden, abgefasset durch Philadelphum“, 1732); „Wie ich von Herzen glaube, so bekenne ich u. s. w., d. i. aufrichtiges Glaubensbekenntniß“ (Frkf. u. Lpz. 1732); „Unterschied dessen, was Gott und was des Kaisers ist“ (Frkf. u. Lpz. 1732); zu seinen Gunsten erschien Dippel’s „Predigt vor Nürnberger Prediger … gegen die Molimina des extraordinären Predigers der Wahrheit Victoris Tuchtfelds concipiret und ausgefertiget“ (1733).
- Vgl. Walch, Religionsstreitigkeiten der luth. Kirchen. 846; V, 1063. – Unschuldige Nachrichten 1723, 432; 1726, 672; 1732, 1022 ff. – Fränkische Acta, 23. Sammlung p. 905 ff. – Heinsius, Kirchenhistorie IX. Theil, p. 1037. – (Zedler’s) Universallexikon, 45. Bd. (1745), 1451 ff. – Göbel, Gesch. des christl. Lebens III (1860), S. 87; 89; 123. – Dazu kommt als umfassende Schilderung auch der Fanatiker des Pietismus: Barthold, Die Erweckten im prot. Deutschland u. s. w. in Raumer’s histor. Taschenbuche (1852, 129 ff. u.) 1853, 169 ff. – G. Frank, Gesch. der prot. Theol. 2. Theil (1865), 196. – Zu Dippel: Bender (W.), Dippel (1882).