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ADB:Thomasius, Hieronymus

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Artikel „Thomasius, Hieronymus“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 104–107, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thomasius,_Hieronymus&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 04:46 Uhr UTC)
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Thomasius: Hieronymus Th. (Thomae, Thomas), Dichter und Jurist des 17. Jahrhunderts, stammte aus Augsburg, wo er um 1640 geboren sein wird; er bewahrte der Vaterstadt, deren hervorragenden Mitbürgern seine meisten Werke gewidmet sind, stets eine treue Anhänglichkeit, obgleich er die Erfahrung gemacht zu haben scheint, daß die mercatores für die literatos nicht die rechte Achtung besäßen. Am 27. Juli 1660 wurde Th. in Gießen immatriculirt und bestand am 13. Januar 1668 ebendort das examen rigorosum, das ihm die Würde eines Licentiaten beider Rechte eintrug. Unter dem Strauß von Thesen, die er seiner ’Disputatio inauguralis quae est de confessionibus‘ anschloß, findet sich das große Wort: Jurisprudentia longe nobilior est Metaphysicá; dagegen [105] zweifelt der von Berufsgefühl geschwellte Jurist doch, ob es recht sei, daß poetae nulla immunitas praerogativa iuvantur: er betont, daß sogar ein Rechtsgelehrter aus den Alten viel Weisheit lernen könne: bei dieser These geriethen sich Poeten- und Juristenstolz des Autors ein wenig in die Haare. Ein Urtheil über den Werth der rechtswissenschaftlichen Arbeiten Thomasius’, in denen die Mitglieder der damaligen juristischen Facultät Gießens oft preisend citirt werden, steht mir nicht zu. Außer jener Dissertation liegen mir vor ’Themata ex auth. Sacramenta puberum … in examine rigoroso analytice resoluta‘, die über die Form und Heiligkeit des Eides bekannte Dinge und Zeugnisse (griechische Belegstellen nach lateinischen Uebersetzungen) fleißig zusammentragen. Diese Heiligkeit praktisch zu bewähren hatte Th. schmerzlichen Anlaß, als er am 19. September 1669, damals schon mit der Tochter eines Frankfurter Buchhändlers verheirathet, bei Mainz in die Hände von Räubern fiel, die dem eidlich zum Schweigen Gezwungenen nicht nur ein ungeheures Lösegeld abnöthigten, sondern sogar seine bürgerliche Ehre und Rechtschaffenheit schwer verdächtigten. Aus dieser tragoedia erwuchs, charakteristisch genug, kein Poem, sondern eine juristische ‘Commentatio de vi compulsiva‘ (Gießen 1670); das Dichten lag damals schon hinter ihm. In Gießen erschien endlich auch sein ’Schardius redivivus‘ (1673), ein Neudruck von Simon Schard’s Historicum opus (Basel 1594), in dem Th., soviel ich sah, nur eben die vier Bandregister des Originals zu einem Gesammtregister kürzend vereinigt, sonst nichts geändert hat: es ist also Renommage, wenn er den Leser rhetorisch fragt, utrum ille (Schardius) colligendo an ego renovando scriptores hos de Germania maiorem laborem et industriam impenderimus. Von seinem späteren Leben ist mir nichts bekannt.

Schon als 14–15jähriger versuchte sich Th., durch ‘des hochfliegenden H. Andreae Gryphy‘ Beispiel begeistert, in geistlichen Liedern auf die christlichen Hauptfeste; dürftige und charakterlose Reime, die eben nur bezeugen, daß schon der Knabe von der formellen Gewandtheit der Zeit zu profitiren wußte. Er hat diese Jugendreime aufgenommen in den Anhang seiner ’Teutscher Gedichte Frü-Früchten, Oder Sonn- und Fest-Tags Andachten‘ (Gießen 1662; Widmung vom 10. Jenner d. J.). Diese enthalten Lieder über die sämmtlichen Sonntagsevangelia und verrathen eine stark fortgeschrittene technische und stilistische Uebung. Th. versificirt nicht, wie man das im 16. Jahrhundert that, das ganze Evangelium, sondern greift irgend ein geeignetes Motiv heraus, dessen Stimmungs- oder Anschauungsgehalt er reich auszuführen sucht. Er bevorzugt Naturbilder, namentlich wilde Scenen, Sturm und Gewitter, die Zeichen des jüngsten Tages und Aehnliches, was volltönige Worte und kräftige Farben brauchen konnte. Die Parabel von den Arbeitern im Weinberge gibt ihm Anlaß, die vier Tageszeiten auszumalen, und den Spruch ’Schauet die Lilien auf dem Felde!‘ benutzt er, um auch der schönen Zyperissen, der braunbräunlichen Narzissen und der prangenden Tulipanen zu denken. Solch üppig geiles Detail liebt ja das Jahrhundert. Daß Jesu Todesgang mit höchst unlutherischer Sentimentalität dargestellt wird, ist ebenfalls Mode: aber es verräth eine gewisse Anschauung, wenn Th. die in den Fenstern stehenden Frauen weinen läßt. Sein Geschmack ist viel schwächer als sein Geschick. Schon das Flitterwerk der complicirten Strophen, der Reimkünste und Reimformeln, der onomatopöetischen Floskeln ist des Gegenstandes unwürdig. Aber wenn er uns das Paradiesesleben ausmalt als ’in Zimmern voll von Gold bey Malvasier‘, wenn er Boreas und Zephyr, Chloris, Febus und Luna Christo dienen läßt, wenn er den Cerberus von Pluto’s Schwelle auf Herodes loshetzt, wenn er zur Umschreibung des Begriffes ’überall‘ eine Menge antiker geographischen Namen häuft, so ist das ein um so größeres Vergreifen im Stil, als neben diesem Bombast derbe und [106] burschikose Ausdrücke wie ‘tolles Schwein‘, ’burschieren‘ u. s. w. munter einher gehn. Die Manier, die dreitheilige Odenform für Gespräche zu verwerthen, so daß Satz und Gegensatz sich auf die Sprechenden vertheilen, der Nachsatz dem Dichter zufällt, belebt zuweilen diese bei aller Forcirung der poetischen Mittel nothwendig einförmige Evangelienpoesie, die, inhaltlich ohne jeden Reiz, doch beweist, daß Th. die für sinnliche Wirkungen üppig ausgebildete stilistische Technik der Zeit wohl kennt, über deren Stellung in der kirchl. Litteratur R. v. Liliencron’s Liturg.-musik. Gesch. d. ev. Gottesdienste S. 133 ff. zu vergleichen ist. Seine stilistische Gewandtheit zeigen diese, in geflissentlich gehobenem Tone gehaltenen Lieder sogar mehr als Thomasius’ Drama ’Titus und Tomyris oder Traur-Spiel, Beygenahmt Die Rachbegierige Eyfersucht‘, Giessen 1662 (Göttinger Exemplar) oder schon 1661 (Hamburger u. Weimarer Exemplar), jedenfalls vor den ’Früfrüchten‘ gedruckt. In diesem Alexandrinerstück, das[WS 1] sich gleichfalls genau an die Technik des Andr. Gryphius anschließt (so in den eingelegten lyrischen Maaßen, in den allegorischen Reihen), mißlingen ihm die ruhigen Partien vollständig, sind trivial, plump und breit; aber auch die stärker bewegten, hochpathetischen Stücke, wie etwa die Vision des betrogenen Titus, klingen gequälter als die Lyrik der ’Früfrüchte‘. Um so größeres Interesse bietet das Stück inhaltlich. Behandelt es doch denselben Stoff wie Shakespeare’s blutig wüster Erstling! Freilich nicht aus Shakespeare hat Th. geschöpft. Man hat richtig bemerkt, daß ’Titus und Tomyris‘ namentlich im ersten und letzten Act die auffälligste Aehnlichkeit mit des Holländers Jan Vos ’Aran en Titus of Wraak en Weerwraak‘ von 1641 verräth. Freilich das Dutzend wörtlicher Anklänge, das sich aufstechen läßt, beschränkt sich auf nichts beweisende Gemeinplätze, und die Abweichungen Thomasius’ von Vos sind fast erheblicher, als die Verschiedenheiten zwischen Vos und Shakespeare. Das aber bleibt bestehn, daß sehr charakteristische Züge in Aufbau und Motivirung dem Holländer und dem Deutschen gemein sind: ich erinnere, von gemeinsamen Auslassungen absehend, daran, wie die Gothenkönigin erst durch die angedrohte Opferung ihres Buhlen Aran bewogen wird, des Kaisers Liebeswerben zu erhören; ich erinnere an Aran’s Eifersucht und seinen Flammentod, an die Erscheinungen der gemordeten Titussöhne, die freilich bei Th. in anderem Zusammenhang auftreten als bei Vos; ja schon der Name ’Aran‘ zeugt. Aber daneben theilt Th. Motive mit Shakespeare oder einem Drama der englischen Comödianten gegen Vos: so ist der gefälschte Brief, der Titus’ Söhne zu Mördern stempelt, bei Th. und Shakespeare von diesen, bei Vos an sie geschrieben; so bringt bei Th. und in der 1620 gedruckten deutschen Tragödia Aran selbst höhnend die vergeblich geopferte Hand dem betrogenen Vater zurück, während Vos und Shakespeare das einem Boten überlassen; so hält Th. (und jene Tragödia) die unglückliche Camilla von der Abschlachtung ihrer Schänder fern, während sie bei Vos in grausiger Scene ihr Blut im Becken auffängt u. s. w. Th. wird nicht das Vos’sche Drama selbst gelesen, sondern auf Grund einer frei schaltenden Aufführung das seine entworfen haben. Von seinen Personennamen stimmt, abgesehen von Vos’ Titelhelden Titus und Aran, kein einziger zu dem Holländer; doch könnten es gelehrte Einfälle Thomasius’ gewesen sein, die ihn veranlaßten, die Gothin Thamera in jene skythische Tomyris, den blutigen gothischen Prinzen Quiro (Chiron) gar zu einem Ulphilas (armer Bischof!) umzutaufen und den historisch unerweislichen Kaiser Saturninus in den aus Geschichte und Sage sattsam bekannten Octavian zu verwandeln, neben dem dann Lepidus (bei Vos Bassian) und Antonius (bei Vos Markus) nicht fehlen durften.

Andre Umwandlungen, die Th. mit seinem Stoffe vornahm, gingen tiefer. Ihn reizen nicht die gehäuften Greuel: im Gegentheil; so verlegt er des Lepidus Ermordung, die Mißhandlung der Titustochter hinter die Scene und verzichtet auf [107] das gräßliche Motiv des Thyestesmahles am Schluß. Er sieht in ’Titus und Tomyris‘ eine lehrreiche Charaktertragödie und will die Hauptgestalten menschlich begreiflich machen. Da hat er denn für den Erzteufel Aran, der bei ihm nicht einmal Mohr, sondern nur heroisch tapferer Feldherr ist, wenig übrig: dieser und die Gothenprinzen, die bei Th. nur aus Vaterlandsliebe freveln, treten stark zurück. Die treibende Trägerin der Intrigue ist ausschließlich die ehrgeizige Tomyris, eine verführerische Valandinne, die alle Pläne entwirft, vor Nichts zurückschreckt und durch die Macht der Liebe den guten schwachen Gatten völlig um den Finger wickelt. Octavian, dessen übereilten Zorn Th. dadurch besser motivirt, daß er die eigenen Söhne des Kaisers als Opfer der angeblichen Mörder, der Titussöhne, hinstellt, ist für Th. der Typus eines vertrauensvollen, redlichen Mannes, der, wenn ihn sein Weib wieder einmal irregeleitet hat, von Gewissensbissen zermartert wird, der, nichts weniger als Tyrann, in seiner Arglosigkeit von den schlimmsten Greueln gar nichts merkt und von lauter Selbstvorwürfen zuletzt so mürbe ist, daß des jungen Titus Dolch seinem Selbstmord nur um ein Kleines zuvorkommt. Und Titus endlich ist nichts weniger als der Shakespearische Kraftmensch, ist geradezu eine Bankban-Gestalt von Lammsgeduld, ein treu ergebener Vasall, dem Alles recht scheint, was sein Kaiser thut, der mannhaft allen rebellischen Einflüsterungen seines hitzigen Bruders Antonius widerstebt und nur zum Schluß, in einer bei diesem Manne unglaubwürdigen Erregung, Tomyris ersticht. Der Ausführung dieser drei Figuren, die ihm besonders am Herzen lagen, hat Th. ungefähr zwei Dutzend neuer kleiner Scenen gewidmet, geschwätzig leere Monologe und Dialoge, hier, wo ihm ein Vorbild fehlt, ohne jede dramatische Kraft. Aber sie bereiten die Schlußmoral vor:

      Hier lehrnt jhr die jhr stehet
Nehst unter Jupiter; was euch vor Straff bereit,
Wenn jhr eur Reich beherrscht mit Vngerechtigkeit.

Diese gründliche didaktische Verwässerung und Abschwächung des brutalen Stoffes wird durch Thomasius’ platte Sprache durchweg unterstützt, und selbst ein vortrefflich erfundenes Motiv, wie die Erscheinung der wirklichen Gerechtigkeit nach der Mummenschanzscene, in der Tomyris die Maske der Gerechtigkeit getragen hat, versagt bei der matten Ausführung. Gervinus hat Th. in den Kreis der lohensteinischen Schreckenstragödien gestellt. Mit Unrecht, wie schon die Zeit seines Stückes wahrscheinlich macht. Auch als Dramatiker huldigt er Gryphius’ milderer, steiferer und politischerer Art; ein Schüler Lohenstein’s hätte aus den Greueln der Titusnovelle viel mehr zu machen gewußt.

Von einem Erfolge, von Aufführungen des Trauerspiels ist mir nichts bekannt. Im Nachwort kündigt Th. noch mehr dergleichen Schriften, zunächst ein, wol nie gedrucktes, Prosawerk an ’Den verführten Freyherrn oder den Laster-Spiegel‘: der Wortlaut macht es nicht einmal sicher, ob ein Drama gemeint sei. Themis mit ihren nahrhafteren Reizen scheint den Poeten seinen Jugendplänen schnell abwendig gemacht zu haben.

Creizenach, in den Berichten der Sächs. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Classe, Bd. 38, S. 93–107. – Mittheilungen Professor Behaghel’s und Dr. Ebel’s in Gießen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: daß