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ADB:Tischler, Otto

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Artikel „Tischler, Otto“ von Friedrich Koldewey in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 374–376, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tischler,_Otto&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 23:20 Uhr UTC)
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Tischler: Otto T. wurde am 24. Juli 1843 in Breslau als der Sohn eines Bauinspectors geboren, kam aber schon als sechsjähriger Knabe infolge der Versetzung seines Vaters nach Königsberg i. Pr. Dort besuchte er, nachdem er vorher den Unterricht eines Hauslehrers genossen hatte, von Ostern 1852 bis Michaelis 1859 das Friedrichscollegium und legte auf demselben besonders für Mathematik glückliche Begabung und lebhaftes Interesse an den Tag. Mit der Differenzial- und Integralrechnung machte er sich schon als Primaner durch Selbststudium vertraut. Von Michaelis 1859 bis Ostern 1863 studirte er dann auf der Königsberger Albertina unter Richelot und Neumann Mathematik und Naturwissenschaften, worauf er noch ein Jahr, bis Ostern 1864, in Heidelberg zubrachte. Die philosophische Doctorwürde erwarb er erst später in Leipzig. Während seines Militärjahres machte er den Feldzug von 1866 mit, ohne jedoch Gelegenheit zu finden, seinen Muth auf dem Schlachtfelde zu bewähren. Anders war es im französischen Kriege von 1870/71, an dem er als Reserveofficier des 43. Regiments theilnahm und aus dem er unversehrt und mit dem eisernen Kreuze geschmückt heimkehrte. Sein Bruder Fritz, Observator an der Sternwarte zu Königsberg und trotz seiner Jugend bereits als Mathematiker rühmlich bekannt, war infolge der Verwundung, die er am 14. August 1870 bei Courcelles erlitten, am 30. September gestorben.

Nach dem Friedensschlusse wählte T. Königsberg zu seinem ständigen Wohnsitze. Günstige äußere Verhältnisse ermöglichten es ihm, auf eine dienstliche Stellung, zu der er überdies keine Neigung verspürte, verzichten zu können. So hat er denn auch niemals eine Staatsprüfung abgelegt. Seine Zeit füllten anfangs geologische, meteorologische und botanische Studien; bald aber nahmen ihn fast ausschließlich archäologisch-prähistorische Forschungen in Anspruch, insbesondere seitdem er in der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, der er seit 1865 als Mitglied, seit 1869 als Bibliothekar angehörte, im J. 1874 die Verwaltung der archäologischen Sammlung übernahm. Seine wissenschaftliche Thätigkeit gewann damit eine neue Richtung und einen überaus kräftigen Antrieb. Die Art und die Erfolge seines Wirkens für eine Wissenschaft, die in dem Reigen ihrer Schwestern als eine der jüngsten dasteht, wird gekennzeichnet durch die Aeußerungen, die ein zuverlässiger Gewährsmann, Professor Dr. F. Lindemann, kurz nach Tischler’s Tode gemacht hat. „Auf dem Gebiete der Prähistorie und Archäologie“, so heißt es in seiner Gedächtnißrede, „hat T. seine Thätigkeit als Dilettant begonnen – als Gelehrter von anerkanntem Ruf hat er sie beschlossen … Zahlreiche Publicationen geben von diesem stetigen Vorwärtsstreben und erfolgreichen Arbeiten beredtes Zeugniß. Ueber den Werth seiner Untersuchungen sowohl für die Erforschung unserer Provinz (d. i. Ostpreußen), als für die Archäologie im allgemeinen, herrscht nur eine Stimme: sein Name war hochgeschätzt in den Kreisen der europäischen Gelehrtenwelt … Seit 1874 sind von ihm zahlreiche Ausgrabungen vorgenommen; zu immer größerer Vollkommenheit haben sich dabei die ihm eigenhümlichen Methoden zur Hebung und Conservierung der aus der Erde zurückgewonnenen Urnen, Waffen und Geräthe aus grauer Vorzeit herangebildet. Sowohl die Genauigkeit seiner geometrischen Aufnahmen beim Ausgraben von Gräberfeldern, als die sorgsame Zuverlässigkeit seiner Methoden zur Hebung der [375] Fundstücke verdienen Bewunderung, nicht minder die Sorgfalt in der Bearbeitung und Beschreibung derselben, sowie die vorsichtige Zurückhaltung bei Aufstellung von Hypothesen. Die strenge Schulung der exacten Wissenschaft, wie er sie in seinen Studienjahren kennen gelernt hatte, befähigte ihn zu hervorragenden und originellen Leistungen, befähigte ihn, in der wissenschaftlichen Methodik durch Anwendung inductiver Betrachtungsweise reformirend auf prähistorischem Gebiete zu wirken. Charakteristisch für ihn ist die Art der Darstellung. Vom Speciellen, vom Provinciellen ausgehend, sucht und findet er überall Gelegenheit zu weit umfassender Umschau. Seine Vertrautheit mit den Museen der verschiedensten Länder, deren Schätze er auf regelmäßig wiederholten Reisen musterte und durch sorgfältige Notizen sich dienstbar machte, seine ungewöhnliche Bekanntschaft mit den Formen und der Technik der prähistorischen Gewerbe, ließen ihn durch vergleichende Betrachtung zu Resultaten kommen, deren Bedeutung über unsere Provinz weit hinausgeht … Nicht als dem ersten, aber zusammen mit anderen gelang es ihm, die Arbeitsweise mit den rohen Werkzeugen der Steinzeit uns wieder verständlich zu machen: das Durchbohren der Beile und Hammer, das Abspalten der Pfeilspitzen aus Feuerstein, das Durchsägen einer Rennthierstange, die Herstellung der Ornamente auf den Thongefäßen der Hügelgräber. Insbesondere aber stellte er fest, daß es möglich sei, Bronze mit Bronze zu bearbeiten, die für nordische Funde so wichtigen Verzierungen der Bronzegefäße auch mit Bronzepunzen herzustellen … Nicht unerwähnt dürfen ferner Tischler’s Verdienste um die Klarlegung der prähistorischen Chronologie bleiben; er hatte einen scharfen Blick für die kennzeichnenden Formen der verschiedenen Perioden; er wies immer wieder darauf hin, was und wie man beobachten solle, um die Zeitstellung der Funde zu bestimmen … Den nächsten Anhalt bieten nächst den Münzfunden die Formen der Gewandnadeln (Fibeln); in der That ist Tischler’s Name durch seine Untersuchungen über die Geschichte der Gewandnadeln, ‚jenes vorgeschichtlichen Schmuckgerätes, an dem sich die künstlerische Laune im Laufe von zwei Jahrtausenden in überschwänglicher Fülle kundgethan‘, vielleicht am meisten bekannt geworden … Für die sorgfältige Aufstellung der verschiedenen Funde in möglichster Anlehnung an die chronologische und locale Bedeutung in unserem Provincialmuseum, für die völlig uneigennützige Art und Weise, wie er seine ganze Zeit und reiche Begabung dem Museum opferte, ist ihm unsere (d. i. die Physikalisch-ökonomische) Gesellschaft zu unauslöschlichem Danke verpflichtet.“

Die von T. veröffentlichten Abhandlungen und Vorträge sind größtentheils in den Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i. P. enthalten. Ein genaues Verzeichniß derselben findet sich als Anhang zu Lindemann’s Gedächtnißrede. Die bereits andeutungsweise erwähnte Abhandlung „über die Formen der Gewandnadeln (Fibeln) nach ihrer historischen Bedeutung“ wurde 1881 in Bd. IV, Heft 1 und 2 der Zeitschrift für Anthropologie und Urgeschichte Baiern’s zum Abdruck gebracht. Außerdem verdienen noch folgende beiden Aufsätze besondere Hervorhebung: „Eine Emailscheibe von Oberhof (bei Memel) und kurzer Abriß der Geschichte des Emails“; „Ueber die Aggry-Perlen und über die Herstellung farbiger Gläser im Altertum.“ Beide erschienen 1887 im 27. Bande der Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft. Die Bedeutung der Forschungen, die diesen Arbeiten zu Grunde liegen, charakterisirt Professor Gustav Hirschfeld in folgender Weise: „Geradezu bahnbrechend ist T. für einen anderen überaus häufigen und wichtigen Fundgegenstand geworden, für Glas, zumal für Glasperlen; man kann sagen, daß er dieses schwierigen Objectes zuerst Herr geworden ist durch eine ebenso einfache wie scharfsinnige Beobachtungsweise, die seine naturwissenschaftlichen Erfahrungen ihm nahe [376] legten; durch mikroskopische Untersuchung bei verschiedenartigem Lichte gelang es ihm mit Sicherheit, antike und nicht antike Fabrikate zu unterscheiden, und unter den antiken wiederum diejenigen einzelner Völker und Zeiten. Hier hat sein Vorgehen wahrhaft Epoche gemacht; auf diesem weiten Gebiete stand er ganz einzig da, und es giebt niemanden, der die von ihm geplante Gesammtgeschichte der Glasperlen zu schreiben vermöchte, eine Geschichte, welche, ähnlich wie die der Fibula, für sichere Bestimmungen von durchschlagender Bedeutung geworden wäre.“

Neben seinen mühevollen archäologischen Untersuchungen fand T. noch Zeit zu eingehenden botanischen Studien, und die Pflege seines Gartens in Königsberg lag ihm bis wenige Stunden vor seinem Tode dringend am Herzen. In der „Gartenflora, Zeitschrift für Garten- und Blumenkunde“, sind verschiedene botanische Beiträge von ihm zum Abdruck gebracht.

Mit seiner tiefen Gelehrsamkeit und dem regen, scharfen Forschersinne verband T. Lauterkeit des Charakters und schlichte persönliche Bescheidenheit. Einen eigenen Familienstand hat er nicht begründet; aber groß war die Liebe und Anhänglichkeit, die ihm von zahlreichen Angehörigen und Freunden entgegengebracht wurde. Auch in weiteren Kreisen hat es ihm an Anerkennung nicht gefehlt. Im J. 1890 verlieh ihm der König aus Anlaß der Säcularfeier der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft den Rothen Adlerorden. Auf den wissenschaftlichen Versammlungen, denen er oft und gern beiwohnte, erfreute er sich eines hohen Ansehens. Schon lange hatte er sich darauf gefreut, im Sommer 1891 den bedeutendsten Anthropologen Deutschlands, die nur seinetwegen und um seiner Sammlungen willen ihre Zusammenkunft nach Königsberg verlegt hatten, die Schätze seines Museums zeigen und erklären zu können; er wurde aber vorher von schwerer Krankheit befallen, und am 18. Juni 1891 machte ein Herzschlag seinem arbeitsreichen Leben ein Ende. Seine sterblichen Ueberreste haben auf dem Gute Losgehnen bei Bartenstein in dem Erbbegräbnisse seiner Familie ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Vgl. F. Lindemann, Gedächtnißrede. Abgedr. in den Schriften der Phys.-ökon. Gesellschaft XXXII, 1891, Abh. S. 1–14. Mit Bild. Auch als Sonderschrift erschienen. – Ed. Krause, Dr. O. Tischler †. Ein Blatt der Erinnerung. Ausland, 1891, Nr. 31, S. 601–607. Mit Bild. – Nachruf des Vorstandes der Phys.-ökon. Ges. in der Königsberger Hartungschen Zeitung. – G. Hirschfeld, Erinnerung an O. Tischler. Königsb. Allgem. Zeitung, 1891, Nr. 295. – Ranke und Hirschfeld, Correspondenzblatt der Deutschen Gesellsch. f. Anthropol., 1891, Nr. 8, S. 57–60. – Mittheilungen der anthropol. Gesellsch. in Wien, XXXI, 1891, S. [59]. – Schriften der Phys.-ökon. Ges., Sitzungsberichte XXXII, 38–40, 65–66; XXXIII S. [26 ff.]. In dem letztgenannten Berichte gibt Professor Dr. Jentsch auf S. [29] auch Auskunft über die Fortsetzung von T.’s Arbeiten und die Verwendung seines wissenschaftlichen Nachlasses.