ADB:Ochsenbein, Ulrich
Ochsenbein: Ulrich O., schweizerischer Staatsmann und französischer General, geboren am 24. November 1811 auf Schwarzenegg im Kanton Bern, † am 3. November 1890 auf dem Gut Bellevue bei Nidau. Sohn eines Gastwirths, kam O. im siebenten Jahre durch einen Domicilwechsel seines Vaters nach Marnand im Kanton Waadt und besuchte bis zum vierzehnten Jahre französische Schulen in Granges und Moudon. 1825 siedelte der Vater wieder in den Kanton Bern nach Nidau über, wo der begabte Knabe an der Stadtschule sowie durch Lehrer des Gymnasiums im nahen Biel die deutsche Bildung rasch nachholte. 1830 bezog er als Studirender der Rechte die bernische Akademie und errang schon im zweiten Jahre durch Bearbeitung einer Preisfrage über den Indicienbeweis eine goldene Medaille. Nachdem er theils in Advocatenbureaus, theils als Secretär und Adjunct des bernischen Untersuchungsrichteramts sich die Civil- und Criminalpraxis erworben, die für das bernische Anwaltsexamen gefordert wurde, bestand er dieses im December 1834 mit Erfolg und ließ sich 1835 als Advocat in Nidau nieder, wo er 1838 bis 1840 auch die Stelle eines Verwesers des Bezirksamts bekleidete.
Parallel mit dem Berufsstudium ging, wie das schweizerische Milizsystem es mit sich brachte, die militärische Ausbildung. Nachdem O. dem akademischen Corps, dann einige Jahre der Infanterie als Unterofficier angehört hatte, besuchte er 1834 den Cadettencurs für Artillerie in Bern, 1836 und 1838 die Artillerieschule in Thun und trat 1841 als Lieutenant in den eidgenössischen Generalstab. 1843 absolvirte er die Generalstabsschule in Thun, wurde 1845 zum Hauptmann im eidg. Generalstab befördert und stand im Rufe eines tüchtigen Officiers, als die leidenschaftlichen Parteikämpfe, welche in den vierziger Jahren die nach neuen Formen ringende Eidgenossenschaft zerklüfteten und das „Putschen“ und „Freischärlen“ zur stehenden Einrichtung zu machen drohten, den lebhaften, ehrgeizigen, in Wort und Schrift gewandten jungen Nidauer Fürsprech in ihren Strudel zogen, um ihn in überraschender Laufbahn bis in die ersten Stellungen des Landes zu heben. Als die Berner Regierung im December 1844, zur Zeit des ersten Freischarenzuges gegen das Jesuitenregiment in Luzern, ein starkes Truppenaufgebot unter dem Befehl des Milizinspectors Zimmerli an die Luzerner Grenze stellte, in der schlechtverhehlten Absicht, einer allfällig aus dem Putsch hervorgehenden radicalen Luzerner Regierung festen Rückhalt zu verleihen, war O. der Adjutant des Commandanten und in den Zweck des Aufgebots eingeweiht. Nachdem der erste Versuch, die ultramontanen Luzerner Regenten wegzuputschen, gescheitert war, betheiligte sich O. an den namentlich von Aargau und Bern aus betriebenen Vorbereitungen für einen zweiten Freischarenzug. [696] Er entwarf einen ausführlichen Organisations- und Operationsplan dafür, der am 2. Februar 1845 auf einer Versammlung zu Olten von 25 Officieren aus den Kantonen Bern, Solothurn, Baselland und Aargau genehmigt wurde; auch unternahm er im Auftrag des Obersten Zimmerli unter Vorwissen des Schultheißen v. Tavel Ende Februar eine Recognoscirung des Entlebuchs und der Feldverschanzungen, welche die Luzerner um ihre Stadt angelegt hatten. Das an der Spitze des Unternehmens stehende Militärcomité suchte anfänglich den Genfer Obersten Rilliet-Constant für den Oberbefehl des geplanten Zuges zu gewinnen; als dieser ausschlug, wandte es sich an den Schöpfer des Operationsplans, der sich nach einigem Sträuben zur Uebernahme des Commandos entschloß. Da die eidg. Tagsatzung am 20. März ein Verbot gegen die Bildung bewaffneter Freicorps erließ und die Kantone einlud, Maßregeln dagegen zu treffen, trat jenes Militärcomité zurück und überließ die Leitung einem Ausschuß von Luzerner Flüchtlingen mit Dr. Robert Steiger an der Spitze.
Trotz des Tagsatzungsverbotes wurde die Rüstung – unter der Hand von den maßgebenden Mitgliedern der Regierungen von Bern, Aargau, Solothurn und Baselland begünstigt, wenn auch in diesen Kantonen noch in letzter Stunde durch amtliche Verbote und Abmahnungen gestört – vollendet und durch förmliches Aufgebot die Theilnehmer auf die Sammelplätze einberufen. Statt 5000, wie man erwartet hatte, stellten sich aber bloß 3500 ein. Diese rückten am 31. März 1845 mit 10 Geschützen in zwei Colonnen von Zofingen und Huttwil aus in den Kanton Luzern ein, jene, bei der sich der Oberanführer befand, unter dem aargauischen Milizinspector Oberst Rothpletz, diese unter einem Major Billo. Ochsenbein’s Plan war an sich gut angelegt. Es gelang ihm, trotz der umfassenden Gegenrüstungen der Luzerner Regierung, mit der Hauptcolonne Abends bis vor die Stadt zu dringen, und es mag sein, daß bei der großen Verwirrung im gegnerischen Lager ein paar Schüsse aus den mitgeführten Kanonen den kecken Handstreich zum Gelingen gebracht hätten. O. konnte sich jedoch aus ehrenhaften Gründen nicht zum Bombardement Luzerns entschließen; die Nebencolonne Billo, die vor den ihr an der Emmenbrücke entgegenstehenden Regierungstruppen den Rückzug angetreten hatte, ließ nichts von sich hören, und während der Nacht riß unter den bunt zusammengewürfelten, ermüdeten, schlecht verpflegten und schlecht disciplinirten Freischärlern vor Luzern eine kopflose Panik ein, deren O. nicht mehr Herr zu werden vermochte. Nachdem er um Mitternacht eine leidlich geordnete Rückzugscolonne zu Stande gebracht, befahl er ihr den Rückzug über Malters, ohne zu ahnen, daß er sie damit in einen mehr zufällig als planmäßig gelegten, aber nicht desto minder verderblichen Hinterhalt sandte, und verließ sie dann, um sich nach der Colonne Billo umzusehen. Er traf diese nicht mehr, wohl aber wurde sein kleiner Reitertrupp von feindlichen Truppen überfallen und zersprengt. Der eigene Bruder Ochsenbein’s fiel in Gefangenschaft, er selbst irrte durch Wald und Dickicht, bis es ihm gelang, am 3. April über die aargauische Grenze zu entkommen.
Der klägliche Ausgang des rechtswidrigen Zuges hatte für O. zur Folge, daß er durch Tagsatzungsbeschluß am 11. August 1845 aus dem Generalstab gestrichen wurde. Zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Führer kam es indeß in anderen Kantonen als in Luzern nicht, und gegen den Vorwurf, O. habe durch Verrath oder Unfähigkeit das Unglück der Freischärler verschuldet, nahmen ihn Dr. Steiger und andere Theilnehmer, die an seiner Seite gestanden hatten, kräftig in Schutz. Auch schilderte er selber in zwei „Berichten“ (Bern 1845) dem Publicum den Verlauf des Freischarenzuges in wahrheitsgetreuer, [697] sachlicher Weise, die für ihn einnahm. So war es möglich, daß O. trotz der zweifelhaften Lorbeern, die er sich vor Luzern geholt, durch sein abenteuerliches Unternehmen eine Art Volksheld wurde und in seinem Kanton als einflußreicher Politiker auftreten konnte. Die bernischen Regenten, an ihrer Spitze der von den Liberalen der ganzen Schweiz hochgefeierte Schultheiß Neuhaus, hatten während der Freischarenzüge doppeltes Spiel gespielt. Unter dem Vorwissen von Neuhaus war der zweite Freischarenzug vorbereitet, bernisches Geschütz von Nidau und Bipp, ohne ernstlichen Widerstand der Beamten, dafür verwendet worden; durch den Oberst Zimmerli hatte O. Neuhaus, Tavel und andere Mitglieder der Regierung fortwährend auf dem Laufenden erhalten. Aber nach dem Scheitern des Unternehmens glaubte die bernische Regierung ihr Einverständniß verleugnen zu sollen, indem sie alle Beamten, die am Freischarenzug theilgenommen, suspendirte, den lautesten Herold der Freischarenpartei, Professor Wilhelm Snell, entsetzte und aus dem Kanton verwies und gegen die über diese Haltung erboste radicale Presse mit Processen einschritt. Die Folge war ein vollständiger Bruch der Neuhaus’schen Regierung mit den Radicalen. Diese strebten nun unter der Führung Ochsenbein’s und der Schwiegersöhne Snell’s, der begabten jungen Juristen Stämpfli und Niggeler, den Sturz der Regierung durch das legale Mittel einer Verfassungsrevision an und entfalteten zu diesem Zwecke eine rührige Agitation, die im Volke auf fruchtbaren Boden fiel. Bei der Drittelserneuerung des Großen Rathes im October 1845 wurde O. doppelt gewählt und schwang sich als schlagfertiger Redner alsbald zum anerkannten Haupte der Opposition auf. Die Regierung wollte dem populären Verlangen entgegenkommen, aber sie verlangte gemäß den Vorschriften der bestehenden Verfassung, daß die Revision auf dem gewöhnlichen Wege der Gesetzgebung durch den Großen Rath stattfinde, während O. und seine Anhänger auf einen vom Volke dafür eigens zu wählenden Verfassungsrath drangen. Der Große Rath entschied im Sinne der Regierung, hatte aber die Schwäche, seinen Beschluß der Sanction des Volkes vorzulegen, das ihn am 1. Februar 1846 mit 26 000 gegen 11 000 Stimmen verwarf. Damit war der Sieg der Freischarenpartei entschieden. Ohne weitern Widerstand beschloß jetzt der Große Rath die Einberufung eines Verfassungsrathes. Die siegreichen Radicalen suchten sogar die sofortige Abberufung von Neuhaus und acht weitern Regierungeräthen zu erzwingen, indem sie dieselben beschuldigten, einen unerlaubten Druck auf die Abstimmung ausgeübt zu haben. In der leidenschaftlichen Debatte, die sich darüber erhob, beschuldigte Neuhaus die Radicalen des Eidbruches gegen die Verfassung, worauf ihm O. den Vorwurf der Eidbrüchigkeit zurückgab, da er gegen seinen Amtseid Geschenke für sein amtliches Wirken angenommen habe. In der That hatte der Berner Schultheiß sich von den Aargauern für den Beistand, den er ihnen in den Klosterwirren als Tagsatzungsgesandter und Präsident des Vorortes geleistet, mit einem Ehrenbecher und anderm Silbergeschirr beschenken lassen. Obwol eine wirklich unmoralische Handlung darin nicht lag und der Große Rath das Abberufungsbegehren zurückwies, war Neuhaus seitdem politisch ein todter Mann und O. der Held des Tages.
Bei den Wahlen zum Verfassungsrath, die größtentheils zu Gunsten der Radicalen ausfielen, hatte O. die größte Stimmenzahl. Der am 16. März 1846 zusammentretende Verfassungsrath bestellte zur Entwerfung des neuen Grundgesetzes einen Ausschuß, dessen Redactor und Berichterstatter O. war. So kann die neue Verfassung des Kantons Bern, die am 31. Juli 1846 mit 34 000 gegen 1200 Stimmen genehmigt wurde und bis 1893 in Kraft geblieben ist, im wesentlichen als sein Werk bezeichnet werden. Die Großrathswahlen [698] fielen im gleichen Sinne aus und die erneuerte Behörde bestellte auch die Regierung neu, indem sie im August O., Stämpfli und andere radicale Häupter darein wählte. O. wurde jetzt Vicepräsident der Regierung, Militärdirector und Kantonsoberst sowie zweiter Tagsatzungsgesandter. Am 11. September 1846 erschien der ehemalige Freischarenführer zu Zürich im Schoße der eidg. Versammlung, die ihn im Jahr zuvor aus der Liste der eidg. Officiere gestrichen hatte. Er erfuhr dabei von dem Schwyzer Landammann Abyberg eine schwere Beleidigung, für die er ihn forderte, ohne indeß die verlangte Satisfaction erhalten zu können.
Mit Neujahr 1847 ging die vorörtliche Leitung der Eidgenossenschaft auf Bern über, und O., der am 1. Juni zum bernischen Regierungspräsidenten gewählt wurde, war damit auch Bundespräsident geworden und zwar gerade in dem Momente, wo die Schweiz am Vorabend des Sonderbundkrieges und der Bundesrevision stand. In dieser schwierigen und ereignißreichen Zeit hat sich O. durch die Gewandheit und Festigkeit seiner Leitung, insbesondere auch durch die Entschiedenheit, womit er als Bundespräsident die Einschüchterungsversuche der fremden Diplomatie zurückwies, um die Schweiz ein hohes Verdienst erworben. Dem französischen Botschafter Bois-le-Comte, der mit dem bewaffneten Einschreiten der Mächte drohte, wenn man den Sonderbund auflösen und den Bundesvertrag von 1815 revidiren würde, gab er die kecke Antwort: „Si vous voulez jouer va banque, nous jouerons avec vous“. Und eine Zuschrift Guizot’s an den Gesandten, die für die Tagsatzung bestimmt war, weigerte sich O. wegen ihres Tones der eidg. Behörde mitzutheilen, so daß sie Bois-le-Comte in ein oppositionelles Zeitungsblatt einrücken mußte, um sie den Schweizern zur Kenntniß zu bringen. So gerieth O. bei den Diplomaten in den Ruf der Grobheit, während sonst verbindliche, einnehmende Formen dem stattlichen Manne wohl zu Gebote standen.
Am 5. Juli 1847 eröffnete O. als Präsident die Tagsatzung, die über die Zukunft der Schweiz entschied, mit einer Rede, deren Kühnheit die anwesenden Diplomaten verblüffte, in der ganzen Schweiz aber mächtigen Wiederhall erweckte. Ungescheut wies er gegenüber den Interventionsdrohungen der Mächte auf die im Anzug begriffene europäische Revolution hin, betonte die unbedingte Nothwendigkeit einer Bundesreform in der Schweiz und schloß mit den Worten: „Sollte das Unwahrscheinlichste, eine fremde Einmischung in die innern Angelegenheiten der Eidgenossenschaft versucht werden wollen, so soll die Welt wissen, daß die Schweiz, stark durch ihr gutes Recht, groß durch die überallhin verzweigten Sympathien aller freien und nach Freiheit ringenden Völker, die letzte Kraft und das letzte Herzblut aufzuopfern wissen wird, ihre von den Vätern in so mancher heißen Schlacht erkämpfte Unabhängigkeit zu wahren“.
Unter Ochsenbein’s Leitung wurden von der Tagsatzung im Juli, August, October und November die entscheidenden Beschlüsse gefaßt: Auflösung des Sonderbunds, Ausweisung der Jesuiten, Anhandnahme der Bundesrevision und bewaffnete Execution gegen die Sonderbundskantone. Ebenso war er Vorsitzender der besondern Conferenzen der Zwölfständemehrheit, des am 30. Juli von der Tagsatzung eingesetzten Siebenerausschusses, der die Maßregeln gegen den sich zum Kriege rüstenden Sonderbund vorberieth, und als Präsident des Vororts eo ipso Präsident des eidgenössischen Kriegsraths, was freilich einzelne Mitglieder zu der Erklärung veranlaßte, sie könnten unter diesem Präsidium an den Sitzungen nicht theilnehmen, so daß sie ersetzt werden mußten. Zugleich betrieb O. als bernischer Militärdirector die Rüstungen des mächtigsten Kantons gegen den Sonderbund. Ueberall im Mittelpunkt der [699] Vorbereitungen stehend, von einer unermeßlichen Popularität getragen, erwartete er, an die Spitze der gegen den Sonderbund ins Feld zu stellenden eidg. Armee gestellt zu werden, und empfand es als bittere Enttäuschung, daß die Tagsatzung nach rein militärischen Gesichtspunkten den Befehl dem anerkannt tüchtigsten Officier des eidg. Generalstabs, dem Genfer Dufour, übertrug, weil sie mit Recht besorgte, daß unter Führung des ehemaligen Freischarenhauptmanns der Krieg nicht sowol den Charakter einer Execution der Eidgenossenschaft gegen aufständische Kantone als den eines bewaffneten Parteikampfes tragen würde. O. gab indeß ein schönes Beispiel von Selbstbezwingung, indem er, sowie der Bruch erklärt war, den Präsidentenstuhl verließ und sich dem General zur Verfügung stellte. Er nahm als Commandant einer aus den bernischen Reserven gebildeten Division activen Antheil am Sonderbundskriege. Zunächst erhielt er die Aufgabe, bei der Unterwerfung Freiburgs durch einen Scheinangriff von Bern her mitzuwirken, dann auf dem äußersten rechten Flügel der eidg. Armee durch das Entlebuch gegen Luzern vorzudringen. Am 22. und 23. November überwältigte er den hartnäckigen Widerstand der luzernischen Truppen und Landstürmer bei Schüpfheim und löste die ihm vom General gestellten Aufgaben mit Umsicht und Geschick. Besonderes Verdienst erwarb er sich dadurch, daß er seine Berner, die vom Freischarenzug her nach Rache dürsteten, von Ausschreitungen zurückhielt, in Schüpfheim Häuser, aus denen auf die Soldaten geschossen und die deshalb angezündet wurden, löschen ließ, und das Dorf Malters, das die Soldaten in Erinnerung an das dort unter den Freischärlern veranstaltete nächtliche Gemetzel einäschern wollten, rettete. Die bernische Reservedivision schenkte ihm hernach dafür, daß er sie vor solchen entehrenden Schritten bewahrt hatte, einen Ehrensäbel mit der Aufschrift: „Schüpfheim, Malters 1847, Humanität ehrt den Krieger“. Die Tagsatzung aber ernannte ihn am 5. Februar 1848 zum eidg. Obersten.
Nach dem Kriege nahm O. seine Stelle als Präsident des Vororts und der Tagsatzung wieder ein. Auch führte er den Vorsitz in der Bundesrevisionscommission, die am 17. Februar 1848 in Bern zusammentrat, und nahm an den Berathungen, die zu der für die Schweiz epochemachenden Schöpfung der Bundesverfassung von 1848 geführt haben, gewichtigen Antheil.
Eine bedeutende Rolle spielte O. auch in der Revolution des Kantons Neuenburg. Schon Ende 1847 zog ihn ein Führer der Neuenburger Republikaner, Fritz Courvoisier, der im Sonderbundkrieg sein Adjutant gewesen, wegen der geplanten Abschüttlung der preußischen Herrschaft, die als je länger je unerträglicher mit der Stellung Neuenburgs als Schweizerkanton empfunden wurde, ins Vertrauen. O. mahnte von allen gewaltsamen Schritten, welche die Schweiz in gefährliche Verwicklungen mit dem Ausland stürzen könnten, ab, suchte aber durch den englischen Gesandten Stratford Canning mit Preußen eine Unterhandlung über Ablösung der fürstlichen Rechte mittelst einer vom Kanton und von der Eidgenossenschaft zu gleichen Theilen zu leistenden Geldentschädigung anzubahnen. Nach Ausbruch der Februarrevolution wiederum von Courvoisier angefragt, glaubte er, jetzt die Diplomatie vor ein fait accompli stellen zu sollen und gab den Sendlingen der Neuenburger ein Schreiben mit, das nur die zwei Worte enthielt: „En avant!“ Hierauf fand unter Courvoisier’s Führung der bewaffnete Zug der Montagnards von La Chaux-de-fonds nach Neuenburg, die Entsetzung der fürstlichen und die Einsetzung einer provisorischen Regierung, welche die Republik proklamirte, statt. Der von O. geleitete Vorort setzte sich alsbald mit der neuen Regierung in Verbindung und wies die Verwahrungen des preußischen Gesandten [700] v. Sydow zurück, da die Eidgenossenschaft in ihren Beziehungen zu Neuenburg nur den souveränen Kanton Neuenburg kenne, dem das freie Selbstbestimmungsrecht zustehe, wie jedem andern Kanton.
So energisch O. jeder Einmischung des Auslandes in die innern Angelegenheiten der Schweiz entgegentrat, so wenig wollte er von einer Einmischung der Schweiz in die Angelegenheiten des Auslandes wissen, und entzweite sich dadurch mit seinen bisherigen Bundesgenossen in Bern, Stämpfli, Niggeler u. A., die, vom revolutionären Enthusiasmus des Jahres 1848 hingerissen, dafür schwärmten, daß die Schweiz aus ihrer Neutralität heraustrete und an dem Freiheitskampfe der Welt thätigen Antheil nehme. Als Karl Albert von Sardinien am 6. April der Eidgenossenschaft ein Bündniß gegen Oesterreich antrug, in der Meinung, daß die Schweiz 30 000 Mann zur Befreiung der Lombardei ins Feld stellen solle, da sprach sich O. auf der Tagsatzung im Gegensatz zu den Welschschweizern, die Feuer und Flamme für die sardinische Allianz waren, aber im Einklang mit den nüchternen Ostschweizern mit Entschiedenheit dagegen aus. Und als ein Theil der bernischen Regierung, Stämpfli an der Spitze, wenigstens die Werbung eines bewaffneten Freiwilligencorps für die Lombarden begünstigen wollte und darüber mit einem Agenten der Mailänderregierung bereits Verhandlungen pflog, da zerstörte O. diese Zettelungen im Keime, indem er sie im Großen Rathe offen zur Sprache brachte, von einer neuen „Auslandspartei“ sprach, und dadurch seine Collegen zur Desavouirung ihrer neutralitätswidrigen Schritte nöthigte.
Auch inbetreff der neuen Bundesverfassung, die von den Kantonen genehmigt werden mußte, platzten O. und Stämpfli aufeinander. Der letztere, der sich offen als Unitarier bekannte, arbeitete für Verwerfung, in der Meinung, daß dann ein vom ganzen Schweizervolk gewählter Verfassungsrath ein radicaleres Werk zu Stande bringen werde, und die Mehrheit des bernischen Regierungerathes trug in seinem Sinne beim Großen Rath auf Verwerfung an. Ein negativer Entscheid des Großen Rathes würde wol auch einen solchen des Volks nach sich gezogen und die Verwerfung von Seiten des größten Kantons jedenfalls die Einführung der 48er Verfassung sehr erschwert haben. Es ist das Verdienst Ochsenbein’s, dies verhütet zu haben, indem er im Großen Rathe mit aller Beredsamkeit für die Bundesverfassung eintrat und ihre Annahme mit 146 gegen 40 Stimmen erwirkte.
O. stand jetzt im Zenith seines Wirkens und seines Ansehens. Er wurde in den neugeschaffenen Nationalrath gewählt und von diesem bei seinem Zusammentritt am 6. November 1848 zu seinem ersten Präsidenten ernannt. Dann kam er als zweitgewähltes Mitglied in den schweizerischen Bundesrath, in welchem er das Militärdepartement übernahm. Von ihm stammte der übrigens in den Berathungen der Bundesversammlung stark modificirte Entwurf der Militärorganisation der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 8. Mai 1850, der wieder einen wesentlichen Fortschritt im schweizerischen Heerwesen bedeutete.
Nachdem O. das höchste Ziel, das dem Ehrgeiz eines Schweizers gesteckt ist, erreicht hatte, sank sein politischer Stern fast ebenso rasch, wie er gestiegen war. Gewisse persönliche Eigenschaften, ein launenhaftes, sprunghaftes Wesen, starkes Selbstgefühl, das keinen Widerspruch ertrug, vor allem aber sein Verhalten zu dem damals in leidenschaftlicher Wallung begriffenen Parteiwesen im Kanton Bern untergruben seine Stellung. Die vielfachen Fehler und Auswüchse des bernischen Radicalismus hatten das Wachsthum einer conservativ-orthodoxen Partei befördert, die 1850 bei den Großrathswahlen eine knappe Mehrheit errang und diese dazu benutzte, die radicalen Führer, Stämpfli [701] voran, aus der Regierung zu entfernen und diese mit den Jhrigen zu besetzen. Obwol die bernischen Conservativen innerlich der ultramontanen Sonderbundspartei weit näher standen als den Liberalen, von denen die Schöpfung des neuen Bundes ausgegangen war, machte O., dessen Anschauungen sich immer mehr nach rechts verschoben, kein Hehl aus seinem grundsätzlichen Einverständniß mit der zum Sieg gelangten Partei. Infolge dessen wurde er nicht nur von den bernischen Liberal-Radicalen als politischer Ueberläufer angesehen und ebenso bitter gehaßt, wie früher vergöttert; er gerieth auch in Gegensatz zu der großen liberalen Mehrheit der Bundesversammlung, die in demonstrativer Weise den aus der Regierung entfernten Stämpfli 1851 zum Präsidenten des Nationalraths erhob. Dagegen wurde O. bei der alljährlichen Ernennung des Bundespräsidenten consequent übergangen und im December 1854 bei der zweiten Wiederwahl des Bundesrathes nicht wiedergewählt. An seine Stelle trat sein jüngerer Rivale Stämpfli.
In der Vollkraft seiner Jahre sah sich O. aus der politischen Laufbahn hinausgeworfen und that nun einen Schritt, der sein Ansehen mehr schädigte, als alle Angriffe der Gegner. In früheren Jahren hatte Niemand feuriger als er die fremden Solddienste und Militärcapitulationen bekämpft, jetzt nahm der gewesene Tagsatzungspräsident, Bundesrath und Kriegsminister ein Anerbieten Napoleon’s III. an und trat in französische Kriegsdienste. Durch kaiserliches Decret vom 17. Januar 1855 wurde er zum Brigadegeneral mit dem Auftrag, die zweite Fremdenlegion zu organisiren und zu commandiren, ernannt. Ohne Zweifel bestand in Paris die Absicht, durch den Namen Ochsenbein zahlreiche Schweizer zum Dienst im Krimkrieg zu verlocken. Die Hoffnung erfüllte sich nicht, der Krieg ging zu Ende, ohne daß O. nach der Krim abgegangen wäre. Am 16. April 1856 wurde er mit einem Rückzugsgehalt zur Disposition gestellt und kehrte in die Heimath zurück, wo er das Landgut Bellevue bei Nidau erwarb und sich mit Eifer der Bewirthschaftung desselben widmete.
Freilich war seine impulsive Natur nicht dazu angethan, sich mit diesem Stillleben zu begnügen. O. versuchte auf litterarischem Wege in die Weite zu wirken und neuen Einfluß zu gewinnen. Er veröffentlichte eine von der ökonomischen Gesellschaft des Kantons Bern preisgekrönte Arbeit über „Die Branntweinfrage und die Landwirthschaft“ (Bern 1864) und ein von der gleichen Gesellschaft herausgegebenes Schriftchen über „Die bernisch-agrikole Geld- und Creditfrage“ (Biel 1866), aber auch eine übel vermerkte Streitschrift „Die Versumpfung des Gebiets der Juragewässer durch die Ausführung des Planes des Herrn eidg. Obersten La Nicca“ (Bern 1864), „welche den Vorurtheilen des Landmanns gegen die großartige Unternehmung der Entsumpfung des Seelandes Ausdruck gab und dieses Werk als ein für die Anwohner schädliches darstellte“. Der Krieg von 1870/71 rief ihn als französischen General vorübergehend nach Frankreich. Am 22. Januar 1871 wurde er zum Divisionsgeneral und Commandanten der Mobilgarden zu Bourg und Lons le Saunier ernannt, am 7. März wieder entlassen und am 5. Mai zum Ritter der Ehrenlegion befördert.
Nach dieser Episode kehrte er wieder auf sein Gut zurück und nahm seine gewohnte Thätigkeit wieder auf. Nachdem eine von der schweizerischen Gesellschaft für Sonntagsheiligung preisgekrönte Schrift „Die Heiligung des Sonntags in hygienischer Hinsicht“ (Nidau 1876) ihn als harmlosen Philanthropen gezeigt, betrat er, als im J. 1878 eine weit verbreitete Mißstimmung im Kanton gegen die herrschende liberal-radicale Richtung sich bemerklich machte, noch einmal die politische Arena, suchte das Volk in öffentlichen Vorträgen, [702] Broschüren und Zeitungsartikeln über den materiellen und sittlichen Zerfall, in den die lange Herrschaft des Radicalismus das Vaterland gebracht habe, zu belehren und als Führer einer conservativen „Volkspartei“ wieder eine Rolle zu spielen. Allein die Folge seines Hervortretens war nur diejenige, daß die gegnerische Presse mit beispielloser Heftigkeit über ihn herfiel und in ihren Angriffen sogar auf die Verleumdungen aus der Freischarenzeit zurückgriff. Der alte General mußte es erleben, daß in einem von ihm angestrengten Preßproceß seine ganze politische Laufbahn durch die geschickten Advocaten der Gegenpartei schonungsloser Kritik unterzogen wurde, und das die Jury die Angeklagten, die ihn beschimpft hatten, freisprach. Er rächte sich, indem er im Tone eines verbitterten Pamphletärs sowol die bernische Eisenbahnpolitik („Der bernische Eisenbahnschwindel“, Herzogenbuchsee 1883) als die Bestrebungen, das Schulwesen der Schweiz von Bundeswegen zu beaufsichtigen („Bundesrath Schenk, sein geheimes Programm und sein Schulgesetz“, Basel 1882) angriff. Doch blieben alle Versuche seiner Freunde, ihn durch Volkswahl wieder in staatliche Behörden zu bringen, erfolglos. Gegen sein Lebensende hatte er noch das Unglück, durch zufällige Entladung seiner Jagdwaffe seine geliebte Lebensgefährtin zu verlieren.
- Ochsenbein, Zweiter Bericht über den Kampf der luzernischen Flüchtlinge und ihrer Freunde am 31. März und 1. April 1845 (Bern 1845). – Rudolf, Der Freischarenzug gegen Luzern am 31. März, 1. u. 2. April 1845, mit besonderer Rücksicht auf den zweiten Ochsenbein’schen Bericht (Zürich 1846). – Allgemeiner Bericht des eidg. Oberbefehlhabers über die Bewaffnung und den Feldzug von 1847 (Bern-Zürich 1848). – Tillier, Gesch. der Eidgenossenschaft während der Zeit des so geheißenen Fortschrittes, Bd. 2 u. 3 (Bern 1854/55). – Baumgartner, Die Schweiz in ihren Kämpfen und Umgestaltungen 1830–50, Bd. 3 u. 4 (Zürich 1865/66). – Feddersen, Geschichte der schweiz. Regeneration von 1830–48 (Zürich 1867). – Ulrich Ochsenbein vor dem Volksgerichte (Biel 1878). – Aus der Sonderbundszeit, Tagebuch-Aufzeichnungen des alt Regierungsrath Dr. J. R. Schneider (Bund, 1887, 3. Mai ff.). – Bloesch, Bundespräsident Ulrich Ochsenbein (Unsere Zeit, 1891, Bd. I). – Egger, Blätter der Erinnerung an General Ulrich Ochsenbein (Herzogenbuchsee 1891). – Aus den Papieren von alt-Bundesrath Ochsenbein (Berner Tagblatt, 1897, Nr. 579–83). – Das Duell Abyberg-Ochsenbein (Neue Zürcher Zeitung, 1898, Nr. 97/99). – Peyer im Hof, Aus den Anfängen des neuen Bundes (Frauenfeld 1900). – R. Rickli, Erinnerungen aus dem Freischarenzuge gegen Luzern 1845 (Lengenthal 1905). – Volmar, Die Bundesräthe der schweizerischen Eidgenossenschaft in Wort und Bild (Zürich 1906). – Papiere von Ochsenbein, im Besitze der Herren Arthur Ochsenbein in Colombier und Dr. F. Courvoisier in Biel.