ADB:Rückert, Leopold Emanuel
Rudolph nachhaltig auf ihn wirkte, seit 1814 die Universität Leipzig, wo er Theologie und Philologie studirte. Die Dogmatik, wie sie damals in Leipzig vorgetragen wurde, erst das systema biblicum und ihm gegenüber die sententia rationalistarum ohne Entscheidung und höhere Einheit, diese tiefste Tiefe der Dogmatik, hat ihn, den auf Systematik Angelegten, kalt gelassen, zugleich aber auch veranlaßt, in seiner Erstlingsschrift „de ratione tractandae theologiae dogmaticae“ (1821) zu handeln. Nach bestandener Candidatenprüfung in Dresden (1817) lebte er als Privatlehrer in der Niederlausitz, hierauf in Jüterbog, hier, nach Ablegung des Examen pro ministerio in Berlin, zugleich ein vacantes Predigeramt verwaltend. Im October 1819 übernahm er das Diakonat seines Geburtsortes. Sein sehnliches Verlangen nach akademischer Lehrthätigkeit, infolge seiner Mittellosigkeit hoffnungslos, drückte ihm die Feder in die Hand, das Ideal eines akademischen Lehrers zu zeichnen, der nicht bloß Gelehrter, sondern auch Philosoph wäre. Denn Liebe zur Wahrheit ist der einzige Weg zur Ueberzeugung („Der academische Lehrer, sein Zweck und Wirken“, 1824, und „Offene Mittheilungen an Studirende über Studium und Beruf“, 1829). Wie einen Ersatz für das akademische Katheder nahm er 1825 die ihm angetragene Stelle eines Subrectors (nachmals mit dem Titel Conrector) am Gymnasium in Zittau an, wo ihn die Verhältnisse zum Unterricht nicht bloß in den humanistischen, sondern auch in allen realistischen Fächern (Mathematik, Physik, Chemie, Astronomie) zwangen. Er hat als Gymnasiallehrer seinen Freundschaftsbund mit Plato geschlossen und sich ruhmvoll eingeführt in die Reihe der neutestamentlichen Exegeten. Seine Verdienste anerkannte die theologische Facultät in Kopenhagen durch Verleihung des Ehrendoctorates (1836), Jena durch seine Berufung zu der durch Baumgarten-Crusius’ Tod erledigten Professur, welche er am 25. October 1844 mit einer Rede de officio interpretis Novi Foederis antrat. Er hat sein akademisches Lehramt mit seltener Energie und unermüdlichem Fleiße verwaltet, unter den Ersten die Vorlesungen beginnend, als der Letzte sie schließend. Er hat den Studirenden durch seine mitunter rauhe Originalität zu imponiren verstanden, ist ihnen in privatem Umgang näher getreten, hat sie auch zum Werke der äußeren Mission angehalten und zur Armenpflege angeleitet. Er hat außerdem alle der theologischen Facultät im Stadtgottesdienst vorbehaltenen Predigten übernommen und ist, so oft es verlangt wurde, für erkrankte Pfarrer eingetreten. Sünde und Erlösung waren sein Grundthema, das er an den großen Buß- und Bettagen zu erschütternder Geltung brachte. In seinen Festpredigten kam nicht immer der besondere Festcharakter zum vollen Ausdruck. Die Ehren, welche Jena seinen Professoren zu bieten pflegt, mit Ausnahme der von ihm verschmähten Orden, wurden ihm zu Theil. Er erhielt den Titel Kirchenrath, [574] später Geheimer Kirchenrath und bei seinem fünfzigjährigen Amtsjubiläum ein goldenes Bischofskreuz mit der Legende „Ein’ feste Burg ist unser Gott“. Seine Bibliothek, sein Haus und das sonst ersparte Vermögen hinterließ er, verwittwet und kinderlos, der Universität, den Studirenden und den Armen. Er starb nach längeren Leiden am 9. April 1871 und ist am 11. April ohne Leichenrede, wie ers angeordnet, beerdigt worden.
Rückert: Leopold Emanuel R., geboren zu Großhennersdorf bei Herrnhut in der Oberlausitz, besuchte seit 1809 das herrnhutische Pädagogium zu Niesky, seit 1812 das Gymnasium in Zittau, dessen DirectorR. ist auf zwei Gebieten bedeutsam und eigenthümlich hervorgetreten, auf dem der neutestamentlichen Exegese und dem der systematischen Theologie. Er hat über die üblichen neutestamentlichen Schriften Vorlesungen gehalten, auch über das Johannes-Evangelium. Aber um dieses Evangelium seinen Zuhörern nahe zu bringen, dazu fehlte ihm die geistige Gleichgestimmtheit. Zudem war er seit 1841 aus einem Bekenner der entschiedenste Gegner der Authentie, und zwar nicht auf dem Wege des Leichtsinns oder Unglaubens, sondern aus Gründen geworden. Für einen unmittelbaren Jünger, zumal Lieblingsjünger war es unmöglich, daß er in späterer Zeit Denkformen sich aneignete, die seinem Meister vollkommen fremd gewesen waren. Als Lieblingsjünger mußte er in der genauesten Kenntniß dessen sein, was geschehen ist. Aber im vierten Evangelium kommen Begebenheiten vor, die wir schlechthin nicht als geschehen denken können. Ganz anders stand R. da als Ausleger des Apostels Paulus. Hier traf er auf eine ihm wahlverwandte Individualität, deren Gedankengang zu verfolgen ihm Freude und Befriedigung gewährte. Sieben paulinische Briefe (1. Thess., Galat. 1. u. 2. Kor., Röm., Phil., Philemon.) hat er für zweifellos echt gehalten, vier davon, den Römerbrief (1831, 2. Aufl. in 2 Bänden 1839), den Galaterbrief (1833), die beiden Korintherbriefe (1836 u. 37) commentirt. Sein Commentar zum Epheserbrief erschien 1834. Ein 1838 begonnenes „Magazin für Exegese und Theologie des Neuen Testaments“, gemeint als Vorrathskammer für künftige Bedürfnisse, ist mit der ersten Lieferung wieder eingegangen. R. hat gefordert, daß die Auslegung philologisch, bündig, methodisch und vor Allem unbefangen sei. Er hat sich auf das Stärkste dagegen erklärt, daß der Autor in das Procrustesbett der Dogmatik, sei es der eignen, sei es der kirchlichen, gelegt werde. Seine Auslegung will das gerade Gegentheil aller dogmatischen Exegese sein. Er fand die letztere unter den Neueren z. B. bei Luthardt wieder, dessen Erklärung des Johanneischen Evangeliums ihm als Antwort auf die Frage erschien: wie würde Johannes schreiben, wenn er Luthardt wäre. Allgemein wurde an Rückert’s Commentaren der auf gründlicher Sprachkenntniß und scharfem Urtheil beruhende richtige Takt der Erklärung und der gemessene Gang, in welchem sie fortläuft, gerühmt, wenn man auch seine bisweilen an Gleichgültigkeit grenzende Unbefangenheit und seine oftmalige Flucht in das Asylum ignorantiae nicht gut heißen mochte. Mit einem „Wir wissen’s nicht“, mit diesem Trost der lieben Unwissenheit könne kein Ausleger durchgelassen werden. Weil nun R., eindringend in die Eigenthümlichkeit und Tiefe des paulinischen Geistes, mehr und Anderes bei Paulus fand, als die verflachende Exegese des Rationalismus, so erregte er den Unwillen seiner Häupter. Dr. Paulus hat ihm vorgehalten, er gehe von dem Vorurtheile und der Neigung aus, in den Briefen des Paulus womöglich die beschränkten Vorstellungen der Kirchenväter (patristische Mißbegriffe) zu finden. Anstatt den Aposteln eine schlichte, unverkünstelte Rationalität zuzutrauen, bekunde er eine unglückliche Scheu, die Bibel nicht vorurtheilsloser bleiben zu lassen, als die Ethnicität der Kirchenväter und dann die Subtilität der Dogmatiker sie umgedeutet hat. Fritzsche (s. Bd. VIII, S. 121) schleuderte ihm das Wort entgegen: Timeat, timeat Rueckertus celeripedem Nemesin; non enim dubito, quin, si iustum [575] aliquando censorem nactus fuerit, in aerarios referatur; tam pleni sunt eius commentarii festinationis, levitatis, erroris, perversae argumentationis et inanis loquacitatis. Dagegen lobten ihn gläubige Theologen, wie Tholuck und Rothe, als Förderer einer gründlichen und christlichen Exegese. Stahl, der theologische Jurist, zollte ihm Beifall, weil er Paulum zum Lutheraner mache. Weil aber R. andrerseits den jüdischen Standpunkt des Apostels Paulus hervorhob, in seinen Briefen hie und da die gehörige Begriffsklarheit vermißte, schwache Argumentationen und Interpretationsfehler, auch Spuren von Gereiztheit und Bitterkeit, wiefern Paulus seine Gegner von Seiten des Herzens schwärzer darstelle, als sie am Ende wirklich waren, wahrgenommen haben wollte, so wurde ihm Mangel an Ehrfurcht vor den heiligen Schriftstellern, ja theologische Rohheit vorgeworfen. Schlimmer sei es dem Apostel Paulus wohl nicht im Leben von Seiten seiner böswilligen Gegner ergangen, als jetzt von einem Doctor der h. Schrift, der es sich zur Aufgabe gemacht zu haben schien, den Paulus von Tarsus gegen die Unbilden des Heidelberger Paulus in Schutz zu nehmen.
Die Gedankenwelt Rückert’s ist verschiedenseitig beeinflußt. Das Herrnhuterthum hat seine Spuren bei ihm zurückgelassen in dem tiefen Gefühl der Sündhaftigkeit, welches befestigt wurde durch seine Vertiefung in die paulinischen Briefe. Von Plato hat er die Idee (des Guten) und den präexistenzialen Sündenfall, von Kant die Ueberwucht der praktischen Vernunft (Speculation war ihm soviel wie Grübelei und die Grenze des Sittlichen zugleich die Grenze der Evidenz), von Fichte die Thatsachen des Bewußtseins, das wollende und setzende Ich unmerklich sich angeeignet. Die Philosophie war ihm der Führer zu Christus geworden, er hielt sie darum für das einzige Heilmittel, dem überhandnehmenden Unglauben der Gelehrten zu steuern. Sein erstes systematisches Hauptwerk war eine „Christliche Philosophie oder Philosophie, Geschichte und Bibel nach ihren wahren Beziehungen zu einander“ (1825). Zeitgenossen haben bekannt, von diesem Werke in solchem Grade ergriffen, ja überwältigt worden zu sein, wie von keinem anderen. Das schaffende und regierende Princip der Welt ist dem sittlich vollendeten Menschen die Idee des Guten. Die Welt muß demnach auf das Sittliche und seine Verwirklichung angelegt sein, d. h. es muß ein Reich der Freiheit oder Geister geben. Zur Geisterwelt gehört der Mensch, der Idee nach Herr der Natur und Ausrichter des göttlichen Willens, der Wirklichkeit nach verdorben noch bevor er ins Erdenleben eintrat, daher ohne Bewußtsein der heiligen Ordnung, ohne vollkommene Freiheit, ohne Seligkeit. Soll er aus diesem Zustand erlöst werden, so bedarf es einer Anstalt, durch welche der Gedanke von der Wiederherstellung des Sünders dem gemeinen Menschenverstande faßlich offenbart, die Gestalt des ursprünglichen Menschen vor ihn hingestellt und ihm die Möglichkeit, dieselbe zur seinigen zu machen, über alle Zweifel gewiß gemacht wird. Diese Anstalt ist erschienen im Christenthum. Jesus war ein wirklicher und wahrhaftiger Mensch, aber, weil er die Erlösung zur Aufgabe seines Lebens gemacht und für sie sein Leben hingegeben, ein heiliger Mensch, das in die Wirklichkeit eingetretene Ideal der Menschheit. Der Heilige am Kreuze, gemordet von denen, die er selig machen wollte, ist das erschütternde Zeichen zur Umkehr. Sein zweites systematisches Hauptwerk ist die „Theologie“ (2. Th. 1851), Dogmatik und Ethik umspannend. Ueber das Verhältniß seiner „Christlichen Philosophie“ zu dieser „Theologie“ hat R. sich nicht ausgesprochen, aber man wird nicht irre gehen, wenn man letztere als eine vertiefte, den Anforderungen der fortgeschrittenen Wissenschaft entsprechende, durch die inzwischen hereingebrochene destructive Kritik unbeirrte [576] Umarbeitung seiner „Christlichen Philosophie“ bezeichnet. Von seinen Lesern und Zuhörern hat er gewollt, daß sie ihn begleitend all ihr theologisches Vorstellen ablegen und mit ihm ausgehen sollten vom Denken selbst, vom Ich und den Offenbarungen seines Wesens, um das Gefundene in Begriffe zu fassen. Das Ich, sich selbst beschauend, findet sich als Person, d. h. als Einheit von Leib, Seele und Geist. Beim idealen Ich erscheint der Geist wie ein König auf dem Thron mit unbedingtem Streben nach Verwirklichung der Idee des Guten. Das Leben der ihren Begriff erfüllenden Person ist ein Leben im steten Bewußtsein des göttlichen Waltens auf der einen und des gotteinigen Wollens auf der andern Seite, d. h. es ist seinem Wesen nach Religion. In der Menschheit fehlt aber überall das unbedingte Wollen des Guten. Das Zusammenleben der sündigen Menschen ist nur möglich in der Form des Staates. Die Aufhebung der Sünde oder die Erlösung geschieht durch die offenbarende und anregende Wirksamkeit Gottes. Diese ist als geschichtliche Thatsache hervorgetreten im Christenthum. Diese „Theologie“ wurde als eine von Selbständigkeit, sittlichem Ernst und Würde zeugende Arbeit gerühmt. „So konnte nur ein Mann schreiben, in welchem das christliche Leben selbst eine wirkliche Gestalt gewonnen.“ Zu Rückert’s „Theologie“ läßt sich, verglichen mit den systematischen Erscheinungen der Neuzeit, kaum ein größerer Gegensatz denken als die Dogmatik Vilmar’s. Dort ein gänzlich voraussetzungsloser, wissenschaftlicher Denkproceß, hier die Behauptung, daß philosophische Deductionen das Mark der Dogmatik zerstören, und daher Verzichtleistung auf Voraussetzungslosigkeit und auf das zum Fluchwort gewordene Prädicat Wissenschaft. Weitere Ausführungen einzelner Abschnitte seiner „Theologie“ sind sein „Büchlein von der Kirche“ (1857) und sein gutgeschriebenes Buch über „Das Abendmahl“ (1856). Seine harmlose Bemerkung: „wo kein Wein anzutreffen wäre, da ergreife man jedes im Gebrauche befindliche Getränk, und ob das reines Wasser wäre“, ward ihm frivol so gedeutet, daß man auch mit unedlem Tranke (Ziegenhainer Bier oder Schnaps) das heilige Mahl feiern könne. Seinen theologischen Standpunkt hat er mit aller Bestimmtheit gezeichnet in seiner Prorectoratsrede „Die Aufgabe der jenaischen Theologie im 4. Jahrhundert der Hochschule“ (1858) und in seiner Schrift „Der Rationalismus“ (1859). Er hat dem älteren, empiristischen Rationalismus als pelagianisch den Krieg erklärt und ihm seinen Rationalismus als ethischen oder christlichen entgegengestellt, als dessen Musterbild er mit Rücksicht auf Gal. 1, 8 den Apostel Paulus ansah, und dessen Wesen darin besteht, nur die Sache und ihre Wahrheit zu erfassen und durch keine Autorität sich in Festhaltung der erkannten Wahrheit hindern zu lassen. Wie dem vulgären Rationalismus, so galt sein Kampf dem exclusiven Orthodoxismus, nicht der Orthodoxie, als die nur einen andern Weg einschlage nach demselben hohen Ziel. Und so war es nicht gerade eine Klagerede, wenn er sagte: „meine besten Schüler werden orthodox“. Wie eine wirkliche Klage klang sein anderes Wort, zugleich sein litterarisches Schweigen im letzten Decennium seines Lebens erklärend: „meine Bücher werden nicht gelesen“. Dem wirklichen Leben gegenüber ein abstracter Idealist, nicht ohne Einseitigkeiten, Hätten und absonderliche Meinungen, war R. ein kraftvoller, entschiedener Charakter von strenger Zucht im Leben und im Denken.
- Die biographische und sonstige Litteratur über Rückert ist angeführt in dem Artikel des Unterzeichneten in Herzog’s R.-E., 2. Aufl. XIII, 87–94.