ADB:Reuß, Ferdinand Friedrich von
[1] in Tübingen geboren, woselbst sein Vater Christian Friedrich R. Professor war. Nachdem er seine erste Erziehung im elterlichen Hause erhalten, bezog er die Universität zu Tübingen, um Medicin zu studiren, und erwarb sich 1800 hier die Würde eines Lic. med. Dann wandte er sich nach Göttingen, woselbst seines Vaters Bruder Professor und Oberbibliothekar war, setzte seine Studien fort und wurde 1801 Dr. med. et chir. und gleichzeitig Privatdocent für allgemeine medicinische Chemie. Durch eine Untersuchung der Lymphe, welche R. in Gemeinschaft mit Emmert vornahm (Chemische Untersuchungen der Lymphe des Pferdes von R. und Emmert in Scherer’s allgemein. Journal VI. Bd.), wurde R. bald bekannt. Wahrscheinlich war diese Arbeit die Veranlassung, daß er von der kaiserlichen Universität zu Moskau einen Ruf erhielt. Am 17. Februar 1804 traf R. in Moskau ein, wurde anfangs als außerordentlicher Professor der Chemie angestellt, aber bereits 1808 zum ordentlichen Professor ernannt; in diesen Amt blieb er bis zum Jahre 1832. Daneben war er von 1817–1839 Professor der Chemie und Pharmakographie an der Moskauer Abtheilung der [306] kaiserlichen medico-chirurgischen Akademie. Einige Jahre leitete er eine Apotheke, seit 1822 verwaltete er das Amt eines Universitätsbibliothekars und war zugleich Mitglied des Universitätsschulcollegiums. Außerdem war R. von 1804–1822 Secretär, von 1822 ab Präsident der physikalisch-medicinischen Gesellschaft, ferner seit 1821 Kirchenältester der lutherischen St. Michaelgemeinde, seit 1829 Director des Moskauer Gefängnißcomités, seit 1833 Glied, seit 1838 Präsident des evangelischen Consistoriums zu Moskau. R. war ein außerordentlich gelehrter und überaus thätiger Mann; ein ausgezeichneter Kenner der alten Sprachen; eine Zeit lang hielt er philologische Vorlesungen über die Werke des Celsus, um die Hörer der medico-chirurgischen Akademie im Lateinischen zu üben. Seine Vorträge über Chemie hielt er in lateinischer Sprache, klar, übersichtlich und verständlich. Bemerkenswerth ist in dieser Hinsicht eine 1818 verfaßte Rede: „Oratio de antiquorum nominum praestantia deque studii litterarum antiquarum praecipue vero latinarum utilitate incredibili“. – Doch nicht allein als Lehrer war er eifrig, auch auf anderen Gebieten entwickelte er eine rastlose Thätigkeit. Er leitete die Ueberführung der Universitätsbibliothek in neue Räumlichkeiten, ordnete die Bücher und gab einen Katalog in drei Bänden heraus nebst einem Schlüssel dazu („Ordo Bibliothecae Universitatis Caesareae Mosquensis conditus a F. F. Reuss“ 1826). Eine große Sorgfalt widmete er auch den Arbeiten und Sitzungen der physikalisch-medicinischen Gesellschaft, wobei er namentlich sich um die Herausgabe der Schriften (Commentationes Societatis physico-medicae) bemühte. Im J. 1839 ließ R. sich pensioniren, kehrte in seine Heimat zurück und ließ sich in Stuttgart nieder, woselbst er am 14. April 1852 starb. R. war mit der Tochter des Moskauer Professors Keresturi verheirathet. –
Reuß: Ferdinand Friedrich v. R., wurde am 18. Februar 1788Trotz der vielseitigen und angestrengten Beschäftigungen war R. auch für die Wissenschaft in erfolgreicher Weise thätig: eine Reihe litterarischer Arbeiten legt davon Zeugniß ab. Seine Arbeiten sind fast alle in den erwähnten Commentationes in lateinischer Sprache abgedruckt; die darin enthaltenen wissenschaftlichen Resultate sind langsam und sehr spät an die Oeffentlichkeit gedrungen. Von weitgehendem Interesse sind vor allem Reuß’ Versuche über die Einwirkung des elektrischen Stroms auf Flüssigkeiten. Die ersten Notizen darüber finden sich in den Berichten über die Sitzungen der physikalisch-medicinischen Societät (Comment. Societ. physic.-med. Mosqu. Vol. I Part. I 1808), woselbst R. die Resultate seiner Forschungen mitzutheilen pflegte. Darunter sind zu nennen: Neue Versuche über die Veränderung (Metamorphosis) des Wassers durch die galvanische Elektricität, 7. April 1806; Beschreibung der chemischen Wirkung der galvanischen Elektricität, 10. März 1807; Mittheilung über eine neue, bisher unbekannte Wirkung der galvanischen Elektricität, 5. November 1807. Ausführlicher handelt R. darüber in „Effectuum chemicorum electricitatis galvanicae historia“ (Comment. Soc. physico-med. Mosqu. Vol. I Part. I. 1808) und „Notice sur un nouvel effet de l’électricité galvanique“ (Mem, de la societé Imp. des Naturalistes de Moscou. Tom. II, 1809). R. beobachtete unter anderem, daß infolge des galvanischen Stromes – im Wasser suspendirte Theilchen in einer dem Strom entgegengesetzten Richtung fortgeführt werden. Diese Thatsache wurde erst viel später 1860 durch Jürgenson aufs neue entdeckt. R. ist auch der eigentliche Entdecker der sogenannten elektrischen Endosmose oder der Elektrotransfusion: Wird die von einem galvanischen Strom durchzogene Flüssigkeit an irgend einer Stelle durch eine poröse Wand unterbrochen, so bewegt sich die Flüssigkeit durch die Wand in der Richtung des positiven Stromes hindurch. R. nannte das Motus stoechiagogus. Das Experiment wurde später von Porret ohne wesentliche Abänderung wiederholt und erhielt den Namen Porret’sches Phänomen; es müßte eigentlich Reuß’sches Phänomen genannt werden. [307] Die hierauf bezüglichen Beobachtungen Reuß’ sind niedergelegt in einer Abhandlung: „Ueber die potestas oder vis hydragoga der galvanischen Elektricität und ihre Betheiligung bei verschiedenen Naturerscheinungen“ (Comment. Societ. physico-medic. Vol. II Part. II Mosqu. 1821). Hierher gehört auch die in demselben Band enthaltene Arbeit: Reuß’ und Loewenthal’s physikalisch-chemische Versuche über den animalischen Magnetismus und anatomisch-physiologische Untersuchung der Kräfte, welche das Blut bewegen, wobei bewiesen wird, daß die Hauptkraft die potestas hydragoga der Elektricität ist. –
Ferner hat R. eine Anzahl von Abhandlungen medicinischen Inhalts verfaßt; es seien hier genannt: „Kurze Anleitung zur Anwendung der neuen sicheren Mittel zur Verhütung der Ansteckung der Pest, der pestartigen Fieber und anderer ansteckender Krankheiten“, Moskau 1810 (ist auch in russischer Sprache erschienen). „Theoremata de miasmatum contagiosorum origine, natura et effectibus“ (Comm. Soc.physic.-méd. Mosqu. Vol. I Part. II 1811). „Nouvelle analyse du principe febrifuge de quinquina“. Moscou 1810. Die ganze Auflage dieser Schrift verbrannte 1812 in Moskau und deshalb wurde die Abhandlung noch einmal in den Schriften der physik.-med. Gesellschaft (Vol. II Part. II Mosqu. 1817) abgedruckt. In deutscher Sprache ist die Abhandlung in Crichton’s, Rehmann’s und Burdach’s Russischer Sammlung (II. Bd. Riga-Leipzig 1817) erschienen. „Description et Analyse chimique des eaux minérales des Séménovskoje“, Moscou 1811. Derselbe erste Theil des zweiten Bandes der Schriften enthält auch die Resultate von Versuchen, welche sich auf Pharmacie beziehen, darin über den Liquor magnesiae carbonicae und über Natrum supercarbonicum. Der zweite Theil des zweiten Bandes Moskau 1821 enthält unter anderem: Ueber die Wirkung verschiedener Mittel, insbesondere der Scutellaria laterifolia gegen Wasserscheu. Das im J. 1830 herausgegebene Bulletin de la Soc. physico-médicale enthält: Ueber die Heilkraft des Geranium scabrum; über die erstaunliche Wirkung des schwefelsauren Kupfers gegen Croup; über das Asthma acutum periodicum Millari. Ferner verfaßte R. eine besondere Schrift: „Der Gebrauch des Chlors als Schutz gegen die Cholera“. Moskau 1830 (in russischer Sprache).
Unter den verschiedenen öffentlichen Reden, welche R. gehalten, hebe ich folgende hervor: De incendiis spontaneis eorumque legibus et causis oratio, 1809; de studiorum Academicorum rectius instituendorum prosperius celebrandorum et felicius absolvendorum ratione, 1809; Memoria coronationis et sacrae unctionis Imperatoris ac domini nostri Nicolai primi 12. Januar. 1827. Eine Gedächtnißrede auf den verstorbenen Professor der Geburtshilfe W. Richter 2. October 1822 (Comm. Soc. Vol. III Part. I 1823).
- Biogr. Lexikon der Professoren und Lehrer der Mosk. Universität Bd. II. Moskau 1855, S. 329–340 (russisch).
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 305. Z. 16 v. u. l.: 1778. [Bd. 45, S. 670]