ADB:Rieß, Peter Theophil
Poggendorff, ein Menschenalter hindurch der Mittelpunkt eines großen Kreises von Gelehrten, die daselbst Erholung von den [585] Anstrengungen der Berufsgeschäfte und vielseitige geistige Anregung suchten und fanden. In seiner Jugend verkehrte er viel mit Alexander v. Humboldt. Die Mathematiker Lejeune-Dirichlet, Jacobi, Steiner, die Physiker Dove, M. Jacobi, Magnus, Poggendorff, Moser; die Chemiker Eilh. Mitscherlich, H. Rose und dessen Bruder der Mineraloge G. Rose waren seine Zeitgenossen und Freunde, die er, trotz seiner in der Jugend zarten Gesundheit, alle überlebt hat. Aber auch die jüngeren Fachgenossen und mancher fremde Gelehrte fanden bei ihm gastliche Aufnahme und fühlten sich bei ihm heimisch. Lebhaft in der Unterhaltung trat er mit scharfem Verstande und schlagendem Witz für alles ein, was er für gut, wahr und recht hielt und diese geistige Frische bewahrte er bis in sein hohes Alter. Nach kurzem Krankenlager starb er, betrauert von seiner Familie und zahlreichen Freunden im 79. Lebensjahr.
Rieß: Peter Theophil R., geboren am 27. Juni 1804 zu Berlin (nicht 1805, wie irrthümlich in Poggendorff’s biogr.-litt. Handwörterbuch steht), † am 22. October 1883 ebendaselbst, war der Sohn eines geachteten Juwelenhändlers, der durch sein Geschäft zu großem Wohlstand gekommen. Seine Schulbildung genoß R. auf dem Gymnasium „zum grauen Kloster“, bezog dann 1824 die Berliner Universität, an welcher er sich mit Vorliebe dem Studium der Physik widmete. 1831 erwarb er sich den Doctorgrad („Diss. de telluris magnetismi mutationibus diurnis et menstruis“). Nach Neigung und Befähigung hätte R. unter andern Umständen die akademische Laufbahn eingeschlagen, es war ihm sogar schon wenige Jahre nach seiner Promotion die ordentliche Professur für Physik an der Universität Breslau angetragen worden. Doch lehnte er diesen Antrag ab, zunächst um seinem kranken Vater nahe zu bleiben und denselben in seiner geschäftlichen Thätigkeit unterstützten zu können. Aber auch nach dem Tode des Vaters zog er es vor, unabhängig zu bleiben und seine ganze Zeit der freien, wissenschaftlichen Thätigkeit zu widmen, statt sich durch Amtsgeschäfte zu binden. So hat R. niemals physikalische Vorlesungen gehalten. Aber als Gelehrter hat er eine außerordentliche Thätigkeit entwickelt und mit seiner reichen Begabung, unterstützt durch die ihm zu Verfügung stehenden Mittel, während seines langen Lebens mit großem Erfolge an der Förderung der Physik gewirkt. Die Ergebnisse seiner Forschungen sind größtentheils in Poggendorff’s Annalen und in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie veröffentlicht. Von dieser Akademie war R. 1842 zum ordentlichen Mitgliede erwählt worden, welche Wahl noch dadurch bemerkenswerth ist, daß R. das erste jüdische Mitglied der Akademie wurde und als solches gegen den Willen des damaligen Ministers vom Könige bestätigt ward. Uebrigens trat, wie hier bemerkt werden mag, R., welcher in seiner Studienzeit ein Anhänger Hegel’s geworden war, in späteren Jahren mit seiner ganzen Familie zum Christenthum über. Neben der Pflege seiner Lieblingswissenschaft bewahrte sich R. bis in das höchste Alter die regste Theilnahme für Geschichte, Litteratur, Kunst und Musik. Sein Haus war, ähnlich wie das seines FreundesR. hat sich vorzugsweise mit Reibungselektricität beschäftigt. Wohl alle Erscheinungen auf diesem Gebiet hat er selbst beobachtet und kritisch geprüft. Zu einer Zeit, in welcher nur erst höchst mangelhafte öffentliche Sammlungen physikalischer Instrumente bestanden (die Berliner Universität hatte bis zu G. Magnus’ Tode kaum eine eigene Sammlung) hatte R. aus eigenen Mitteln sich die besten Apparate für seine Untersuchungen beschafft. So konnte er nicht nur die von andern Forschern angegebenen Versuche wiederholen, sondern er stellte zahlreich neue Thatsachen fest, gab neue Methoden an und führte seine Untersuchungen mit außerordentlicher Genauigkeit und Zuverlässigkeit durch. Wenn die theoretischen Ansichten, welche R. geltend zu machen suchte, nicht überall anerkannt wurden, so werden seine Beobachtungen sich stets als vollkommen sicher erweisen. Die bis etwa 1852 in vielen einzelnen Abhandlungen enthaltenen Untersuchungen faßte R. in einem größeren Werke: „Die Lehre von der Reibungselectricität“, Berlin 1853, 2 Bände, zusammen. Dies hervorragende Werk soll zwar, wie R. im Vorwort ausdrücklich betont, kein vollständiges Lehrbuch der Reibungselektricität sein, sondern vornehmlich nur die eigenen Erfahrungen darstellen. In Wirklichkeit aber enthält es, weil eben R. eine sehr umfassende Prüfung der damals bekannten Thatsachen vorgenommen hatte, wol alle wesentlichen Erfahrungen. Später hat R. noch zwei Mal, 1867 und 1879, unter dem Titel: „Abhandlungen zur Lehre von der Reibungselectricität“ seine neuen Untersuchungen zusammengestellt.
Außer mit der Reibungselektricität hat sich R. auch mit dem Magnetismus beschäftigt und waren dies, im Anschluß an seine Dissertation, seine ersten Arbeiten. Dann hat er mit G. Rose Untersuchungen über die Pyroelelektricität angestellt. Endlich besitzen wir von ihm einige Arbeiten aus der Optik (Phosphorescenz des Diamanten u. A.) und Akustik (Tonerregung in Röhren durch Flammen). Die Rieß’schen Arbeiten über Reibungselektricität haben nicht nur zur genauen Feststellung bekannter Erscheinungen, sondern zur Erkenntniß neuer Gesetze geleitet, das Verständniß früher unerklärter Beobachtungen herbeigeführt und die Uebereinstimmung des elektrischen und galvanischen Stromes nachgewiesen. Hervorzuheben sind hier 1) „Die Untersuchungen über die Anordnung der Elektricität auf Leitern“; 2) „Die Erscheinungen der Influenz, an welche sich die Theorie der Elektrophor- und Influenzmaschinen knüpfte“; 3) „Die Messung der Wirkung elektrischer Entladungen durch das von ihm für diesen Zweck ausgesonnene Luftthermometer, mittelst dessen er die gleichmäßige Gültigkeit des Widerstandsgesetzes für elektrische wie für galvanische Ströme bewies“; 4) „Die Arbeiten über die Induction der elektrischen Entladung nebst den Erörterungen über Rückschlag und Seitenentladung, welche von praktischer Bedeutung bezüglich der Blitzschläge geworden sind.“
Der Name R. wird immer mit der Entwicklung der Elektricitätslehre im [586] allgemeinen und der der Reibungselektricität im besonderen verbunden sein. Die Anerkennung gelehrter Gesellschaften hat R. nicht gefehlt, so war er u. A. Mitglied der Akademien zu Petersburg (1856), Göttingen (1856), München (1872); 1878 wurde er von der Universität Pavia zum doctor honoris causa ernannt.
Ein fast vollständiges Verzeichnis der gedruckten Abhandlungen von R. enthält der Katalog der Royal Society, welcher unter dem Namen P. T. Ries 98 Nummern, bis 1873 reichend, aufzählt. Später sind noch einige Abhandlungen in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie und die letzte: „Ueber elektrische Schatten“, in Wiedemann’s Annalen Band XV 1882 erschienen.
- Poggendorff, Biogr.-litter. Wörterbuch II, 642. – Leopoldina XIX, 219. – Sitzungsberichte der k. b. Akademie zu München XIV, 241 (1884), woselbst zu dem von Beetz verfaßten Nachrufe für R. Mittheilungen des Schwiegersohnes desselben, des Professors G. H. Quincke in Heidelberg, Verwendung fanden, welche auch im obigen benutzt werden konnten.