ADB:Saalschütz, Joseph Levin
[104] wo er sich eines erfolgreichen Wirkens an der israelitischen Gemeinde erfreute. Seine 1833 erschienene Gotteslehre wird noch jetzt in manchen österreichischen und ungarischen Schulen beim israelitischen Religionsunterrichte zu Grunde gelegt. Im J. 1835 kehrte er, inzwischen verheirathet, nach Königsberg als Prediger und Religionslehrer der dortigen israelitischen Gemeinde zurück. Neben seinem Amte, welches er nach dem Zeugnisse seiner Gemeindeglieder mit der größten Gewissenhaftigkeit verwaltete, betrieb er mit Eifer das wissenschaftliche Studium des hebräischen Alterthums und habilitirte sich 1847 als Privatdocent der hebräischen Archäologie an der dortigen Universität. Trotz tüchtiger und allgemein anerkannter litterarischer Leistungen gelang es ihm nicht, aus dieser Stellung in eine Professur aufzurücken. Er starb als Privatdocent am 23. Aug. 1863. (Nach Mittheilung des Bibliothekars Dr. Reicke in Königsberg aus R. Reusch, Unterhaltungen des literarischen Kränzchens in Königsberg I, 3, 1865, S. 31.) Ein Sohn des Verstorbenen, Dr. Louis S., ist gegenwärtig prof. extraord. der Mathematik zu Königsberg.
Saalschütz: Joseph Levin S., am 15. März 1801 in Königsberg in Preußen geboren, fand auf einem der dortigen Gymnasien und auf der Universität daselbst seine wissenschaftliche Ausbildung. Im J. 1824 ward er als der erste Bekenner mosaischer Religion von der Albertina zum Dr. phil. promovirt. Nachdem er 3–4 Jahre an der israelitischen Gemeindeschule zu Berlin beschäftigt gewesen, ward er als Prediger und Religionslehrer nach Wien berufen,Saalschütz’s Erstlingsarbeit handelte „Von der Form der hebräischen Poesie“ 1825: ein Gegenstand, welchen er später (1853) einer nochmaligen ausführlicheren Bearbeitung unterzog in einer Schrift, betitelt: „Form und Geist der biblisch-hebräischen Poesie“. Wie so manche vor ihm und nach ihm ließ sich S. durch die Aeußerungen bei Philo[WS 1], Josephus[WS 2] und den Kirchenvätern dazu verleiten, bei den Hebräern ein den antiken Metren verwandtes rhythmisches Gesetz zu suchen. Wenn sein System sich als unhaltbar erwies, so darf er sich zahlreicher Leidensgenossen getrösten, da wir bis jetzt hinsichtlich dieser Frage noch zu sehr wenig sicheren Erkenntnissen gelangt sind. Allerdings sind Saalschütz’s Aufstellungen von besonderer Willkür. Er erkannte als metrisch geschriebene Stücke: Psalmen, Hiob, Ex. 15, Dt. 32, Spr. 31, Jes. 5, Kl. Jer. – Den Psalmen schrieb er Metren von 3–6 Füßen zu, Hiob nannte er hexametrisch, in Ps. 119, Jes. 5, Spr. 31 wechseln hexametrische und pentametrische Verszeichen, Dt. 32 hat Hexameter von 16 Silben (!). Er fand in diesen Dichtungen auch jambische Verse und, wie er sich unklar ausdrückte, Verse mit alkäischem[WS 3] und sapphischem[WS 4] Klange. Bei der Scandirung dieser Verse muß nun aber die massoretische Vocalisation und Accentuation d. h. also die einzige Ueberlieferung der Aussprache, welche wir haben, ganz aufgegeben werden und an ihre Stelle tritt die – polnisch-deutsche Aussprache (! !) des Hebräischen, als angeblich durch die Analogie des Arabischen unterstützte. Danach rhythmisch gemessene Musterbeispiele kann man auf S. 38 ff. des letztgenannten Buches finden, welche die schreiende Willkür dieses ganzen Systems vor Augen stellen, das mit Längen und Kürzen nach Belieben umspringt, Hexameter baut, aus denen man mit Leichtigkeit jambische oder trochäische Verse zurechtdrehen könnte, Vorschlagssilben nach Bedarf rechnet oder wegläßt. Entschuldigt wird dieser Wirrwarr mit dem „kühnen und leidenschaftlichen Charakter der hebräischen Dichtung, der nicht das enge Band sorgsam gemessener Verse vertrage“, ohne daß doch der Verfasser die auf der Hand liegende Folgerung zöge, daß eben deshalb von einem quantitirenden Rhythmus nicht die Rede sein kann. – Im Zusammenhange mit diesen Studien stand: „Die Geschichte und Würdigung der Musik bei den Hebräern“ 1829 (s. vollst. Titel bei Winer, Handbuch der theol. Lit. I, 145), deren Resultate der Verfasser in sein archäologisches Hauptwerk hineingearbeitet hat. Dieses, „Archäologie der Hebraeer“, in zwei Theilen 1855–56 erschienen, geht im ersten Abschnitte aus von der körperlichen Bildung des Israeliten, beschreibt sodann Kleidung, Nahrung, Wohnung, um in einem zweiten Abschnitte sich über die Lebensweise, die Beschäftigungen (Viehzucht, Ackerbau, Handwerke etc.), Handel, Schiffahrt zu verbreiten. Der dritte Abschnitt betrifft Religion, Cultus und Sittlichkeit, der [105] vierte Künste, der fünfte Schrift, Litteratur im allgemeinen, der sechste die einzelnen Wissenschaften, der siebente Geselligkeit, Mahlzeiten, Trauergebräuche, Geld und Maße, der achte Familie, Erbrecht, der neunte Städte, der zehnte Rechtspflege, der elfte Feste, Priester, Aberglauben und der zwölfte politische Einrichtungen. Ueber die Zweckmäßigkeit dieser Disposition dürften vielleicht berechtigte Zweifel entstehen. Man wird aber für diesen Mangel entschädigt durch einen außerordentlichen Reichthum an Stoff, welchen der Verfasser in selbständigen Studien gesammelt und besonders durch Heranziehung der jüdischen Tradition, sowie auch reichhaltiger anderweiter Litteratur zur Aufhellung vieler Punkte verwerthet hat, so daß, wenn auch vom Standpunkte neuerer historischer Kritik aus gar Manches zurechtgestellt werden muß, doch das Buch auch jetzt noch immer als eine Fundgrube nutzbaren Materials zu Rathe gezogen zu werden verdient (vgl. auch Diestel, Gesch. des Alten Testaments, S. 580). Wie sehr den Verfasser auch nach der Veröffentlichung dieses gründlichen Werkes die archäologischen Fragen beschäftigten, zeigt die Abhandlung „Ueber Inhalt und Disposition einer Archäologie der Hebräer“ (in Zeitschrift der deutschen morgenl. Gesellsch. Bd. XIII (1859), S. 261–267), welche zum Theil eine oratio pro domo hinsichtlich des von ihm im obengenannten Werke beobachteten Verfahrens enthält, die aber nicht überall glücklich ist. Denn wenn z. B. der Verfasser behauptet, die Archäologie müsse wie die Bibel selbst vom Individuum ausgehen, so vergißt er, daß die Untersuchungen über Körperbeschaffenheit, Kleidung etc. nichts Individuelles, sondern etwas Gemeinsames betreffen. Schwerlich dürfte er auch Beistimmung finden, wenn er die biblische Theologie mit in die Archäologie hineinziehen will. – Außerdem gehören diesem Forschungsgebiete noch folgende einzelne, jetzt veraltete Arbeiten Saalschütz’s an: „Prüfung der vorzüglichsten Ansichten von den Urim und Thummim“ (Illgen’s Zeitschrift f. histor. Theol., Bd. III, 1824); „Forschungen auf dem Gebiete der hebräisch-ägyptischen Archäologie“ 1838, 1849 (I. Zur Geschichte der Buchstabenschrift, II. Zur Kritik Manetho’s[WS 5], III. Die manethonischen Hyksos). Zum Gegenstande der Abhandlung I der genannten Schrift gehörte auch der Aufsatz: „Ueber die Hieroglyphen-Entzifferung“ 1851). – Das größte Verdienst hat sich aber S. dadurch erworben, daß er die Arbeit von Joh. David Michaelis (1785) wieder aufnahm in seinem Werke: „Das mosaische Recht mit Berücksichtigung des spätern jüdischen“, 2 Thle., 1848 (die 2. Aufl. 1853 ist fast unverändert; vgl. Theol. Lit.-Bl. 1854, Nr. 21, 22; Heidelb. Jahrb. 1854, Nr. 45, 46. Wir citiren daher nach der uns zugänglichen 1. Ausgabe). Das Ganze zerfällt in zwei Haupttheile: I. Das öffentliche Recht und II. Das Privatrecht. Bei jenem beginnt der Verfasser im ersten Abschnitte mit der Darstellung der sogenannten mosaischen Staatsverfassung: der Organismus des Volkslebens, die verfassungsmäßige Vertretung der Nation, die Beamtenschaft, das Rechtswesen, die Stellung des Königs, des Priesterthums, der Propheten, die Fortpflanzung des Gesetzes werden geschildert. Ein zweiter Abschnitt beschreibt die Landesverwaltung, die Besitzverhältnisse, die Institutionen der Sabbath- und Jubeljahre[WS 6], der Frei- und Erlaßjahre, den Schutz des Grundbesitzes, den Handel, die Handwerke, die Gesetze über Maß und Gewicht, die Gesundheitspolizei, die Gesetze über Beschneidung, Reinheitsgesetze u. a. Der dritte Abschnitt umfaßt die Cultusgesetze und Festgesetze, der vierte das Strafrecht, der fünfte die Proceßordnung, der sechste das Völker- und Kriegsrecht. – Das Privatrecht beginnt mit dem Personenrecht, geht dann über zum Familienrecht und schließt mit dem Vermögensrechte. In dem Texte ist fast ausschließlich das biblische Material verwendet, aber in den sehr reichhaltigen Anmerkungen und Excursen ist in eingehendster Weise das talmudische Recht herangezogen und in der Ausnutzung dieses Stoffes liegt ein [106] bedeutender Fortschritt über Michaelis hinaus. Auch ist der Verfasser nach dieser Seite hin bis jetzt noch nicht übertroffen worden. Der erste Theil zieht zwar sehr viel archäologischen Stoff in die Darstellung hinein, so daß zur Behandlung des eigentlichen Rechtes der Verfasser erst mit S. 438 gelangt. Indessen dieses Zuviel läßt man sich bei dem Lehrreichen des Inhaltes gern gefallen. Mehr ins Gewicht fallen folgende Mängel: Erstens ein gewisser apologetischer Zug, der durch das Ganze geht, nach welchem der Verfasser sich beständig bemüht darzuthun, daß diese Gesetze so grade schön und gut gewesen seien oder nach welchem er die Mängel derselben der modernen Reflexion gegenüber zu beschönigen oder zu vertuschen sucht, vgl. z. B. S. 463, 484, 646–653 u. dgl. m. Auf diese Weise gewinnt das Ganze die Form eines Plaidoyers zu Gunsten der mosaischen Gesetzgebung, während doch eine gesunde historische Betrachtung darauf ausgehen muß, die Dinge aus ihrer Zeit heraus zu würdigen. Zweitens fehlt es dem Verfasser an jeder historischen Kritik. Er ist überzeugt, daß Moses alle diese Gesetze gegeben habe und daß gleich nach der sinaitischen Promulgation das israelitische Volksleben danach geregelt sei. Davon, daß diese Gesetze den Endpunkt der historischen Entwicklung Israels bilden, kommt dem Verfasser auch nicht die leiseste Ahnung (vgl. Bd. I, S. XXVIII ff.). Infolge dessen kann es zu keinem Verständniß des legislatorischen Bildungsprocesses kommen. Das ganze Corpus juris ist wie ein Stein vom Himmel gefallen und läßt aus sich das organisirte Volk Israel hervorgehen. während doch Gesetze vielmehr Erzeugnisse, beziehungsweise Versteinerungen der lebendigen Volkssitte sind, aus der sie hervorgingen. Doch sieht man davon ab, daß die Geltung dieses gesetzlichen Systemes in Altisrael lediglich eine Fiction ist, so kann man in Bezug auf das Verständniß desselben an sich in dem Verfasser einen trefflichen Berather finden. – Kleinere Arbeiten desselben Gebiets waren die Schriften: „Das Königthum vom israelitisch-biblischen Standpunkt“ 1852 und „Der Geist der Versöhnlichkeit im biblischen Staatswesen und Königthum“ 1853. Beim letzteren verräth schon der Titel die apologetische Tendenz: „Zur Geschichte der Unsterblichkeitslehre bei den Hebr.“ (Illgen a. o. O. Bd. I, H. 3 u. 4). – Eben dahin gehört die in einem milden Geiste geschriebene Schrift: „Zur Versöhnung der Confessionen oder Judenthum und Christenthum in ihrem Streit und Einklang“ 1844. – Speciell für die israelitische Gemeinde waren die Schriften bestimmt: „Repetitionsbüchlein der israelitischm Religions- und Sittenlehre“ 1859 und „Das Gebetbuch der Synagoge“ 1859.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Philon von Alexandria (10/15–40), jüdischer Philosoph
- ↑ Flavius Josephus (37 oder 38–100), jüdischer Historiker des 1. Jahrhunderts
- ↑ Alkäus von Mytilene(630 v. Chr. – 580 v. Chr.), antiker griechischer Lyriker
- ↑ Sappho (630/612 v. Chr. – ca. 570 v. Chr.), antike griechische Dichterin und Philosophin
- ↑ Manetho, Priester aus Sebennytos in Unterägypten, drittes Jahrhundert vor Christus
- ↑ Jubeljahr, eine Art „Heiliges Jahr“, in dem u. a. alle Schulden verfielen