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ADB:Salis-Marschlins, Ulysses von

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Artikel „Salis-Marschlins, Ulysses von“ von Otto Hunziker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 240–245, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Salis-Marschlins,_Ulysses_von&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:14 Uhr UTC)
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Salis-Marschlins: Ulysses v. S.-M., geb. am 25. August 1728 auf Schloß Marschlins, war der älteste Sohn Johann Guberts v. S.-M., verlebte seine Jugend in Chiavenna und Soglio, und empfing dort, im Kreise der Standesgenossen und unter dem Einfluß des italienischen Volkslebens die Keime weltmännischer Gewandtheit, hier, wo sich die Familie jeweilen im Sommer aufhielt, die Impulse eines freien und kühnen Charakters. Seine Bildung war wesentlich die eines Autodidakten, der die mangelnde Schulung durch offenen Sinn und glühenden Eifer ersetzte, die sich ihm darbietenden Kenntnisse, wo und wie er sie fand, sich zu eigen zu machen. Im 16. Jahre schon bezog er die Hochschule Basel und widmete sich hier dem Studium der Classiker, der Rechtswissenschaft und der Geschichte. Reisen, vor allem ein längerer Aufenthalt in den Niederlanden, übten seine Beobachtungsgabe. Doch schon im 18. Jahre kehrte er in die Heimath zurück, um dort ein für ihn gekauftes Amt anzutreten. Mit dem Jahre 1749 beginnt seine politische Laufbahn. Seine erste Schrift über die Rechte des Gotteshausbundes an das Hochstift Chur 1755 zeigte bereits seine staatsmännische Begabung und als Podestat von Tirano im Veltlin 1757–59 erwarb er sich den Ruf eines rücksichtslos gerechten und unbestechlichen Beamten. Seinem politischen Talent glückte es, die verschiedenen Zweige des Salis’schen Hauses zu einheitlichem Vorgehen zu bestimmen und dadurch die Macht der bisher herrschenden österreichischen Partei in Bünden zu untergraben. 1761 begleitete er als Vertrauensmann eine Gesandtschaft nach Mailand, welche vornehmlich durch seine Thätigkeit das dritte mailändische Capitulat zu Stande brachte, dessen Resultat nicht nur in der Bereinigung der Grenzen zwischen den Gebieten von Mailand und Bünden, sondern auch sonst noch in einer Reihe für Bünden unerwartet günstiger Vertragsbestimmungen bestand. Dadurch stieg die Macht der „Saliser“ und vor allem der Einfluß des Ulysses zu dominirender Stellung. Aber auch die Feinde und Neider erwachten und durch deren Bestreben, der Uebermacht des gehaßten Hauses zu wehren und die Sonderinteressen desselben zu kreuzen, wurden im Geist der Aufklärungszeit groß und kraftvoll gedachte Maßnahmen, die Ulysses schon in Mailand vorbereitet, wie daß im Veltlin forthin die Abtretung liegender Güter an die Kirche verboten werden solle, zum Scheitern gebracht. Nicht nur durch Staatsschriften, sondern auch auf dem Wege populärer Belehrung suchte er diese Gegenströmung zu überwinden. Seine persönliche Stellung wurde im J. 1768 durch die Uebernahme der Würde eines Ministers der französischen Krone bei den drei Bünden, mit welcher eine Besoldung von 10 000 Livres verbunden war, gefestigt und über [241] die Wechselfälle des Parteigetriebes herausgehoben. Im J. 1773 gelang es ihm, in der Reichenauer Convention auch den Abt von Dissentis auf seine Seite hinüber zu ziehen. Schritt für Schritt hatte er so auf dem schwierigen Boden der bündnerischen Demokratie eine dauernde, wenn nicht persönliche, so doch Familienherrschaft begründet. „Für Bünden aber folgte nun“, wie Sprecher sich ausdrückt, „ein Zeitraum des Ausruhens von großen Parteikämpfen, aber zugleich eines ungewöhnlich regen und fruchtbringenden Schaffens auf den neutralen Gebieten der Volkswirthschaft, des Schulwesens, der Wissenschaft, eines Schaffens der tüchtigsten Kräfte des Landes, die hier, wenn auch nicht immer nur von einem edlen Wetteifer beseelt, doch verbündet schienen, um das materielle und geistige Wohlbefinden des Volkes fördern zu helfen.“ In solchem Schaffen ging der Minister v. S. selbst mit der ganzen Energie seines Wesens voran.

Ulysses v. S. (von dem Karl Friedrich Bahrdt, der durchaus nicht das Interesse hatte, den Gewaltigen allzugünstig zu schildern, sagte, – sein Blick sei feurig und groß, Miene und Worte gütevoll gewesen, aber man habe in seinem Gesichte immer die Worte zu lesen geglaubt: „willst du nicht in Güte, die meine freundliche Miene dir zum Spaße macht, so soll der Teufel dich holen“) besaß in sich das volle Zeug für Bünden das zu sein, was die besten Fürsten in jener Zeit des aufgeklärten Despotismus auf den Thronen Europas waren. Er verband mit jugendlicher Schnellkraft und allseitiger hoher Begabung einerseits eine ungewöhnliche Kenntniß der politischen Atmosphäre seines Landes, andrerseits eine ebenso ungewöhnliche Weite des Blicke; halb unbewußt verknüpften sich in ihm die allgemeinen Interessen und die ideale Begeisterung mit dem Instinct für die Sicherstellung des Einflusses seines Hauses, auf welcher ja auch die Möglichkeit, jene allgemeinen Interessen nachhaltig zu fördern, in Wirklichkeit beruhte. Der ideale Grundton seines Wirkens ist das Streben für menschliche Glückseligkeit, wie es den Besten des 18. Jahrhunderts eigen ist. „Mein Vater“, sagt der Sohn in des Ulysses Biographie, „war ein Liebhaber von weitaussehenden Projecten, von deren Nutzen für die Menschheit er sich überzeugt glaubte.“ Wenn er als großer Gutsherr Krankheit verbreitende Sümpfe austrocknet, seinen Einfluß und seine Kenntnisse für Verbesserung des Straßenbaus verwerthet, den jungen Bündnern in eigener Person Vorlesungen über bündnerisches Staatsrecht hält, wenn er erfolglos für bessere Stellung der bündnerischen protestantischen Geistlichkeit eintritt, wenn er – ebenso wenig mit Erfolg – die Einführung des neuen Kalenders befürwortet, so sind dies doch wohl in erster Linie Handlungen eines aufgeklärten Patriotismus. Wenn er sich daran wagt, dem zerklüfteten und von kleinen Interessen bewegten Parteileben gegenüber durch die Schöpfung eines höheren Bildungsinstitutes bessere Begriffe von Recht, Vaterlandssinn und Sittlichkeit dem zur Leitung der bündnerischen Geschäfte in der Zukunft berufenen jungen Adel beizubringen, so darf ihm das Zeugniß nicht versagt werden, daß er die Aufgabe, ein Regenerator des politischen Lebens seiner Heimath zu werden, in großem Stile erfaßt hat; und mit welcher selbstverleugnenden Klugheit er bei diesem letzten Unternehmen vorgegangen, um nicht die seinem persönlichen Einfluß mißtrauisch gegenüberstehenden Landsleute der Sache selbst feindlich zu stimmen, das hat erst vor wenigen Jahren Keller in seinem Aufsatz „Das rätische Seminar Haldenstein-Marschlins“ voll und ganz ans Licht gebracht. In der That bildete die umsichtige Energie, mit welcher der Minister v. S. die genannte Anstalt des Professors Martin Planta (1727 bis 1772; s. A. D. B. XXVI, 233) unterstützte und damit seiner Heimath das Aufblühen einer höhern Bildungsanstalt sicherte, wobei er in voller Uneigennützigkeit einen bedeutenden Theil seines Vermögens einsetzte und durch den [242] Untergang des durch Bahrdt in ein Philanthropin umgewandelten Seminars auch verlor (1777), für ihn in der Culturgeschichte seiner Heimath einen unvergünglichen Ruhmestitel.

Aber Ulysses v. S. war weit davon entfernt, seinen Blick auf Bünden zu beschränken. Durch sein ganzes Wesen geht, wie schon angedeutet, ein kosmopolitischer Zug. „Wir bestreben uns eifrig“, sagt er, „unsern jungen Bürgern den heiligen Enthusiasmus der republikanischen Tugend, der Liebe des Vaterlandes beizubringen; aber zugleich es ihnen einzuprägen und es ihnen durch rührende Beispiele vor die Augen zu malen: Vaterland ist nicht der Ort, wo ein Jeder geboren ist, sondern der Kreis, worin ein Jeder nützen kann. Dieses Vaterland auf ein Haus, auf eine Familie, eine Faction, eine Stadt einschränken, heißt sich dem niederträchtigen Parteigeist überlassen, heißt die Grenzen seiner eigenen Wirksamkeit verkennen, heißt: aus Vorsatz klein sein wollen“.

So ist er denn nicht bloß bündnerischer Patriot; im Anschluß an ein größeres Ganze, an die schweizerische Eidgenossenschaft, sieht er für seine Heimath in der Zukunft das Heil. Als der erste und zunächst als der einzige Bündner erschien er 1765 an der Versammlung der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach, um das nächste Jahr mit seinen Freunden Planta und Marin wiederzukehren; 1770 ernannte ihn diese Gesellschaft zu ihrem Präsidenten; ihr übertrug er gewissermaßen das Patronat über das rätische Seminar. Und daß dies nicht bloß eine vorübergehende Annäherung war – nach 1772 war es ihm nicht mehr möglich, den Versammlungen der Gesellschaft beizuwohnen – das beweist sein im Druck erschienenes „Schreiben an den Verfasser des Halls eines Eidgenossen“ (Müller-Friedberg) 1789, in welchem er, knapp vor den Stürmen der französischen Revolution, den Gedanken einer definitiven Angliederung Graubündens, ja aller zugewandten Orte an den schweizerischen Staatenbund zu beredtem Ausdruck brachte.

Die überragende Macht des Hauses Salis in den letzten Jahrzehnten vor dem Zusammenbruche der alten Verhältnisse kann nicht besser illustrirt werden, als durch die Thatsache, daß ein Glied dieses Hauses 1783 mit dem offenen Antrag vor die Bünde trat, das Veltlin und die beiden Grafschaften (Cleven und Worms) an einen dritten, den man aber erst später nennen werde, um den Preis von 943 000 fl. zu verkaufen; begründet war der Vorschlag damit, daß die Herrschaft der Republik den Unterthanen zum Unsegen gereiche und ihr selbst doch nur wenig Nutzen gewähre; wie viel besseres ließe sich aus einem solchen Capital für das gemeine Wesen stiften! Der Vorschlag erregte enormes Aufsehen. „Den Käufer meinte ein Jeder augenblicklich zu errathen“, erzählt Sprecher und fügt dann erläuternd bei: „Es wird wol schwerlich jemals vollständig aufgeklärt werden, ob Baptista v. S., von dem Hause, dessen Mitglied er war, wirklich Auftrag zu seinem Vorschlage erhalten oder ob er, freilich nicht ohne Mitwissen desselben, auf eigene Faust seinen Antrag als Fühler der öffentlichen Meinung gestellt habe“. Der demokratische Stolz der Bündner bäumte sich gegen diese Bevorzugung des mächtigen Geschlechts auf; am großen Congreß von 1784 ergaben sich für vollkommene Verwerfung des Antrages 62 Stimmen, 1 war ausgeblieben; die gedruckte Vorlage wurde durch Henkershand verbrannt; auch sollte durch eine Verordnung verhütet werden, daß jemals wieder Vorschläge solcher Art vorgebracht werden können.

Es darf nicht übersehen werden, daß wenig später auch die Unterthanenlande selbst einen Schritt thaten, Ulysses v. S. eine ausnahmsweise Stellung zuzugestehen. Von den Feinden der Saliser war stets der Vorwurf gegen die Unterhändler des Mailänder Capitulats von 1763 erhoben worden, daß in einem heimlichen Artikel das Verbot des Aufenthalts von Nichtkatholischen im Veltlin [243] zu Gunsten der dort begüterten Bündnerfamilien durchbrochen worden, was namentlich der Familie S. zu Gute gekommen war. In den Streitigkeiten nun, die über Abgrenzung des Unterthanenverhältnisses in den 80er Jahren aufs neue sich erhoben, boten die Wortführer der Veltliner dem Ulysses v. S. schriftlich an, ihn als französischen Minister im Veltlin zu dulden, wenn er in jenen Streitigkeiten neutral bleibe. Aber dieses Zugeständniß einer ihm persönlich sehr vortheilhaften Ausnahmsstellung wollte Ulysses nicht durch Verletzung seiner patriotischen Pflicht erkaufen und trat gegentheils mit Wärme für die Rechte Bündens ein. Dafür erntete er nun den vollen Haß der Veltliner und zum größten Theil dadurch ist wol die größte That seines politischen Lebens vereitelt worden. Es war ihm nämlich gelungen, bei seinen Landsleuten den von ihm ausgearbeiteten „Entwurf einer Verbesserung des Justizwesens in löbl. drey Bünden untertanen Landen“ 1791 zur Annahme zu bringen, der mit dem Unwesen der Gerichtssporteln, der Hauptquelle der bündnerischen Mißwirthschaft in den Unterthanenlanden, radical aufräumte, und dafür den Beamten feste Gehalte aussetzte, für welche eine wenig drückende Einkommensteuer in den Unterthanenlanden die Mittel liefern sollte. Neben dem Haß gegen jede directe Steuer bewirkte vornehmlich die Erbitterung gegen den Urheber des Projects, daß die Veltliner letzteres, ohne irgend welche Gründe anzugeben, „mit Abscheu“ zurückwiesen.

War es Ulysses v. S. mißlungen, in durchgreifender Reform die Verhältnisse zwischen Bünden und dem Veltlin umzugestalten, und dauerten nun hier die alten Zustände fort, die sechs Jahre später zum Verlust der Unterthanenlande führten, so wurde durch den Gang der Dinge in Frankreich gleichzeitig seine Machtstellung überhaupt gefährdet. Bereits 1790 war in der französischen Nationalversammlung der Antrag eingebracht worden, ihn als französischen Geschäftsträger abzusetzen, aber ohne Erfolg. Im Frühjahr 1792 erhielt er nun durch Dumouriez, den französischen Minister des Auswärtigen, mit der Anzeige, Frankreich habe an Oesterreich den Krieg erklärt, die Aufforderung, dahin zu wirken, daß Bünden an der Seite Frankreichs ebenfalls gegen Oesterreich Partei ergreife. Er antwortete: „die Pflichten, die er seinem Vaterlande schuldig sei, erlauben ihm nicht, die ihm gegebenen Aufträge zu erfüllen; es bleibe ihm also nichts anderes übrig, als den König um seine Entlassung zu bitten“. Diese wurde ihm sofort ertheilt mit der Anerkennung: que le roi respectoit ses motifs.

Damit war nun aber auch sein eigener und der Sturz seiner Familie besiegelt; die Gegner der Salis gewannen in Bünden die Oberhand. Auf der allgemeinen Standesversammlung zu Chur 1794 richtete sich der Sturm persönlich gegen ihn; und da er auf inständiges Bitten seiner Freunde sich noch rechtzeitig außer Land begeben, wurde in contumaciam gegen ihn erkannt: „daß er auf Lebenslang aus dem Gebiet gemeiner Landen capitaliter verbannisirt sein solle …“ Dabei wurde er auch für vogelfrei erklärt und seine Mittel für die Kasse löbl. gemeiner Landen confiscirt. Von dem Recht, innerhalb 14 Tagen sich zur Verantwortung zu stellen, mochte er um so weniger Gebrauch machen, als ihm nicht einmal freies Geleite in Aussicht gestellt war; und die Gewaltthätigkeiten, die schon während der Verhandlungen gegen die Bewohner des Schlosses Marschlins ausgeübt worden waren, zeigten allzudeutlich, daß er nicht Richtern, sondern Feinden gegenüber gestanden hätte. So irrte denn der vor kurzem noch so mächtige Mann, nachdem er vergeblich in der Nähe von Zürich durch Erwerbung eines kleinen Landgutes sich einen ruhigen Lebensabend hatte sichern wollen, durch das Eindringen der Franzosen auch da in Lebensgefahr versetzt und vertrieben, durch die Confiscation der Bündnergüter im Veltlin [244] vollends finanziell ruinirt, in der Verbannung umher, bald in Zürich, bald in St. Gallen Zuflucht suchend, dann wieder auf kurze Zeit, so lange das Kriegsglück die Alliirten begünstigte, nach Marschlins sich zurückwagend; beim Andringen der Franzosen im Sommer 1800 flüchtete er nach Tirol und ging von dort nach Wien; schon auf der Reise verfiel er in ein Nervenfieber; fünf Tage nach seiner Ankunft daselbst starb er, am 6. October 1800. In ihm stieg an der Wende des Jahrhunderts einer der bedeutendsten und weitsichtigsten Staatsmänner der alten Eidgenossenschaft ins Grab. Hohe Ideale, „der heilige Enthusiasmus der republikanischen Tugend, der Liebe zum Vaterland“, schwellten – das geben selbst Angehörige der gegnerischen Partei zu – von Anbeginn des öffentlichen Wirkens seine Brust und blieben ihm bis ans Ende seines Lebens. Doch dem Bilde fehlen, zumal in den jüngeren Jahren und in den Zeiten des Glücks auch die Schatten nicht, die unter Parteiverhältnissen, wie sie seine Heimath aufwies, der kraftvollen Natur fast unausweichlich anhaften mußten; es ist schwer, ja unmöglich, allenthalben die Grenze zu ziehen zwischen den Wirkungen jener höhern Impulse einerseits, dem persönlichen Ehrgeiz und dem Gewicht der Familieninteressen andrerseits, und nicht ohne Grund klagten die Gegner vielfach über Gewaltthätigkeit und Intrigue. Aber da wo er schließlich endgültig zu wählen hatte zwischen den Forderungen des Gewissens und den Bedingungen äußerer Machtstellung, entscheidet er durchaus als sittlicher Charakter und so zeigt er sich im Zusammenbrechen seiner Macht größer als vielleicht je im Besitze derselben. Gerade Unglück und Martyrium breiten über sein Wesen eine harmonische, von inniger Herzensfrömmigkeit getragene Milde aus, die über den edeln Kern seines innersten Wesens jeden Zweifel hebt.

Die Vielseitigkeit seines Geistes drückt sich auch in seiner litteratischen Thätigkeit aus. Ein Verzeichniß derselben gibt sein Sohn in der biographischen Skizze, die dem 3. Bändchen der Gallerie der Heimwehkranken vorgesetzt ist. Wir nennen

Staatswirthschaftliche und politische Schriften: 1) „Ausführung der Rechtsamen des Gotteshausbundes über das Hochstift zu Chur“ 1755; 2) „Geschichte der in den Jahren 1761–63 zwischen Ihrer Maj. der Kaiserin Königin als Herzog zu Mailand und den 3 Bünden gepflogenen Unterhandlung“ 1764; 3) „Erweis, welcher sich auf die geistlichen und weltlichen Rechte gründet, daß keine liegende Gründe ohne Erlaubniß des Landesfürsten in todte Hände kommen können“ 1764; 4) „Graubündnerische Grundgesetze, aufs neue übersehen, und kurze historische Anmerkungen über die Landsatzungen gemeiner 3 Bünden“ 1767; 5) „Unvorgreiflicher Entwurf über eine Verbesserung des Justizwesens“ 1791; 6) „Fragmente der Staatsgeschichte des Thals Veltlin und der Grafschaften Cleven und Worms aus Urkunden“, 4 Bünde, 1792; 7) Die Druckschriften zu seiner Vertheidigung 1794: a) „Schutzschrift“, b) „Memorial“ (in der vom Sohne verfaßten biogr. Skizze abgedruckt). – Dazu kommt nun noch, erst nachträglich zum Druck befördert: 8) „Mémoire sur les Grisons“ (in Th. v. Mohr’s Archiv für Geschichte der Republik Graubünden, I. Band, 1846).

Unpolitische Schriften: 1) Reisebeschreibungen (im Bündn. „Sammler“ 1780 und 1783); 2) „Abhandlung über die berühmten Veltliner Maler“ („Sammler“ 1782); 3) „Versuch einer Beschreibung der Gebirge der Republik Graubünden (in J. C. Fäsi, Bibliothek d. schweiz. Staatskunde u. s. w. 1. Jahrg.); 4) Präsidialrede über republikanische Erziehung in den Verhandlungen der helvet. Gesellschaft 1772 und Aufsätze über Erziehung in Iselin’s Ephemeriden; 5) „Auszug aus dem 2. Briefe des H. v. Salis noch ungedruckten Briefen über das Veltlin: bei Anlaß des von der Regierung zu Mailand gemachten Entwurfs, die Adda in den untern See zu leiten“ 1787; 6) „Bildergallerie der [245] Heimwehkranken; ein Lesebuch für Leidende“, 3 Bändchen 1798, 1800, 1802 (Aufsätze in Poesie und Prosa); 7) „Hinterlassene Schriften“. 1. Bändchen Winterthur 1803 (enthält ein in Prosa geschriebenes Drama „Der eidgenössische Bund der Bewohner der Gebirge an den drei Quellen des Rheins“).

Populäre Gelegenheitsschriften: 1) „Patriotische Gespräche“ 1764; 2) „Schreiben an den Verfasser des Halles eines Eidgenossen“ 1789; 3) „Brief an alle rechtschaffenen Einwohner gemeiner 3 Bünden“ 1794.

Aus seiner glücklichen Ehe mit Barbara Nicola v. Rosenroll († 1793) hatte Ulysses v. S. zwölf Kinder, von denen ihn fünf überlebten. Der älteste Sohn, Johann Rudolf, geboren 1756, hat im „Sammler“ meteorologische Beobachtungen und einige ökonomische Aufsätze veröffentlicht; größere wissenschaftliche Verdienste erwarb sich sein Bruder, Karl Ulysses v. S.-M. (geboren 1760, † 1818), der durch seinen Aufenthalt in Süditalien 1788/89 Anregung zu eingehenden naturwissenschaftlichen Arbeiten erhielt („Beiträge zur naturwissenschaftlichen und ökonomischen Kenntniß des Königr. beider Sizilien“; 2 Bde., Zürich 1790; „Reisen in verschiedne Provinzen des Kgr. Neapel“, 1. Band, Zürich 1793), dann in die politischen Wirren mitverwickelt und vorübergehend nach Frankreich deportirt, diese unfreiwillige Muße zu ähnlichen Studien verwerthete („Streifereien durch den französischen Jura 1799 und 1800“, 2 Bde., Winterthur 1805); von 1803 an zu Marschlins in bescheidenen ökonomischen Verhältnissen seine Zeit zwischen Bewirthschaftung seines Gutes, gemeinnützige und wissenschaftliche Thätigkeit theilend, in Verbindung mit Steinmüller und Escher v. d. Linth die Zeitschrift „Alpina“ schuf und redigirte, welche in vier Bänden (1806–1809) den naturwissenschaftlichen Studien in der Schweiz kräftigen Impuls gab.

Die älteste (nicht durchweg genaue) biographische Skizze über Ulysses v. S.-M. gibt das „Denkmal der kindl. Ehrfurcht, errichtet von s. Töchtern“, Zürich 1801. Biographische Hauptquelle ist der von seinem Sohn verfaßte „Vorbericht“ des 3. Bändchens der Bildergallerie, Winterthur 1802. – Fernere Darstellungen finden sich in Lutz, Nekrologe denkwürd. Schweizer, Aarau 1812, S. 453/54; M. Schuler, Thaten und Sitten der Eidgenossen, IV. Bd. 2. Abth. Zürich 1847, S. 582–588; R. Wolf, Biographien zur Culturgeschichte der Schweiz IV, 293–295, Zürich 1862; Herold in Hunziker’s Geschichte der schweiz. Volksschule I, 225 ff., Zürich 1881. - Ueber Karl Ulysses bei Lutz, Moderne Biographien, Lichtensteig 1826 und erschöpfend bei Wolf, Biographien zur Culturgeschichte der Schweiz IV, 293–304.
Ueber Ulysses v. S. ist weiterhin, abgesehen von seinen eigenen Schriften, zu consultiren: J. A. v. Sprecher, Geschichte der Republik der 3 Bünde, 2 Bde., Chur 1872 ff. – C. v. Mohr, Geschichte von Currätien. 2. Bd. 2. Abth. Chur 1872. – Verhandlungen der helvet. Gesellschaft 1765–1772. – Morel, Die helvet. Gesellschaft, Winterthur 1883. – Der Artikel: Pädagog. Bestrebungen der helvet. Gesellsch. in Hunziker, Gesch. der schweiz. Volksschule l, 183 ff. – Keller, Das rätische Seminar Haldenstein-Marschlins in Kehr’s Pädag. Blättern, Bd. XII, Gotha 1883. – Hunziker, Schweiz. Erziehungsbestrebungen des 18. Jahrh. in Bühlmann’s Praxis der schweiz. Volks- und Mittelschule, Jahrg. 1887, S. 244 ff.