ADB:Scherzer, Otto
Molique machte auf den Knaben solchen Eindruck, daß er sich für die musikalische Laufbahn entschloß und mit Molique nach Stuttgart ging. Er war dort 11/2 Jahre sein Schüler und wurde dann im October 1838 als Violinist Mitglied der Hofcapelle, die unter Lindpaintner’s hochgeschätzter Direction stand. Dort knüpfte er freundschaftliche Beziehungen zu Musikern (besonders Hugo Schunke) und andern Künstlern und Schriftstellern der damals litterarisch bedeutsamen schwäbischen Hauptstadt an. 1843 begründete er mit Eduard Keller zusammen die öffentlichen Quartettsoireen, in denen er die zweite Geige spielte. Wichtig wurde 1847 seine Bekanntschaft mit Immanuel Faißt, von dem er Unterricht in der Musiktheorie und im Orgelspiel erhielt, in dem er sich bald würdig neben den Meister stellen konnte. [760] Dasselbe Jahr brachte ihm, durch eine Reise nach Heilbronn, die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau Luise, der Schwester Gustav Schmoller’s, und mit Friedrich Kauffmann, mit dem er später als Liedercomponist mehrfach in Wettstreit getreten ist.
Scherzer: Otto Sch., Musiker, 1821–1886. – Erdmann Otto Sch. wurde in Ansbach am 24. März 1821 als Sohn des Stadtcantors geboren, aus einer Familie, die der Stadt viele Generationen lang ihre Stadtmusiker geliefert hat. Er verlor seinen Vater schon mit sechs Jahren und durchlief, zum Studium der protestantischen Theologie bestimmt, das Gymnasium seiner Vaterstadt bis zum Alter von fünfzehn Jahren. Das Auftreten des Stuttgarter Violinisten1854 bekam er einen Ruf als Organist und Chordirector an die protestantische Kirche in München, daneben als Professor des Orgelspiels ans Conservatorium. Er trat diese Stellen im December an und gründete im October 1855 seinen Hausstand. In München hat Sch. eine ausgedehnte Thätigkeit als Lehrer, Künstler und Kunstfreund entfalten können. Er pflegte ein Hausquartett, dem Lauterbach bis zu seinem Abgange nach Dresden als erster Geiger angehörte. Mit Franz Hauser, dem Vorstande des Conservatoriums, stand er in naher Freundschaft; ebenso mit Julius Maier, dem Herausgeber der alten Volkslieder und Madrigale, der ihn noch später mit alter Kirchen- und Profanmusik versorgt hat; Franz Lachner hat große Stücke auf ihn gehalten, und Sch. hat selbst bekannt, von ihm, neben Lindpaintner, am meisten die Kunst des Dirigirens gelernt zu haben. Dazu kam der in der Vollkraft der Thätigkeit stehende W. H. Riehl, dessen Frau als Stuttgarterin eine alte Bekannte von Sch. war. Nicht minder pflegte Sch. Beziehungen zu den bildenden Künstlern, zu Moriz v. Schwind insbesondere und zu den schwäbischen Malern Ebert, Schütz, Grünenwald und Johann Mali, bei dem auch Scherzer’s Frau sich in der Kunst der Landschaftsmalerei vervollkommnete.
Die Münchner Stellung wurde unsicher, als Streitigkeiten zwischen dem Künstler und dem protestantischen Kirchenregiment im Winter 1857/58 zur Niederlegung des Organistenamts führten. Zwar wurde Sch. das Zutrauensvotum zu Theil, daß er im Juni 1859 die Direction des großen Instrumental-Ensembles am Conservatorium erhielt. Aber die Existenz dieses Institutes selbst schien, zumal in jenem Kriegsjahr, nicht gesichert genug. Da wurde im Januar 1860 durch Friedrich Silcher’s Pensionirung die Stelle des akademischen Musikdirectors in Tübingen erledigt. Faißt, auf den die Blicke zunächst gerichtet waren, wollte nicht von Stuttgart weggehen und wies auf seinen alten Schüler und Freund hin, der von Lachner und Hauser nicht minder warm empfohlen wurde. So erhielt Sch. diese Stellung, die er am 1. Mai 1860 antrat und 17 Jahre lang inne hatte. Zugleich hatte er den Oratorienverein, zeitweilig auch die akademische Liedertafel zu dirigiren und die Leitung der musikalischen Uebungen an den beiden theologischen Seminarien zu übernehmen, sowie jährlich den Musikunterricht an den vier niederen evangelisch-theologischen Seminarien Württembergs zu revidiren. Ein vollgerütteltes Maß aufreibender Thätigkeit, bei der es auch ohne Kämpfe nicht abging. Seine früh schon geschwächte Gesundheit forderte endlich den Rücktritt vom Amte, der Ende Juli 1877 erfolgte. Sch. wurde nicht nur durch Zeichen der Anhänglichkeit vieler alter und neuer Schüler und Schülerinnen geehrt, sondern auch die philosophische Facultät ernannte ihn, virum profundo veri pulcrique sensu ac subtilitate judicii insignem, monumentorum artis musicae omnium aetatum peritissimum, classicae quam vocant musicae propagatorem indefessum, cantilenarum vocibus humanis recitandarum artificiosum inventorem, excercitationum musicarum moderatorem intellegentissimum ac strenuissimum, am 26. Juni zum Ehrendoctor. Seinen Ruhestand brachte Sch. zunächst in Stuttgart zu, 1878 bis 1880 in Cannstatt, dann wieder in Stuttgart bis zu seinem Tode, der nicht ohne vorausgegangenes Kränkeln, aber doch unerwartet am 23. Februar 1886 infolge einer Carotisruptur eintrat. Auf dem schön gelegenen Pragfriedhof [761] erinnert seit dem Juni 1887 ein Grabrelief von Karl Donndorf (sen.) an ihn.
Als am 10. Mai 1886 einige Verehrer Scherzer’s in Stuttgart ein Concert mit Compositionen des Dahingegangenen veranstalteten, war der Saal fast gedrängt voll, aber wenig oder gar nicht von Musikern, sondern wesentlich von Freunden und Freundinnen des Schönen überhaupt. Das war bezeichnend. Sch. war durchaus nicht bloß Musiker, obwohl er es mit Leib und Seele war; er war eine lebendige, alle Künste umfassende und liebende, wenngleich nur in einer einzigen thätige Künstlerpersönlichkeit. Es schwebte ihm nicht das Ideal einer Vereinigung aller Künste zu dem Fortissimo eines Gesammtkunstwerks vor; in ihm lebte vielmehr das Ideal einer in sich geschlossenen und harmonisch ausgereiften Persönlichkeit, einer „musikalischen Seele“. Nicht als ob er dieses Ziel leicht erreicht und sich im Besitze wohlig gefühlt hätte, wie er das etwa an Mendelssohn, einem seiner Lieblinge, bewundern und auch wohl beneiden mochte; es war ihm ein Ziel, nach dem er mit Ernst und Mühe rang. Von Haus aus zart, nervös, zeitlebens von schwankender Gesundheit, in den Stimmungen rasch auf und ab schwankend, zur Hypochondrie und einem gewissen Mysticismus geneigt, hatte er daneben ein feuriges Temperament und einen heftigen Willen. So sehr aber seine eigene Natur etwas Humoristisch-Romantisches hatte, in Sprüngen sich zu bewegen liebte: sein Geschmack war durchaus auf das Vernunftgemäße, Klare, auf großen, bei allem Reichthum übersichtlichen, präcisen und logischen Stil gerichtet. Er arbeitete langsam und stoßweise, mit vielfachen und oft andauernden Hemmungen; er hat nicht nur wenig producirt, sondern auch in der Ausfeilung sich nie genug thun können. Wie eine Schranke seines Wesens sich darin zeigte, so auch eine große Tugend: die eines tiefen und ehrlichen künstlerischen Ernstes, der immer, sei es auch im engsten Kreis und für engste Kreise, ein vollendetes Kunstwerk herstellen will.
Sch. war in streng classicistischer Tradition aufgewachsen und hat zeitlebens zäh an den alten Meistern festgehalten, wohl an keinem mehr als an Mozart, von dem er wohl rühmen konnte, daß er in Otto Jahn auch einen Biographen desselben edlen, unbeirrbaren Maaßes gefunden habe; zu dem späteren Beethoven, dessen Phantasie für Clavier, Orchester und Singstimmen er einmal in unvergeßlicher Weise zu Gehör brachte, hat er sonst kaum mehr Stellung genommen. Vermuthlich hat seine Versetzung nach dem kleinen Tübingen, in das sich damals nie ein bedeutenderer Concertgeber verirrte und von dem er selbst solchen Zuzug fernzuhalten beigetragen hat, ihn in dieser Art noch mehr versteift. Aber innerhalb einer solchen Beschränkung und der weiteren, die in den Mitteln des Ortes und der Zeit lag, hat er als Lehrer und noch mehr als Dirigent Ausgezeichnetes geleistet. Er hat den in Silcher’s alten Tagen verbummelten Tübinger Vereinen zum Bewußtsein künstlerischer Aufgaben und Pflichten verholfen und hat seinen Schülern ein Vorbild unermüdeten Fleißes und nie ruhender Arbeit gegeben. Die akademische Liedertafel hat er bald fallen gelassen und nur zeitweilig wieder aufgenommen; neben der Verquickung mit studentischen Interessen und Händeln beleidigte ihn das Specifische des Männergesangs, der ihm als eine selbstgefällige Halbkunst erschien, deren Geziertheit zu verspotten er nicht müde wurde. Dagegen hat er im Tübinger Oratorienverein, in seinem Streichquartett, in gelegentlichen symphonischen und Orgelconcerten das Beste gegeben, oft mühevoll genug erzielt mit dem stets wechselnden Personal und ohne je fremde Kräfte herbeizuziehen. Besonders in Kammermusik und a capella-Gesang sind ihm vorzügliche [762] Leistungen gelungen. Er war rücksichtslos streng in seinen Anforderungen, heftig, oft von göttlicher Grobheit in seiner Kritik; aber nur die Schwächeren und Unwilligen haben sich abschrecken lassen, denn er war mit heiligem Eifer an der Arbeit, seine hinreißende Liebenswürdigkeit konnte für viel Mühe und Tadel reichlich belohnen, und die Sicherheit seines Taktstocks, den er nach den harten Arbeiten der Proben mit apollinischer Heiterkeit führen konnte, brachte Aufführungen von einer Vollendung zu Stande, wie sie bei Dilettantenvereinen nicht häufig sind. Ein Pactiren mit der Bequemlichkeit, der Mittelmäßigkeit, mit socialen und amtlichen Hindernissen gab es für ihn nicht; der Ernst seines Wollens und eine ganz unglaubliche Uneigennützigkeit ließen ihn auch aus schwierigen, mitunter selbst geschaffenen Differenzen wo nicht immer als Sieger, so doch stets mit Ehren hervorgehen.
Scherzer’s Musikwerke sind arm an Zahl: op. 1–6!, in ihrer Art aber wohlgerundete, fertige Kunstwerke, denen der Stempel einer bedeutenden Persönlichkeit aufgedrückt ist. Ein Menuett für Clavier ist ungedruckt geblieben. In Lebert-Stark’s Clavierschule, Bd. 4, Abth. 2, Nr. 13 steht ein „Variirtes Thema“ in Des-dur. Zwei Jahre vor seinem Tod erschienen „Choralfigurationen für die Orgel“ (Rieter-Biedermann), die, an Bach sich anschließend, von Kundigen, namentlich von seinem bedeutendsten Schüler Seyerlen, sehr hoch gestellt wurden, aber nur selten zu Gehör gebracht worden sind. Mehr hat er für Sologesang mit Clavier geschaffen. Noch vor 1845 erschien eine Jugendarbeit, „6 deutsche Lieder für Mezzo-Sopran oder Bariton“ (Stuttgart, in dem damaligen, später Hallberger’schen Musikverlag „zum-Haydn“). Am meisten bekannt geworden sind seine „25 Lieder für eine Singstimme mit Clavierbegleitung“, 1860 erschienen (Nördlingen, Beck, mit dem Nebentitel „Liederbuch, 1. Theil“ zum Theil später wieder aufgelegt). Im Ganzen aber sind die Concertveranstalter an dieser Sammlung ziemlich achtlos vorübergegangen, und Sch. wurde erst durch einen 1880 in den „Grenzboten“ erschienenen Artikel „Ein übersehener Liedersänger“ ermuntert, manches seitdem Componirte und großentheils durch Tübinger Aufführungen Erprobte herauszugeben. 1882 erschienen (bei Grunow in Leipzig): „6 Lieder für Tenor oder Sopran mit Clavierbegleitung“ und „6 Lieder für gemischten Chor“. Diesen folgten nach seinem Tod 1887 „6 geistliche Lieder für gemischten Chor“ (Stuttgart, Zumsteeg). In diesen Liedern a capella dürfte er wohl sein Bestes, gewiß sein Bleibendstes gegeben haben. Ein technisches Urtheil über Scherzer’s Musik zu fällen, steht einem Nichtmusiker nicht zu. So viel kann gesagt werden, daß ein Hauch ernster, bald mehr strenger, bald mehr liebenswürdiger Schönheit durch sie geht, und daß alles einen Künstler verräth, dem seine Kunst Gewissenssache ist. Ein paar Kleinigkeiten abgerechnet, hat Sch. nur Gedichte von echtem Gehalt und edler Form componirt; er hat dabei die Concurrenz mit großen und größten Vorgängern nicht gescheut und darf sich mit Ehren neben ihnen hören lassen. Was ihn besonders auszeichnet, das ist das congeniale nicht bloß sachliche, sondern auch künstlerische Verständniß des Dichtertextes, dem er nicht allein nach Inhalt und allgemeiner Stimmung, sondern auch nach seiner inneren Form getreu bleibt; in der hohen Achtung vor der Kunst des Dichters wie vor den Zielen und Mitteln der eigenen Kunst hat ihn Keiner übertroffen, haben ihn auch Größere nicht immer erreicht.
- Nach persönlichen Erinnerungen, amtlichen Quellen, besonders aber nach der von Scherzer’s Wittwe geschriebenen, mit Bildniß und Autograph versehenen Biographie „Otto Scherzer. Ein Künstlerleben“ (als Mscr. gedruckt).