ADB:Stilicho
[236] Theodosius diese seine jungen Erben Stilicho’s Schutze (395); jedoch Arkadius, der Beherrscher des Ostreiches, stand völlig unter dem Einfluß eines bittern Feindes Stilicho’s, des Rufinus. Im Frühjahr 395 bereiste St. die Rheingrenze, die Friedens- und Bündnißverträge mit den Franken und Alamannen zu erneuern. Inzwischen forderte Arkadius von Honorius jene zahlreichen Scharen des oströmischen Heeres wieder, die auch nach des Theodosius Tode noch von St. im Abendlande zurückbehalten waren, wo sie das weströmische Reich bei Vernichtung des Anmaßers Eugenius (394) unterstützt hatten: der Westgothenkönig Alarich (s. A. D. B. I, 173), der vorher schon Byzanz bedroht hatte, heerte jetzt in Griechenland. St. führte selbst das weströmische Heer und jene Theile des byzantinischen zu Schiff nach Epirus: er wollte als Retter des Ostreiches auftreten, sich dadurch auch hier herrschenden Einfluß sichern: das vollberechtigte Bewußtsein, daß er allein helfen konnte, und der Ehrgeiz des Helden und des Staatsmannes wirkten hiebei wohl gleich mächtig in ihm. Aber eben deshalb setzte Rufinus durch, daß Arkadius so entschieden von St. verlangte, er solle sein Reich räumen und die oströmischen Truppen nach Byzanz entsenden, daß St. nur die Wahl zwischen Gehorsam oder offner Empörung blieb. Er gehorchte und wich mit dem weströmischen Heere bis in den nächsten Hafen seines Reichstheiles (Aulon) zurück (395). Allein im folgenden Jahre mußte Arkadius den einzigen Retter in der Noth selbst wieder herbeirufen, die Fortschritte des unwiderstehlichen Balthen zu hemmen. Abermals erschien St. mit Flotte und Heer, landete bei Korinth und drängte durch überlegene Feldherrnschaft die Gothen in das Gebirge Pholoë und in eine Lage, in der dem zahlreichen Volke nur Verschmachtung oder Ergebung übrig zu bleiben schien. Indessen scheint später durch Sorglosigkeit und Ueppigkeit der Unterfeldherrn Stilicho’s dessen Siegessicherheit erschüttert worden zu sein: er ließ im Wege des Vertrages den Gothenkönig nach Epirus abziehen, wo dieser nun alsbald das hülflose Ostreich zur Gewährung aller seiner Forderungen zwang. Der innere Zusammenhang dieser Vorgänge ist bei dem Stande der Quellen nicht aufzuklären: man vermuthet, St. habe nicht gewünscht, durch Vernichtung des Westgothen Byzanz von diesem Feinde für immer zu befreien: jedenfalls riefen ihn auch Gefährdungen der Rheingrenze in das Westreich ab. Die Vermuthung, umgekehrt habe Rufinus lieber mit Alarich abgeschlossen, als daß er St. nach vollem Sieg alsbald vor Byzanz gesehen hätte, stößt auf das Bedenken, daß St. schwerlich lediglich auf des Rufinus Befehl hin den Feind entkommen ließ, wenn er ihn vernichten konnte und wollte. St. kehrte nach Italien zurück, durch einen ihm ergebenen gothischen Befehlshaber der Byzantiner ward Rufinus bald darauf vernichtet. Im J. 398 vermählte St. den vierzehnjährigen Honorius mit seiner etwa zehnjährigen Tochter Maria, also eine Scheinehe, die bezweckte, die Beherrschung des Knaben für die Dauer zu sichern. Während St. in den nächsten Jahren (399–400) beschäftigt war, Gallien und Rhätien zu schützen, rüstete Alarich zum Einbruch in Italien, wo er im Spätherbst des Jahres 400 erschien und rasch Erfolge gewann gegen die Unterfeldherrn Stilicho’s, während dieser selbst in Rhätien und in Gallien Rüstungen betrieb, ja, die Rheinfestungen sehr stark der Besatzungen entblößte, um diese zur Rettung Italiens heranzuziehen. Aber erst im Frühjahr des Jahres 402 fühlte sich St. stark genug, die Entscheidung herbeizuführen: er griff am Osterfest die an diesem Tage keiner Schlacht gewärtigen (längst christlichen) Westgothen an bei Pollentia in Ligurien am Fluß Urbis (heute Polenzo bei Brá) und erfocht den Sieg, so daß Alarich auf das linke Ufer des Po zurückweichen mußte. Entscheidend aber war der Schlag nicht: bald erschienen die Gothen wieder auf dem rechten Ufer des Stromes. Unbekannte Gründe, vielleicht Abfall einzelner seiner Scharen, zwingen Alarich [237] abermals über den Po zurück: er weicht gegen die Alpen hin, bedroht Verona, das gerade noch zu rechter Zeit durch St. entsetzt wird, geräth wieder, wie vor sechs Jahren, in schwere Bedrängniß durch die Feldherrnschaft des Vandalen und wieder wird vertragsmäßige Verständigung mit St. vereinbart, wonach er unverfolgt nach Illyrien abzieht: die geheime Absicht Stilicho’s, ihn zu schonen, für künftige Pläne, zumal als Waffe gegen das oströmische Reich, zu gewinnen, hat hiebei schwerlich ganz gefehlt. Bald darauf erwarb sich St. um die Rettung Italiens vor Einbrüchen der Barbaren abermals hohes Verdienst. Radagais, wahrscheinlich gothischer Abstammung, nicht ein König an der Spitze eines Volkes, sondern ein abenteuernder Gefolgsherr, an den sich zahlreiche Gefolgsherren mit ihren Gefolgschaften, dann einzelne Söldner in furchtbarer Menge, meist aus gothischen Völkerschaften, geschlossen hatten, drang mit gewaltigen, in drei Heere gegliederten Massen, die im geringsten Anschlag auf 200 000 Mann geschätzt werden, in Oberitalien ein. Stilicho’s Staatskunst gelang es, zwei von diesen Heeren im Rücken des Radagais durch Verhandlungen zum Abzug aus Italien nach Gallien zu bewegen, das dritte Heer aber, unter Radagais selbst, durch überlegene Feldherrnschaft bei Fiesole, nahe Florenz, derart einzuschließen, daß den ungezählten Mengen nur Ergebung übrig blieb: Radagais ward gefangen und hingerichtet; die Zahl der verknechteten Gefangenen, die zum Verkauf ausgeboten wurden, war so groß, daß der Kaufpreis für einen solchen Sklaven auf einen Goldsolidus (12 Mark) herabsank. 12 000 gefangene Gothen nahm St. als Söldner in römischen Dienst. Gleich darauf finden wir den Sieger und Erretter in Verhandlung mit seinem alten Gegner Alarich. Gewiß nicht war es hiebei der Zweck Stilicho’s, seinen Sohn Eucherius durch Alarich zum Imperator des Ostreichs erheben zu lassen oder auch nur Ostillyrien den Byzantinern zu entreißen. Immerhin aber wollte St. die Macht des Westgothenkönigs dem Dienst für das vielfach feindselige oströmische Reich entziehen und für das weströmische gewinnen. Damit aber steht noch ein anderes im Zusammenhang. Seit Jahrhunderten spielten die Germanen im römischen Reich als Krieger und als Beamte eine Rolle, welche, unzweifelhaft mit dem altrömischen Staatswesen unvereinbar, die Barbarisirung und folgeweise die Auflösung des Reiches zur Folge haben mußte. Schon im 4. Jahrhundert waren Ausbrüche des römischen Nationalgefühls gegen diese Vorherrschaft der Barbaren erfolgt, nicht nur in Reden, wie etwa des Synesius, auch in blutigen „Vespern“, indem die römischen Provincialen über die bei ihnen einquartierten Germanen in Einer Nacht herfielen und sie ermordeten, wie z. B. in Kleinasien geschah. Es fragte sich nur, ob diese massenhafte Aufnahme von Germanen in allen möglichen Rechtsformen, die Jahrhunderte lang günstig gewirkt hatte, solange das Römerthum stark genug gewesen war, diese barbarischen Kräfte sich lediglich dienstbar zu machen, sie aufzusaugen, ohne durch sie barbarisirt zu werden, – ob die Aufnahme von Germanen noch jetzt entbehrt werden konnte? Der Erfolg hat gelehrt, daß die Fernhaltung nicht mehr möglich war. Gegen eine starke „römische“ Partei am Hof und im Senat, die das Germanische in Heer und Staat und deshalb besonders auch den Vandalen St. bekämpfte, stützte sich dieser begreiflichermaßen gerade auf seine germanischen Stammesgenossen. Und im Zusammenhange mit diesen Strebungen stand es gewiß auch, daß er den Westgothenkönig in den Dienst des Westreichs ziehen wollte, um vor allem das verlorene Gallien einem Anmaßer, Constantin, zu entreißen: für diesen Feldzug verlangte Alarich vierzig Centner Silber. Nicht leicht gelang es St., dem widerstrebenden Senat und der „römischen“ Partei am Hof die hiefür erforderlichen Zugeständnisse an den Balthen abzuringen, obwol es der klugen Serena gelungen war, nach dem Tode ihrer kinderlos und – wie man sagte – jungfräulich verstorbenen Tochter [238] Maria ihre zweite Tochter, Thermantia, dem Imperator Honorius zu vermählen. Schließlich zwar drang St. mit der Forderung jener Geldsumme für den Westgothenkönig durch. Allein gerade die enge Verbindung mit Alarich ward von Stilicho’s Feinden dazu benutzt, den Argwohn des mißtrauischen Honorius zu wecken: man bezeichnete diese Jahrgelder – seit Jahrhunderten schon hatte Rom solche bezahlt! – plötzlich als schimpflichen Tribut, man sprach von der Auslieferung des Reiches an die Germanen, und endlich gelang es den Gegnern, zumal einem Heerführer, Sarus (selbst ein Gothe, aber ein alter Feind des Balthen), bei dem Imperator die Ermordung des Mannes durchzusetzen, der allein das sinkende Reich gestützt hatte. Am 23. August 408 ward St. zu Ravenna ermordet, nachdem man ihn arglistig aus der gewonnenen Zufluchtsstätte einer Basilika gelockt: sein Sohn Eucherius, seine treuen, meist germanischen Leibwächter theilten sein blutiges Ende. Die Ehe mit Thermantia ward gelöst. Das nun sofort erlassene Verbot, Arianer oder Heiden in römische Dienste zu nehmen, kennzeichnet die Richtung der jetzt siegreichen Bewegung: sie war christlich, römisch-senatorisch. St. selbst war zwar dem römischen Götterdienst entgegengetreten: er hatte die sibyllinischen Bücher verbrennen lassen, die man in der Angst vor Radagais wieder hervorgeholt und befragt hatte: allein sein Sohn Eucherius ward der Hinneigung zu dem römischen Heidenthum bezichtigt. Dieses ganze Aufflackern des „Römergeistes“ war ein Anachronismus, wie schon die nächsten Ereignisse zeigten. Die verfolgten Germanen verstärkten massenhaft die Scharen Alarich’s, der nun, von keinem St. mehr abgewehrt, alsbald in Italien erschien und – zweimal – Rom eroberte. Der schwarze Undank gegen große Staatsmänner wird leider nicht nur von ihren schuldigen Fürsten, – auch von den schuldlosen Völkern gebüßt. – Gewiß war St. nicht der offenherzige Held, als den ihn sein Verherrlicher, der ausgezeichnete Dichter Claudianus, schildert: seine zweimalige Verschonung Alarich’s war nicht die That bloß eines Feldherrn, sondern eines geheime Absichten verfolgenden Staatsmannes. Allein gegenüber den bösartigen Ränken seiner Feinde an beiden Höfen war kluge Staatskunst nothwendig. Und man kann nicht behaupten, daß diese Staatskunst andere Zwecke als die Wohlfahrt des Reiches verfolgte: auch die Behauptung und Befestigung seiner Macht diente diesem Zweck. Am wenigsten ist der Vorwurf begründet, St. habe das Reich den Germanen ausliefern oder sich oder sein Haus durch sie auf den Kaiserthron erheben wollen: dieser Gedanke kam ihm sowenig wie Arbogast oder Rikimer oder Odovakar oder Theoderich, keinem Germanen vor Karl dem Großen (abgesehen von dem Franken Silvanus, der unter Constantius II., um sein Leben zu retten, nach dem Purpur gegriffen hatte).
Stilicho (Steliko), Feldherr und Staatsmann des weströmischen Reiches, geboren etwa 359, ermordet 408, war vandalischer Abstammung; vermuthlich zählten seine Vorfahren zu den von Constantin dem Großen (332–334) in das Reich aufgenommenen Vandalen; er ward wohl als römischer Bürger geboren, da sein Vater bereits unter Valens (365–378) in römischem Dienst germanische Reiterei befehligte. Früh gewann der an Geist und Körper Ausgezeichnete die Gunst des Kaisers Theodosius, der ihn schon 385 zum dux erhob, dann zum magister equitum, zum comes domesticorum und 392–93 zum magister militum, wenigstens des Heeres des Westreichs, nachdem er ihm 388 seine an Tochter Statt angenommene Nichte Serena vermählt hatte; so war St. dem Hause des großen Herrschers auf das nächste – wie ein Eidam („pro-gener“) – verbunden, also dessen Söhnen Honorius und Arkadius verschwägert: sterbend empfahl- Quellen: Cassiodorii Chronicon ed. Th. Mommsen (1861), – Claudiani carmina ed. Birth (1892). – Jordanis, Romana et Getica, ed. Th. Mommsen, Monumenta Germaniae historica (1882). – Olympiodorus. Fragmenta ed. Niebuhr (1829). – Orosius, Historiarum libri VII ed. Haverkamp (1857). – Prudentius (contra Symmachum) ed. Dressel (1860). – Pholostorgius, Historiae ecclesiasticae libri XII ed. Gothofredus (1643). – Rutilius Namatianus, Itinerarium ed. Lucian Müller (1870). – Sozomenos, Historia ecclesiastica ed. Valesius (1677). – Zosimus, Historiae ed. Bekker (1837).
- Litteratur: Aschbach, Geschichte der Westgothen (1827) S. 70 f. – Bessel, Gothen, Encyklopädie von Ersch und Gruber Sect. I Bd. 75, S. 189 f. – Buse, Sanct Paulin von Nola (1857). – Clinton, Fasti Romani (1845) p. 551. – Dahn, Die Könige der Germanen V (1870) S. 33 f. – Ders., Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker I (1881) S. 339 f. – Fauriel, Histoire de la Gaule méridionale sous la domination des conquérants [239] Germains I (1836) p. 20 f. – Gibbon, History of the decline and fall of the Roman Empire (2. ed.) 1821, p. 200 f. – Köpke, Deutsche Forschungen (1859) S. 139 f. – Luden, Geschichte des Teutschen Volkes II (1825) S. 345 f. – Pallmann, Geschichte der Völkerwanderung I (1863) S. 230 f. – Reitemeier, Notae in Zusimum (in der Bonner Ausgabe: siehe „Quellen“, Zosimus) p. III. – Reumont, Geschichte der Stadt Rom I (1867) S. 715 f. – Richter, De Stilichone et Rufino (Halis 1860). – Rosenstein, Alarich und Stilicho. Forschungen zur Deutschen Geschichte III (1863). Vgl. denselben I (1860) über das Verhältniß zwischen Olympiodor und Sozomenos. – Simonis, Versuch einer Geschichte Alarich’s I (1850) S. 30 f. – Vogt, De Claudiani carminum quae Stiliconem praedicant fide historica (1863). – Volkmann, Synesius von Kyrene (1869) S. 34 f. – Volz, De Vesegotharum cum Romanis conflictionibus post mortem Flavii Theodosii exortis (1861). – v. Wietersheim-Dahn, Geschichte der Völkerwanderung II (1881) S. 110 f.