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ADB:Neumann, Carl

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Artikel „Neumann, Karl“ von Joseph Partsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 530–532, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neumann,_Carl&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 21:59 Uhr UTC)
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Neumann: Karl Johann Heinrich N., bedeutender Geograph und Geschichtschreiber, geb. am 27. December 1823 zu Königsberg i. Pr., † am 29. Juni 1880 zu Breslau. Seine Ausbildung fand N. ganz in den Schulen seiner Vaterstadt. Von seinem Vater, einem schlichten Bäckermeister, ursprünglich zum Beruf eines Elementarlehrers bestimmt, ging er 1838, als der früh regsame Geist Höheres zu versprechen schien, von der Lehrerbildungsanstalt an das Kneiphöfische Gymnasium über, 1842 zur Universität, um Geschichte zu studiren. Drumann und Schubert waren die Lehrer, welche auf seinen Entwicklungsgang den meisten Einfluß übten; von jenem blieb ihm dauernd die Schärfe und Unerbittlichkeit des in sorgsamer Erwägung gezeitigten Urtheils, von diesem das Streben, für die Betrachtung jeder Frage einen weiten Horizont zu gewinnen. 1846 schied N. von der Hochschule. Seine völlige Mittellosigkeit verwehrte ihm zunächst die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, den Eintritt in die akademische Laufbahn. Als Hauslehrer gewann er erst in Tarputschen bei der Familie v. Saucken, dann in Steinort beim Grafen Lehndorff seinen Lebensunterhalt. Die Erregung des Revolutionsjahres traf den jugendlichen Geist schon reif und fest gefugt. Mit denselben politischen Anschauungen, denen er sein Leben lang treu blieb, machte er damals schon in den politischen Kämpfen, die seine Heimath bewegten, gleich entschieden gegen die radicale Demokratie wie nach deren Niederlage gegen die Reaction Front. Die Gewandtheit und Schärfe, [531] mit der er in Flugblättern und Zeitungsartikeln die Sache der constitutionellen Partei verfocht, lenkte die Augen der Parteiführer auf ihn. Sie zogen ihn nach Berlin und brachten ihn 1851 an die Spitze der Redaction der Hartung’schen Zeitung zu Königsberg, dann in die Redaction der Constitutionellen Zeitung zu Berlin. Die Früchte eines freimüthigen Wirkens in diesen Stellungen waren 1852 zwei Preßprocesse und in deren Gefolge ein zweijähriger Kampf um das Recht des Aufenthaltes in der Hauptstadt. Erst das unmittelbare Eingreifen des Prinzen von Preußen machte den polizeilichen Uebergriffen ein Ende. Die Erfahrungen jener trüben Zeit, deren Schatten nie mehr ganz aus seiner Erinnerung wichen und seiner ganzen Lebensauffassung einen Anflug von Bitterkeit gaben, verleideten N. die litterarische Thätigkeit auf politischem Felde und drängten ihn gebieterisch zur Rückkehr in die Bahn wissenschaftlichen Strebens. Er nahm die auf der Universität begonnenen Studien über die griechischen Colonien am Pontus wieder auf, vollendete noch 1852 eine Schrift „de rebus Olbiopolitanorum“, auf Grund deren er in Königsberg den Doctorgrad erwarb, und arbeitete dann – materiell durch den Ertrag journalistischer Correspondenzen und die Unterstützung wackerer Freunde über Wasser gehalten – drei Jahre lang an der Vollendung des Werkes „Die Hellenen im Skythenlande“. 1855 erschien der erste (einzige) Band. Die fesselnde Schilderung der Natur der südrussischen Steppen und des Nomadenlebens ihrer alten Bewohner, die scharfsinnige, in ihrer Methode ebenso überraschende, wie unwiderstehliche Behandlung der schwierigen Frage über den Rassencharakter der Skythen, die genaue und doch von warmer Begeisterung getragene Darstellung der griechischen Siedelungen am ungastlichen Pontus errangen dem Buche einen durchschlagenden Erfolg nicht nur in der gelehrten Welt, sondern im gesammten Kreise der Gebildeten, deren Aufmerksamkeit zufällig durch die Weltereignisse gleichzeitig auf den Nordrand des Schwarzen Meeres gelenkt war. Mit einem Male änderte sich die bisher so gedrückte Lage des einsiedlerisch seinem Studium lebenden Verfassers. Ritter und A. v. Humboldt suchten ihn in Berlins wissenschaftliche Kreise zu ziehen; ein vom König von Baiern für die hervorragendste Leistung auf dem Gebiete der Erdkunde ausgesetzter Preis von 400 Gulden wurde auf Ritter’s Vorschlag ihm zuerkannt; die beiden ersten geographischen Zeitschriften Deutschlands, die Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt und die Zeitschrift für Erdkunde zu Berlin, suchten ihn gleichzeitig für ihre Redaction zu gewinnen. Er nahm das Berliner Anerbieten an und erhob die damals der Gothaer Concurrenz nur mühsam sich erwehrende Berliner Zeitschrift durch strenge Gewissenhaftigkeit in der Auswahl und Durchsicht der eingesandten Beiträge, wie durch eigene gediegene und formvollendete Arbeiten schnell zu neuem Ansehen. Er schied aus diesem Wirkungskreise erst, als ihm die Regierung die feste Aussicht auf einen Lehrstuhl an einer Hochschule eröffnete. 1860 wurde er zum außerordentlichen Professor an der Universität Breslau ernannt, verblieb indeß zunächst auf Grund eines Abkommens der betreffenden Ministerien in Berlin, um erst im Staatsministerium (R. v. Auerswald), dann im Ministerium des Auswärtigen (Graf Bernstorff) als Hülfsarbeiter thätig zu sein. Nach dem Ministerwechsel im Herbst 1862 bat N. um die Erlaubniß, sein akademisches Lehramt antreten zu dürfen, die ihm nach wiederholtem Gesuch im nächsten Frühjahr bewilligt wurde. Im November 1863 begann er an der Universität Breslau, wo zwei Jahre später für ihn ein ordentlicher Lehrstuhl geschaffen wurde, seine Vorträge über Geographie und alte Geschichte. Im vollen Bewußtsein, zwei in ihren Grundlagen wesentlich verschiedene, wenn auch in ihren Ergebnissen vielfach sich berührende Wissenschaften zugleich vertreten zu müssen, verzichtete N. nun grundsätzlich auf die reiche litterarische Thätigkeit und setzte seine volle Kraft ein für die Ausarbeitung und die beständige Vervollkommnung [532] einer ungewöhnlich umfangreichen Reihe tiefgehender Vorlesungen. In allen bahnte sich seine Forschung eigene Wege und das Ergebniß der selbstständigen Geistesarbeit trat vor den Zuhörer in einer des gewichtigen Inhalts würdigen Form. Der originale Werth seiner geschichtlichen Vorträge entsprang theils aus dem seltenen Vorzug der praktisch-politischen Schulung seines Geistes in der langen ernsten Beschäftigung mit dem politischen Leben der Gegenwart, theils aus der Gewöhnung, alle Vorgänge und Zustände der Vergangenheit in enger lebensvoller Verbindung mit dem Boden zu betrachten, auf dem sie sich entwickelt hatten. Diese ungewöhnliche Vermählung von Alterthumsforschung und Erdkunde trug auch in manchen geographischen Vorlesungen werthvolle Früchte. Aber N. erfaßte die Geographie keineswegs einseitig vom Standpunkt des Historikers, sondern forderte für sie als unentbehrliches Fundament gründliche naturwissenschaftliche Studien. Alle seine Vorlesungen, namentlich die über die Alpen, welche er in 20 Sommern beobachtend durchwandert hatte, legten Zeugniß ab, wie ernst er selbst die Erfüllung dieser Forderung nahm. Bei dieser hohen Auffassung seiner Aufgabe ging er völlig auf in seinem Lehrberufe. Wohl drang die Kunde von seiner Wirksamkeit auch an andere Hochschulen; die Universitäten Straßburg und Leipzig machten Anstrengungen, diese ungewöhnliche Lehrkraft zu gewinnen. Aber er blieb dem selbstgeschaffenen Breslauer Wirkungskreise treu bis an sein Lebensende. Nach schwerer in einsamem Dulden fest ertragener Krankheit erlag er 1880 einem Lungenemphysem. Die Zurückgezogenheit, in der er gewirkt, rechtfertigte den Entschluß seiner Schüler, von den geistvollen und gründlichen Arbeiten, die er in seinen Vorlesungen niedergelegt, auch der weiteren Oeffentlichkeit eine unmittelbare Anschauung zu gewähren. Durch eindringende Einsicht in verwickelte politische Verhältnisse und feine psychologische Charakteristik der hervorragenden Persönlichkeiten zeichnet sich aus die von E. Gothein und G. Faltin herausgegebene „Geschichte Roms während des Verfalles der Republik, vom Zeitalter des Scipio Aemilianus bis zum Ausgange der catilinarischen Verschwörung.“ 2 Bde. Breslau 1881 und 1884. In der von G. Faltin herausgegebenen und durch die Darstellung der Jahre 208–201 v. Chr. ergänzten „Geschichte des Zeitalters der punischen Kriege“, Breslau 1883, erregte die an neuen Gesichtspunkten reiche Behandlung von Hannibal’s Alpenübergange besondere Bewunderung. Als würdiger Nachfolger Karl Ritter’s offenbarte sich N. in der von dem Unterzeichneten zur Hälfte neu bearbeiteten „Allgemeinen physikalischen Geographie von Griechenland“, Breslau 1885. Daß er aber nicht nur ein Meister war in der Ableitung einer vielseitigen Culturentwickelung aus den natürlichen Lebensbedingungen eines Volkes, sondern auch Problemen gewachsen war, welche die Erdkunde nur auf Grund specieller geologischer Forschungen angreifen kann, bewies die wohldurchdachte Untersuchung über „die Grenzen der Alpen“, Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins XIII, 1882, S. 189–229.

J. Partsch, Zur Erinnerung an Carl Neumann. Zeitschrift der Gesellsch. für Erdk. zu Berlin. XVII, 1882. S. 81–111.