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ADB:Tichatschek, Joseph Aloys

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Artikel „Tichatschek, Joseph Aloys“ von Heinrich Welti in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 240–242, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tichatschek,_Joseph_Aloys&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 09:31 Uhr UTC)
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Tichatschek: Joseph Aloys T., der berühmteste deutsche Tenorist der vierziger Jahre und erste „Wagnersänger“, wurde am 11. Juli 1807 zu Ober-Weckelsdorf bei Adersbach in Böhmen geboren. Kleinen und engen Verhältnissen entsprungen, hätte sich ihm wohl schwerlich die Möglichkeit einer höheren Laufbahn [241] erschlossen, wenn nicht die Himmelsgabe einer schönen Knabenstimme ihm den Weg zum Gymnasium der Benedictinerabtei Braunau geebnet hätte, der er als Altist bei der Kirchenmusik Pflege und Bildung vergelten konnte. So vermochte T. im J. 1827 als Student der Medicin die Universität Wien zu beziehen, bald aber drängten ihn Neigung und Begabung auf andere Wege und ums Jahr 1830 wandte sich der sangesfrohe Jüngling dem Theater zu. Der Chorregent Weinkopf, der die außerordentlichen Stimmmittel Tichatschek’s erkannt hatte, reihte ihn dem Chor des Kärnthnerthortheaters ein und am 16. Januar 1830 betrat er als Chorist zum ersten Male die weltbedeutenden Bretter. Die natürliche Anlage und ein fleißiges Studium bei dem angesehenen Gesangsmeister Cicimara befähigten ihn schon nach kurzer Zeit zu höherer, solistischer Thätigkeit, so daß er ums Jahr 1834 in Graz sein erstes Engagement als Solosänger antreten konnte. Rasch entwickelte er sich hier zum treffsicheren Künstler, denn schon im Sommer 1837 sehen wir ihn ein Gastspiel am Wiener Hofoperntheater mit großen Ehren absolviren. Sein „Tebaldo“ in Bellini’s „Montecchi und Capuletti“, vor allem aber seine Leistungen als „Sever“ (Norma) und „George Brown“ (Weiße Dame) fanden nicht nur den Beifall der Hörer, sondern auch die Anerkennung der Kritik. Mit gleichem Glücke stellt sich T. bald darauf auch in Prag und in Dresden vor, wo man den stimmgewaltigen Tenoristen alsbald dauernd für die Hofbühne verpflichtete. Mit diesem, am 1. Januar[WS 1] 1838 erfolgten Eintritt in den Verband des Dresdener Theaters, dem er länger als drei Jahrzehnte angehören sollte, vollzog sich eine der wichtigsten Wendungen in Tichatschek’s Künstlergeschick, denn auf diesem Boden sollte er am Beispiel der genialen Schröder-Devrient sich zur höchsten Künstlerschaft heranbilden und hier auch sollten ihm in der Berührung mit der Kunst Richard Wagner’s diejenigen Aufgaben erwachsen, in deren Bewältigung seine Eigenart zur vollsten Reife und zur größten Lebensthat sich entwickelte, sein Ruf zur entscheidenden, dauernden Bedeutung gelangte. Zunächst freilich fielen ihm andere Aufgaben zu und eine der ersten erfolgreichen Rollen, mit denen er sich den Dresdenern ins Herz sang, war die des „Raoul“ in Meyerbeer’s „Hugenotten“, die dadurch und durch die „Valentine“ der Schröder zu einer der besten Leistungen der sächsischen Hofoper wurden. Daneben galten als besondere Paraderollen Tichatschek’s: Masaniello, Robert, Talbot (Puritaner), Cortez, Tamino, Idomeneo, Rinaldo, Adolar, denen er auf zahlreichen Gastspielreisen auch in Berlin, Leipzig, München, Hamburg, Bremen, Lübeck und an andern Orten rauschende Erfolge verdankte. Seine eigentliche „Leibrolle“ und auch seinen größten Triumph fand T. aber in Richard Wagner’s Rienzi, dem er am 20. October 1842 bei der ersten Aufführung zum glänzendsten Erfolg verhalf. Dankbar hat es Wagner allzeit anerkannt, daß die Hingabe und Begeisterung des beliebten Tenoristen seinem Werk schon vor der Aufführung die Wege bahnte und daß T., dieser „wahre Heros von Musikstimme“, durch den Glanz seiner Mittel und das Ungestüm seines Naturells wesentlich zu der glücklichen Entscheidung beigetragen habe. Wie sehr T. selbst die Rolle des römischen Volkshelden liebte und ihre Bedeutung für seinen künstlerischen Ruf zu schätzen wußte, beweist, daß er den „Rienzi“ im Januar 1863 als Rolle für sein 25jähriges Dienstjubiläum wählte; er hatte sie bis dahin 64mal gesungen. Ebenso erfolgreich, aber den Tondichter weniger befriedigend war die Art, in der T. am 19. October 1845 die Gestalt des „Tannhäuser“ zum Bühnenleben erweckte. „T.“, so schrieb später Wagner, „hatte nur Glanz oder Milde in seiner Stimme, nicht aber einen einzigen wahren Schmerzensaccent“, und es konnte ihm nicht gelingen, das Charakteristische der Anforderung zu fassen, die sich bei weitem mehr an seine Darstellungsgabe als an sein Gesangstalent [242] richtete. Wenn Wagner trotzdem seiner Verehrung für T. treu blieb, ja sogar, seinem eigenen Geständniß nach (Brief Wagner’s an T. vom 18. Juni 1867), auch den „Lohengrin“ für Tichatschek’s ihm vertraut gewordene Stimme entworfen und ausgeführt hat, so zeugt dies mehr als alle Berichte für die außerordentliche Künstlerschaft Tichatschek’s und seine besondere Eignung zum „Wagnersänger“. Die erstere bekundet auch Otto Nicolai, der in seinem Tagebuch vom Jahre 1844 T. schlechtweg als den ersten deutschen Tenor bezeichnet, die letztere wird man vornehmlich in der musterhaften Aussprache und scharf gliedernden Vortragsart des Sängers zu erkennen haben. Nennt doch Wagner T. selbst einmal ein „wirkliches rhythmisches Gesangsgenie“ und bekannte sich noch im J. 1867 tief ergriffen und gerührt von der edelst klangvollen, erhabenen Einfachheit, in der T. ihm die Gralserzählung vortrug. Bei derselben Gelegenheit hörte auch Peter Cornelius den Sechzigjährigen singen und urtheilte: „Da singt ein Mann, der ein ganzes Herz in jedem Ton hinaushaucht … Solche Accente bleiben eine Lebenserinnerung bis an den Tod! So ist die Antike, so ist Goethe, so ist der Baum, den der liebe Gott gemacht hat. Der alte, von einem tollen Leben zusammengerittene Knabe war ganz aus Schönpflästerchen und Pappendeckel zusammengeflickt – aber wenn er den Mund aufthat und sang, da war ewige Jugend und die Quellen rauschten … Das hatte dann nicht mehr Wagner componirt, sondern T. sang es“. Wer im hohen Alter, nach einem arbeitsvollen Leben – T. war allein in Dresden während der Jahre 1838–1863 in 67 Rollen 1445mal aufgetreten – noch solcher Wirkung fähig ist, verfügte zweifelsohne nicht nur über ein tiefes künstlerisches Vermögen und außerordentliche Stimmmittel, sondern auch über eine außergewöhnlich gediegene Gesangsbildung. In der That wurde diese und vor allem die goldreine Intonation Tichatschek’s in der Blüthezeit des Sängers auch allgemein anerkannt und erst in den letzten Jahren seiner Thätigkeit finden sich häufigere Hinweise auf gewisse Unarten, wie das Einschieben von Hülfsconsonanten und das Zerhacken melodischer Phrasen, Fehler, die leider ein Erbgut der deutschen Wagnersänger geworden sind. Andrerseits bürgt auch wieder die Weite seines Rollenbereichs, von den hohen Heldentenorrollen eines Masaniello und Rienzi bis zur Baritonpartie des Zampa (1847), von Boieldieu’s George Brown bis zu Gluck’s Achill, von Meyerbeer’s Robert bis zu Wagner’s Lohengrin für die außerordentliche Wandlungsfähigkeit seiner Gesangskunst. Den größten und besten Theil dieser großen Künstlerkraft hat T. dem sächsischen Hoftheater gewidmet, doch hat er durch einige Gastspielreisen nach England (1841), Schweden und Holland seinem Namen auch im Ausland Geltung verschafft. Tichatschek’s Alter war durch Krankheit schwer getrübt; er starb zu Dresden am 18. Januar 1886.

Ueber T. vgl. R. Wagner, Gesammelte Schriften I, 21; IV, 336 f.; V, 122, 137, 175; VIII, 236. – Musikalisches Wochenblatt, Jahrgang 1870. – Signale für die musikalische Welt, Jahrgang 1886. – Allgemeine Musik. Zeitung passim. – Baireuther Blätter 1892, viertes Stück. – Eine Schrift: „J. T., eine biographische Skizze nach handschriftlichen und gedruckten Quellen. Leipzig, G. Heinze“ war nicht aufzutreiben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Janur