ADB:Niederer, Johannes
Pestalozzi nach Burgdorf über, wohin ihm schon mehrere seiner Landsleute (Krüsi, Tobler, auch Ramsauer) vorangegangen waren.– Er übernahm den protestantischen Religionsunterricht an den höheren Klassen des Instituts, später in Iferten auch die Leitung des sonntäglichen Anstaltsgottesdienstes bis zu seiner Trennung von Pestalozzi 1817. Hohe Begeisterung für Pestalozzi’s Ideale und Persönlichkeit hatte ihn zu Pestalozzi hingeführt; ihm ähnlich in Uneigenuützigkeit seines Strebens, aber auch in Geringschätzung alles Aeußerlichen und Geregelten und wie jener ohne Sinn für den Werth des Geldes, [76] verband er mit reicher Begabung eine allgemeine und philosophische Bildung, die den meisten Mitarbeitern Pestalozzi’s und diesem selbst abging. Er war eine Kraftnatur, wie sie stets eine große Anziehungskraft auf Pestalozzi ausübten, in unbedingter Hingabe an das, was er als recht und edel erkannt, unbeugsam bis zur heftigsten Leidenschaftlichkeit; schon einer seiner Universitätslehrer soll gesagt haben „je nach der Richtung welche die gewaltige Kraft nehmen werde (die aus seinem scharfen Auge unter den rothen Brauen hervorblitzte), würden die Appenzeller etwas Außerordentliches an ihm erleben, entweder den größten unter ihren Männern oder –“; und Pestalozzi schrieb einmal scherzend an ihn selbst: „Sagte denn auch Niederer, er sei ein Mensch, den der liebe Gott selber bezeichnet, sage ihm, man müsse ihn lieben oder fürchten, sage ihm, er sei ein eigentlicher Contrastmensch, der eine enge Brust und ein großes Herz, einen kleinen Kopf und ein großes Hirn habe, … die Schlüssel des Himmels könne man ihm anvertrauen, aber die Schlüssel zu einer Speisekammer oder zu einem Gewehrkasten – damit hätte es eine andere Bewandtniß.“ – Es gehört zu Pestalozzis Eigenthümlichkeiten, daß er von Anfang seines öffentlichen Wirkens an immer eine Persönlichkeit nöthig hatte, der er sich in unbedingtem Vertrauen für die äußere Durchführung seiner Gedanken völlig unterwerfen konnte. Schon in Burgdorf und Münchenbuchsee überragt Niederers Einfluß den der anderen Mitarbeiter, noch mehr dann in Iferten (bis ihn 1815 Schmid aus dieser Stellung verdrängte). Um so eher erschien er hier Pestalozzi unentbehrlich, da dieser eben damals besonders darauf bedacht war, seine Erziehungsgedanken schriftstellerisch auszugestalten. N. übernahm die Redaction der „Wochenschrift für Menschenbildung, herausgegeben von Heinrich Pestalozzi und seinen Freunden“ 1808–1812; er hielt gelegentlich Vorlesungen über die Methode, und begeisterte für dieselbe namentlich die zahlreichen Fremden deutscher Zunge, die sich kürzere oder längere Zeit in Iferten aufhielten und in ihm den berufenen Interpreten des Meisters verehrten; er wurde von Pestalozzi zu seinem Biographen bestimmt und damit betraut, die Materialien für eine solche Biographie zu sammeln; die Rede, die Pestalozzi 1809 in der von ihm selbst begründeten und präsidirten „Schweizerischen Erziehungsgesellschaft“ in Lenzburg über die Idee der Elementarbildung hielt, ist nur in der von N. überarbeiteten Gestalt gedruckt worden, und galt schon in Iferten gelegentlich geradezu als Niederers Werk. Niederers positives Verdienst um die Sache Pestalozzi’s auf litterarischem Gebiet war, daß er den intuitiven Anschauungen Pestalozzi’s die philosophisch-speculative Form und systematische Durcharbeitung verlieh, die in ihnen liegende Idee der Menschenbildung allseitig beleuchtete, und die Postulate der auf sie gründenden Methode untersuchte. „Scharfer Verstand, klare Gestaltung des Ausdrucks und die Wärme eigener Überzeugtheit von der Trefflichkeit der Sache treten in den Niedererschen Deductionen unzweifelhaft zu Tage, aber auch die Schattenseite, die der lediglich theoretischen Construction jederzeit anhaftet. Die Universitäten Tübingen und Gießen verliehen N. den Titel eines Dr. phil. – Pestalozzi selbst und die Verehrer desselben sahen in ihm den unzertrennlichen Genossen seines Wirkens und seines Namens und es ist nicht eben eine vereinzelte Huldigung, wenn J. C. von Orelli in der Vorrede zu „Vittorino von Feltre“ (1812) von der Periode der Pädagogik redet, „der das Genie Pestalozzi’s und Niederers eine ganz neue Gestalt erteilte“.
Niederer: Dr. Johannes N. (1779–1843), geboren zu Brenden, Gemeinde Lutzenberg, Kt. Appenzell A. Rh., den 1. Januar 1779, studirte Theologie, wurde 1798 Pfarrer in Bühler (Appenzell), 1799 in Sennwald (St. Gallen); 1803 siedelte er als Mitarbeiter zuIm Institut selbst waren zunächst neben N. mehrere Mitarbeiter von selbständiger Stellung und Einfluß. Diese Situation änderte sich 1810. In diesem Jahre ward Muralt an die Stelle eines reformirten Predigers nach Petersburg berufen und ging Schmid nach Bregenz, um dort die Leitung einer Realschule zu übernehmen. Nun ward N. auch im Institut allmächtig. Dasselbe befand sich in kritischer Lage. In Folge vereinzelter Anfechtungen hatte [77] Pestalozzi, „auf den Rat der leitenden Glieder des Hauses sich bewegen lassen, die schweizerische Tagsatzung um eine officielle Prüfung der Anstalt zu ersuchen. Eine Commission von drei Mitgliedern kam im November 1809, fand aber neben Rühmlichem auch Vieles auszusetzen; bei Besprechung des Unterrichts ertheilte der (von P. Girard ausgearbeitete, 1810 auf Befehl der Tagsatzung gedruckte) Bericht nur demjenigen von Schmid in der Mathematik ungetheiltes Lob, während Niederers Unterricht der Commission zu philosophisch gehalten und zu breit angelegt erschien. Bei allem Bestreben die Wahrheit milde zu sagen gab der Bericht den Gegnern Pestalozzis und der Anstalt verstärkten Anlaß, ihre Stimme zu erheben. Ein Zürcherischer Gelehrter, Chorherr Bremi, trat mit „drei Dutzend Fragen“ vor das schweizerische Zeitungspublicum, der „Restaurator“ Carl Ludwig von Haller in Bern verstieg sich in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ zur giftigsten Denunciation des in der Anstalt waltenden Geistes. Infolge dieser Angriffe sank die Frequenz des Instituts. – Statt nun durch innere Reformen die Quelle der Gefahren abzugraben warf sich N. mit seiner ganzen Energie auf die litterarische Vertheidigung; so entstand seine Schutzschrift „das Pestalozzische Institut an das Publicum“ (1811), die er nachher zu einer in zwei stattlichen Bänden sich darbietenden Publication, „Pestalozzis Erziehungsunternehmung im Verhältniß zur Zeitkultur“ (Iferten 1812–1813)- erweiterte, aus welcher hinwiederum die „Schließliche Rechtfertigung des Pestalozzischen Instituts gegen seine Verläumder“ 1813 separat herausgegeben wurde. Man mag über die Rathsamkeit solch persönlichen Polemisirens, wie dieses in Niederers Art lag, sehr kühl denken. Thatsache ist, daß Pestalozzi sich vollständig von der Nothwendigkeit desselben hatte überzeugen lassen, wie seine in dieser Beziehung höchst interessante Schrift, „An Herrn Geheimrath von Delbrück“ (in Niederers Erziehungsunternehmung Bd. II Nr. 8, auch separat, Iferten 1813) in unzweifelhaft Pestalozzischer Darlegung auseinandersetzt. Gelegentlich freilich klingt in Niederers Lob auch fast etwas wie leiser Spott ein, so in der Stelle eines Briefes, den Pestalozzi 1811 an einen Mitarbeiter schrieb: „Niederer ist ein Teufelskerl; mitten indem es von allen Seiten auf ihn losklopft, gießt er Kanonen von größtem Caliber und macht Gerüste zu diesen Kanonen, die wie der Thurm zu Babel bis an die Wolken reichen.“
Abgesehen davon, daß durch Pestalozzi’s und Niederers polemische Thätigkeit eine durchgreifende Hebung der innern Leistungsfähigkeit der Anstalt verabsäumt wurde, hatte dieselbe auch direct schlimme Folgen. Pestalozzi ließ sich dazu verleiten, nach dem Vorgang von Halle und Schnepfenthal mit dem Institut eine Buchdruckerei und Verlagshandlung zu verbinden. „Alles war jetzt im Dienst dieser Fehde“ bekennt Pestalozzi selbst. Die finanzielle Situation verschlimmerte sich zusehends. Der Bankerott schien unausweichlich. Die Familie traf für den Rest des Erbvermögens der Frau Pestalozzi sichernde Maßnahmen. Vergeblich mühten sich zu Rathe gezogene Freunde Pestalozzis ab, der Verwirrung einen Damm zu setzen. Unter den Vorkehrungen, die sie trafen, war auch die Ablösung des Töchterinstitutes, dessen ökonomische Leitung bisher Pestalozzi’s Schwiegertochter (nach dem Tode Jakob Pestalozzi’s in zweiter Ehe mit einem Herrn Kuster vermählt) besorgt hatte. Rosette Kasthofer die seit 1810 die pädagogische Direction des Töchterinstituts innegehabt, ließ sich auf Pestalozzi’s Wunsch bereit finden, dasselbe auf eigene Rechnung zu übernehmen, November 1813. Im Mai 1814 verheirathete sich N. mit Rosette Kasthofer. Pestalozzi’s höchste Lebenswünsche schienen dadurch erfüllt: „Meine Seele jubelt, meine ersten Kinder reifen –, Niederer prüft und reinigt den Samen, den ich fast nur in blindem Glauben auswerfe, – und Kasthofer, Kasthofer die Gott mir [78] gab und die ihres Gleichen nicht hat, heirathet Niederer –, ich könnte für beide sterben, sie sind meine ersten, ich möchte sagen, sie sind meine einzigen Kinder. Das Traumgebild, das aus meiner Hand ging, erhaltet in ihrer (Verbindung?) Leben und Wirklichkeit“ (Biber, Beitrag S. 73).
N. hatte, das gestanden ihm selbst seine späteren Gegner (Schmid, Wahrheit und Irrthum S. 26) zu, keinen Antheil an der Finanzleitung des Pestalozzischen Institutes; seine Mitverschuldung beschränkte sich auf die schlimmen Folgen der litterarischen Unternehmungen für die Oekonomie desselben. Bei aller persönlichen Sorglosigkeit in Geldangelegenheiten erkannte er aber die drohende Gefahr in ihrer Größe. War er selbst nicht dazu angethan, in der Noth zu helfen, so war dies vielleicht am ehesten jenem Josef Schmid beschieden, der 1810 „in Folge eines Umstandes der nur ihn und Niederer allein angeht“ (Pestalozzi’s Aeußerung) die Anstalt verlassen. Für Niederers Phantasie verklärte sich Schmid’s Bild in dessen Abwesenheit. Er betrieb seit 1812 Schmid’s Rückberufung bei Pestalozzi, dessen persönlicher Liebling das „Tiroler Naturkind“ stets gewesen. Pestalozzi griff mit beiden Händen zu: „Sag ihm, Herr Jesus komm! sag’s ihm mit diesen Worten!“ N. träumte sich als rettende Lösung ein Triumvirat Pestalozzi-Niederer-Schmid. Schmid, durch Niederer’s und Pestalozzi’s Drängen bewogen, gab 1815 seine Stellung in Bregenz auf, im April kam er nach Iferten, um Pestalozzi seine Dienste zu widmen. Mit gewaltiger Hand griff er in den eingerissenen Schlendrian des Hauses ein und stellte Ordnung her; auf ihn ging nun Pestalozzi’s Vertrauen über, dessen Dankbarkeit für den Retter keine Grenzen kannte. Wie sich aus diesen Verhältnissen zwischen Schmid und Pestalozzi einerseits, den älteren Mitarbeitern und schließlich auch N. andrerseits ein völliger Bruch entwickelte und zu welchen beklagenswerthen Folgen derselbe geführt, das im Einzelnen darzulegen ist Sache der Biographie Pestalozzi’s. Hier kann nur die psychologische Entwicklung im Verhältniß zwischen Pestalozzi und N. in Frage kommen. Vorboten einer innern Entfremdung datiren schon vor Schmid’s Rückkehr. Niederer’s gewaltthätige Art, in der er sich Pestalozzi selbst als den unfehlbaren Ausleger der Pestalozzischen Gedanken aufdrängte, begann allmählich Pestalozzi zu drücken. Worte, wie: „Ich verstehe mich selbst nicht mehr; wenn ihr wissen wollt, was ich denke und will, müßt ihr Herrn Niederer fragen!“ zeigen, wie sehr Pestalozzi die Schattenseiten der Niedererschen Rechthaberei zu fühlen begann. Die Familie Pestalozzi’s war dem Einfluß Niederer’s längst mit Mißtrauen entgegengestanden; als Schmid zurückkam, schon bei seinem Eintritt in das Haus, war eines der ersten Worte, die die alte Frau Pestalozzi an ihn richtete, die Frage: „Kommen Sie für meinen lieben Mann oder für Herrn N. in das Haus zurück?“ Und Schmid antwortete nicht blos mit den Worten, sondern sofort mit seinem ganzen Verhalten: „Ich bin für Niemand als für meinen Freund Pestalozzi zurückgekommen“. Alle die Illusionen, in die sich N. gewiegt, der Traum des Triumvirats, verschwanden. N. fühlte sich durch den Ausgang enttäuscht, in Schmid und wohl auch durch Schmid getäuscht. Mehr aber als dies wirkte der Gegensatz, in dem Niederers und Schmid’s Individualität von Natur standen: jener abstracter Idealist, dieser nüchterner Realist; dieser ebenso sehr zur Alleinherrschaft in der Praxis, wie jener zur Unfehlbarkeit in der Theorie disponirt. Verstärkt wurde dieser Gegensatz durch die Confession: Schmid war Katholik, N. protestantischer Theologe; die jungen deutschen Theologen, die die Begeisterung für Pestalozzi zu zeitweiligen Mitarbeitern im Institut gemacht, schaarten sich mit unbedingter Verehrung um N., während der Vorarlberger ihrer Geistesrichtung von vornherein fremd war; ihre Stimmung wirkte auch auf N. zurück, und wenn Blochmann in jenen Tagen an seine Schwester schrieb: [79] „Der Geist im Schlosse wird immer unheiliger“, so drückte er damit den Grundton der Verstimmung aus, die dem ganzen Kreise schließlich den Kampf gegen Schmid als heilige Pflicht zur Rettung des in den Händen Schmid’s willenlos hingegebenen Pestalozzi erscheinen ließ. Pestalozzi’s jetziges Verhalten war in ihren Augen ein Abfall von seinem wahren Selbst. – Und schließlich bestand ja, wenn schon in viel schwächerem Maaße auch zwischen Pestalozzi’s Lebensanschauungen und den philosophisch-theologischen Constructionen Niederers eine nie ganz ausgefüllte Kluft. N. selbst hat die religiöse Divergenz nachträglich als den Keil bezeichnet, der seine Verbindung mit Pestalozzi gesprengt habe (Biber, Beitrag S. 341. 342): „Pestalozzi war von einer Seite seines Gemüths und seines Geistes tief religiös und überzeugte wenigstens N. davon, von einer andern Seite waren seine Vorstellungen und Begriffe irreligiös und antichristlich … Pestalozzi stand selbst nicht auf dem christlichen Standpunkt … Innigst überzeugt, es könne dem Menschen nur dadurch geholfen werden und Pestalozzi’s Erziehungsunternehmung könne nur dadurch gelingen, daß das Irdische selbst vom Göttlichen, das Sinnliche vom Geistigen aus, d. h. in christlichem Sinn und Geist aufgefaßt und behandelt werde, bot N. Alles auf, Pestalozzi auf diese Stufe der Erkenntniß zu erheben, seinen religiösen Widerspruch mit sich selbst und seinem Werke zu überwinden und ihn dadurch mit seiner einzig hohen Bestimmung in Uebereinstimmung zu bringen. Dies ist der Ursprung und die wahre Natur seines Kampfes mit Pestalozzi.“ Wir brauchen nur auf Pestalozzi’s Aeußerungen über Religion, Kirche und Geistlichkeit in den späteren Theilen von „Lienhard und Gertrud“ und in den „Nachforschungen“ sowie in seinem Brief an Nicolovius 1793 hinzuweisen, um jeden Verdacht zu widerlegen, daß wir es in diesem Urtheil Niederer’s lediglich mit einer Selbsttäuschung und nachträglichen Beschönigung seines eigenen Verhaltens zu thun haben.
Am 16. December 1815, am Beerdigungstag der Frau Pestalozzi brach der offene Streit zwischen Pestalozzi’s Mitarbeitern aus; 1816 verließen die deutschen Lehrer, aber auch Krüsi und Ramsauer das Institut; zu Anfang 1817 kündigte als der letzte, N. seine Stellung bei Pestalozzi. Bei der Schlußhandlung seines Wirkens für die Anstalt, der Confirmation zu Pfingsten 1817, verlieh N. auf der Kanzel den Motiven seines Austritts tiefgefühlten aber auch so selbstbewußten Ausdruck, daß Pestalozzi sich an Ort und Stelle zu erregter Entgegnung veranlaßt sah. Die Erbitterung erhielt neue Nahrung durch finanzielle Auseinandersetzungen, welche sich auf das Verhältniß von Herrn und Frau Niederer als Mitarbeiter Pestalozzi’s und Eigenthümer des Töchterinstitutes bezogen, und zu gerichtlichen Verhandlungen führten, die sich über sieben Jahre hinschleppten und beiden Theilen unendlich schadeten. Als dieselben endlich 1823/24 durch einen Schiedsspruch geschlichtet wurden, welcher in den meisten Detailpunkten Pestalozzi und Schmid Recht gab, aber zugleich die Fortdauer von Pestalozzi’s Ansprüchen auf das Töchterinstitut als Gründer desselben endgültig aufhob, war Pestalozzi’s Anstalt im Schloß der Auflösung so nahe, daß auch dieser Ausgleich letztere nicht mehr fernhalten konnte. Sie erfolgte im Mai 1825; Pestalozzi zog sich auf den Neuhof zurück.
Ohne Zweifel trug Niederers Leidenschaftlichkeit große Schuld daran, daß die im Grunde über höchst geringfügige Rechnungsdifferenzen entbrannte Fehde diesen peinlichen Verlauf nahm, und es ist wahr: Pestalozzi hat zu wiederholten Malen in der rührendsten Weise die Versöhnung gesucht, in Zuschriften und Anerbietungen, die jeden andern als N. hätten zur Umkehr bewegen müssen, von diesem aber mit verletzender Härte zurückgewiesen wurden. Aber diese Hartnäckigkeit war nicht blos leidenschaftliche Verhärtung, sondern sie zeigt auch gerade [80] in ihrer Unerbittlichkeit die Lichtseite von Niederers Charakter. „Der Stein des Anstoßes bei allen diesen Versuchen war Schmid; mit ihm wollten Herr N. und seine Freunde in keiner Angelegenheit, am wenigsten bei einer pädagogischen Vereinigung, zu thun haben; aber Herr Pestalozzi bestand darauf, sie müssen Schmid als seinen Retter und innigsten Freund in die Vereinigung einschließen“ (Biber, Beitrag S. 267). N. sah in Schmid eine Persönlichkeit, mit der er nie sich einen ehrlichen und ernsthaft als möglich erscheinenden Frieden denken konnte: und er war stark und wahrhaft genug, lieber consequent die von Pestalozzi dargebotene Hand der Versöhnung zurückzustoßen und dadurch in den Augen von Pestalozzi’s Verehrern sich in das denkbar schlimmste Licht zu stellen, als durch den Schein einer Nachgiebigkeit sich selbst und seinem Gewissen untreu zu werden und Pestalozzi in Augenblickstäuschungen zu bestärken. Dem traurigen Streit vor Gericht folgte ein noch traurigerer auf dem Boden der Oeffentlichkeit. Pestalozzi gab 1826 sein Buch „Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsanstalten in Burgdorf und Iferten“ heraus, in welchem er sich bemühte alle Schuld des Mißlingens von Schmid weg und auf seine eigene „Regierungsunfähigkeit“ zu wälzen und in welchem er die Schmid’sche Periode als die eigentliche Verwirklichung seiner Lebensideale, alles frühere aber mehr oder weniger als eine Verirrung hinstellte. Daß Pestalozzis frühere Mitarbeiter, Krüsi und N. vor allem, diese Herabwürdigung und Mißhandlung ihrer eigenen Leistungen für Pestalozzi’s Sache aus dem Munde des Allgefeierten nicht ohne Antwort lassen konnten, wenn sie nicht sich selbst vor der Oeffentlichkeit aufgeben wollten, war klar. Aber statt nun einfach die in ihrer Hand befindlichen Actenstücke, welche die unhistorische Darstellung der „Lebensschicksale“ in den hervortretendsten Punkten darthaten, zum Abdrucke zu bringen, veranlaßten sie eine Streitschrift, deren Ausarbeitung ein Lehrer am Töchterinstitute übernahm: „Beitrag zur Biographie Heinrich Pestalozzi’s und zur Beleuchtung seiner neuesten Schrift: Meine Lebensschicksale u. s. f. Von Ed. Biber“ (St. Gallen 1827). Hatte Pestalozzi in den „Lebensschicksalen“ sich völlig mit Schmid identificirt, so identificirte nun auch Biber Pestalozzi völlig mit Schmid, und diesem Pestalozzi gegenüber wird von ihm alle Rücksicht und Pietät bei Seite gelegt: „Es steht vor uns das entsetzliche Bild eines Lebens, dem die Wahrheit ein Spott war; der Stimmführer der Gerechtigkeit und der Priester der Wahrheit, Pestalozzi steht vor uns, mit unauslöschlicher Schande gebrandmarkt.“ Der einundachtzigjährige Mann gerieth beim Erscheinen dieses Buches, in welches ein reiches Actenmaterial verwoben ist, in die furchtbarste Aufregung; in fieberhafter Hast suchte er noch eine Widerlegung auszuarbeiten; der Körper war der geistigen Qual nicht mehr gewachsen; die Folgen einer Erkältung im Schneegestöber traten hinzu; seine Kraft brach zusammen; am 17. Febr. 1827 starb er.
Der Tod versöhnt, und er versöhnte auch hier. In einem Aufsatz „Die vormaligen Mitarbeiter Pestalozzi’s in Iferten am Grab des Verewigten“ (Trogen und Iferten, Ende Februar 1827) gab N. dieser Veränderung der Situation rückhaltlosen Ausdruck. Was er hier für sich und im Namen seiner Freunde sagt: „Pestalozzi’s Tod endet die irdische Seite unseres Verhältnisses zu ihm und seinem Wirken, und reinigt, heiligt und vollendet die geistige Seite desselben; Pestalozzi wird uns wieder ganz, was er uns im Anfang war“ ist nicht Phrase. Ist N. auch nach Pestalozzi’s Tod nicht dazu gekommen, die ihm einst übertragene Biographie Pestalozzi’s zu schreiben, so hat er doch mit voller Liebe in den „Pestalozzischen Blättern“ die er 1828 und 1829 in Rossels „Allgemeiner Monatschrift für Erziehung und Unterricht“ (Aachen) und gesondert herausgab, für Pestalozzi’s Andenken gewirkt. Seine dort erschienene Charakteristik Pestalozzi’s (zu großem Theil neu abgedruckt in den Pestalozziblättern“, hrsg. von der Kommission für das Pestalozzistübchen [81] in Zürich, 1. Jahrgang 1880) ist ein unvergängliches Denkmal, das der Jünger seinem Meister gesetzt hat; seine private Correspondenz bis zu seinem Tode zeigt, wie unauslöschlich tief Pestalozzi’s Bild seinem Herzen eingeprägt war; als Vertreter des reinen Pestalozzianismus ist er gelegentlich auch noch in den dreißiger Jahren gegen Andersdenkende (Scherr) in heftige litterarische Fehde geraten; und seine und seiner Gattin praktische Erziehungswirksamkeit am Töchterinstitut wollte bis zu ihrem Ende nichts sein als die Verwirklichung der Pestalozzi’schen Ideen oder Pestalozzi’schen Ideale. 1837 siedelte das Töchterinstitut nach Genf über, dort erhob es sich zu neuer Blüthe; 1850 ging es ein, da Niederer’s Wittwe bei herannahendem Greisenalter sich ins Privatleben zurückzog.
Neben die pädagogische und litterarische Thätigkeit traten in der späteren Lebenszeit Niederer’s die politischen Interessen. N. gehörte zu den Radikalen, aber zu den Cultur-, nicht zu den Brutalradikalen, wie er sie unterschied. Er schwärmte für größere Einheit im Vaterlande, das er mit brennender Liebe umfaßte. Obgleich er unseres Wissens nie einer politischen Behörde als Mitglied angehörte, war sein mittelbarer Einfluß in den Kämpfen der dreißiger Jahre durch seine Bethätigung in der politischen Publicistik, durch seine Correspondenz mit hervorragenden Staatsmännern (namentlich mit seinem Schwager Karl Kasthofer, Oberförster des Kantons Bern, nachher Regierungsrath, † 1853, Verfasser des „Lehrer im Walde“, Bern 1828, und des „Lehrer in den vaterländischen Wirren und Drangsalen“, Zürich 1833) und durch persönliche Anregung jüngerer Männer für den Staatsdienst nicht unbedeutend. Die 1838 in Genf erfolgte Gründung eines vaterländischen Arbeitervereins, des „Grütlivereins“ durch A. Galeer, geht auf seine geistige Initiative zurück. „Seinem Heimathskanton bewahrte er das wärmste Interesse und seine Landsleute vernahmen oft seine aus der Ferne zum Fortschritt anfeuernde Stimme in der „Appenzeller Zeitung“ und in besonderen Broschüren. So empfahl er ihnen mit zündenden Worten die Annahme der neuen Verfassung in den dreißiger Jahren und 1840 die Aufstellung eines guten Schulgesetzes (Heim). – Von dem Besuch der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft in Glarus, Herbst 1843, der er einen Nekrolog über seinen Freund Tobler vortrug, kehrte er krank nach Genf zurück und starb daselbst am 2. December 1843.
Seine Gattin, Rosette N. geb. Kasthofer, geb. am 3. November 1779, überlebte ihn noch 14 Jahre. In ihrer Art nicht minder bedeutend als ihr nachmaliger Gatte, war sie 1809 von Pestalozzi dazu berufen worden, „die Methode ihrem Geschlechte zu geben“, und leitete dann an Niederer’s Seite als anerkannt treffliche Erzieherin das Töchterinstitut in Iferten und Genf. Die Ehe blieb kinderlos. In vorzüglicher Weise verstand es Frau N., die Schwächen ihres Gatten in Geduld zu tragen und trotz derselben nicht nur ihm geordnete äußere Verhältnisse zu schaffen und zu erhalten, sondern auch in unverwandter Verehrung zu ihm aufzuschauen. N. erkannte das auch voll und ganz. Nach einer schmerzensreichen Nacht kurz vor seinem Tode sagte er zu ihr: „Diese Stunden sind mir nicht lang vorgekommen, denn ich habe darüber nachgedacht, ob Du für mich mehr Schwester, Gattin oder Mutter warst.“ Auch Frau N. hat sich schriftstellerisch bethätigt: „Blicke in das Wesen der weiblichen Erziehung“ (1828); „Dramatische Jugendspiele für das weibliche Geschlecht“, 2 Bdchn. (1838); „Dr. J. Niederer’s Briefe an seinen Freund Tobler 1797–1808“, mit einem Vorwort, das eine pietätsvolle Charakteristik Niederer’s aus ihrer Feder enthält (1845). Frau N. starb am 14. August 1857 in Hottingen bei Zürich.
- Appenzellisches Monatsblatt, 1844, Januar bis September. – Neuer Nekrolog der Deutschen, 1843, S. 1025–1028.– Jahrbuch der luzernerischen [82] Kantonallehrerconferenz, Jahrg. 1874, S. 74–87. – Biographien über Dr. Niederer (von Dekan Heim in Gais) u. Frau Niederer (von Seminardirector Morf in Winterthur) in Hunziker, Geschichte der schweizerischen Volksschule, Bd. II (Zürich 1881), S. 141–166. – Artikel „Niederer“ u. „Pestalozzi“ in F. Buisson, Dictionnaire de pédagogie, 1ère partie, Bd. II, S. 2024–2025, 2283–2358 (von J. Guillaume). – In der Pestalozzilitteratur vor allem: H. Morf, Zur Biographie Pestalozzi’s, 2. Thl. (Winterthur 1885), S. 76–116.
[75] *) Zu Bd. XXIII S. 664.