ADB:Tinctoris, Johannes
Monatsh. f. Musikgesch. Bd. 25 S. 174 ff.). In Italien dagegen blühte die Kunst und der Sinn dafür früher auf und wir sehen daher alle bedeutenden Musiker, außer den Deutschen, nach Italien ziehen, wo sie eine angemessene Anstellung, Belohnung und Anerkennung fanden. Wann T. dahin zog, ist bis jetzt noch nicht nachweisbar, erst in einer Liste der Capellmitglieder an der kgl. Capelle zu Neapel vom 27. October 1480 findet sich als vierter Sänger unser T. verzeichnet. Da die Liste 12 Sänger aufzählt und diese nach ihrem Eintritte verzeichnet [356] wurden, so muß er sich schon eine Reihe von Jahren daselbst befunden haben (Straeten l. c. S. 29). Im Jahre 1487 am 15. October wurde er sogar beauftragt für die kgl. Capelle Sänger anzuwerben und sich deßhalb ins Ausland zu begeben (Document l. c. S. 57). T. bekleidete eine geistliche Würde und war König Ferdinand’s von Arragonien Kaplan. Er erhielt später ein Kanonikat in Nivelles, wohin er sich zurückzog, das Jahr ist unbekannt, und starb dort vor dem 12. October 1511, an welchem Datum Peter von Coninck sein Kanonikat erhielt (Straeten 4, 46). T. hat sich vorzugsweise als Musiktheoretiker ausgezeichnet und zur Klärung der Begriffe viel beigetragen. Jedoch trat er auch als Componist auf und verband somit Theorie und Praxis. Der Erfinder des Notendruckes durch Metalltypen, Petrucci in Venedig, gab in seinen Sammelwerken von 1501, 1502 und 1506 drei lateinische dreistimmige Gesänge von T. heraus, darunter eine Lamentatio (s. meine Bibliographie der Musik-Sammelwerke) und in dem Archiv der Capella sistina zu Rom im Codex 32 befindet sich die Messe super Cunctorum plasmator summus eleyson zu 4 Stimmen. Ambros äußert sich über Tinctoris’ Lehrthätigkeit sehr günstig und sagt: er gab eine Reihe theoretische Werke heraus, welche klar und zugleich streng wissenschaftlich in der Anordnung des Stoffes wie in der Darstellung, in gutem soliden Latein geschrieben, und alle Kunstgesetze und Kunstregeln theils durch selbst componirte, theils aus den Werken der besten Meister der Zeit, wie Dufay, Faugues, Okeghem, Busnois, Caron u. A., wohl ausgewählte Beispiele illustrirend, gegenüber der Verworrenheit, Dunkelheit und Schwerfaßlichkeit, worin bis dahin ein Autor den andern überboten hatte (etwa Jean de Muris ausgenommen), den Eindruck wahrhaft classischer Epochenwerke machen. Und weiter hin: Man hat daher bei T. stets das wohlthuende Gefühl, überall in klarem Lichte auf festem sicherem Boden zu wandeln, und wie der durchschauende Scharfsinn, der ruhige Verstand, die feste Ueberzeugung, die nicht mehr sagt, als was sie ganz bestimmt weiß und vertreten kann, und die scharfgefaßte Erledigung der wichtigsten Fragen die Werke der römischen Rechtsgelehrten geistig belebt und anziehend macht, was sonst insgemein für trocken und reizlos gilt: so weiß T. durch feste Consequenz und klaren Verstand unsere Aufmerksamkeit auch dort noch zu fesseln, wo er Dinge, wie z. B. die Bedeutung des Punktes in der Notirung, zum Gegenstande ganzer Abhandlungen macht. (Ambros, Gesch. der Mus. Bd. 3, S. 141ff.) Wie sehr sein Sinn auf das Praktische, Verständliche und leicht Begreifliche gerichtet war, bezeugt sein Musiklexikon, worin alle theoretischen Regeln und Begriffe alphabetisch in kurze Artikel gefaßt sind (Neudruck mit deutscher Uebersetzung in Chrysander’s Jahrbuch für Musikwissenschaft 1863 S. 55. Nur im lat. Wortlaute in Forkel’s Litteratur, ferner in Hamilton’s Dictionary of mus. London 1849. 12°). Eine Sammlung seiner Abhandlungen veröffentlichte Coussemaker in seinen Scriptores Bd. 4 und dann in einer Separatausgabe 1876 in 8°. Dort findet man die Tractate: 1. Tractatus de musica, 9 Cap. 2. Liber de natura et proprietate tonorum, 51 Cap. 3. Tract. de notis et pausis, 2 Bücher. 4. Tract. de regulari valore notarum, 33 Cap. 5. Liber imperfectionum notarum musicalium, 2 Bücher. 6. Tract. alterationum. 7. Super punctis musicalibus (hier nennt er sich „Regisque Magnae Siciliae Capellanus“). 8. Liber de arte contrapuncti, 3 Bücher in 63 Cap. 10. Diffinitorium musice feliciter incipit. Ist das oben erwähnte Musiklexikon. 11. Complexus effectuum musices. 12. Complexus viginti effectuum nobilis artis musices. Ueber die Originalmanuscripte berichtet Coussemaker ausführlich.
Tinctoris: Johannes T., ein Theoretiker des 15. Jahrhunderts, der nach van der Straeten’s Untersuchungen in dem 4. Bande seiner „Musique aux Pays-Bas“ im Jahre 1511, 65 Jahre alt, starb, demnach muß er 1446 geboren sein und zwar nach dem Einschreibebuch der Universität zu Löwen in der Diöcese von Morinie, wahrscheinlich in Poperinghe, was Straeten mit Boulonais in Frankreich übersetzt, denn im Matrikelbuch obiger Universität heißt es „M. Johannes Tinctoris, Morinensis dyocesis, 15a. maij. 1471“. Er war also zu der Zeit bereits Magister, wie das voranstehende M. bezeugt. In demselben Matrikelbuche findet sich noch ein zweiter Tinctoris, wahrscheinlich ein Bruder desselben, und da hier der Geburtsort genannt ist, der oben nur angedeutet wurde, so erhält diese Einschreibung einen gewissen Werth. Sie lautet „Jacobus Tinctoris de Poperinghe, Morinensis diocesis. In artibus 25a. febr. 1475“. Straeten glaubt, daß sein eigentlicher Name „de Vaerwere“ gewesen ist und dem Brauche seiner Zeit folgend er ihn in das Lateinische Tinctoris verwandelt habe. Eine Muthmaßung Straeten’s, die an und für sich keinen Werth hat, da er auf allen seinen Werken ohne Unterschied sich stets T. nennt. Der Zug nach Italien war damals unter den gebildeten Musikern schon ganz allgemein und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil dort die vielen begüterten kleinen und großen Fürsten die einzigen in Europa waren, die einen Werth auf eine kunstgeübte Kapelle legten und daher die bedeutendsten Kräfte aus ganz Europa, besonders aber aus Frankreich und den Niederlanden heranzogen. Alle übrigen Fürsten Europa’s, in Deutschland, wie in Frankreich und anderwärts begnügten sich mit Trompetern und Paukern. Es war schon viel, wenn sie sich einen Organisten, einen Sänger und einige Instrumentisten (Ministrels) hielten (s.- Vgl. Fétis, Biogr. universelle, 2. Ausg. – Verbesserungen u. Zusätze in dem oben citirten Werke von Straeten. – Ambros (s. oben).