ADB:Nebelthau, Friedrich August Wilhelm
Kurfürsten Wilhelm I. seine Stellung als Posthalter in Kassel aufgegeben und lebte zur Zeit des Königreichs Westfalen von der Bewirthschaftung des nahen Pachtgutes Fasanenhof. So kam es, daß sich auch N. Anfangs der Landwirthschaft widmete. Da sein Vaterhaus während der Fremdherrschaft einen Vereinigungspunkt vieler treuer Hessen bildete, so stärkten die hierdurch gewonnenen Eindrücke seine Liebe zum Angestammten und Hergebrachten. Nach der Schlacht bei Leipzig, als noch die Russen Kassel besetzt hielten, rief der abwesende Kurfürst Nebelthau’s Vater in seine Stellung zurück und sicherte ihm am 3. März 1816 auch für seine Erben und Nachkommen die Posthalterei zu. N. gab nun die Landwirthschaft auf und nachdem er sich vorübergehend der Tonkunst gewidmet, studirte er 1823 in Marburg, seit 1825 in Göttingen die Rechte und wurde 1828 als Rechtsanwalt in Kassel angestellt. Um diese Zeit veröffentlichte er in der Leipziger Allg. musikal. Ztg. mehrere Aufsätze. 1836 wurde er durch die Wahl zum Abgeordneten der Stadt Hersfeld im kurhessischen Landtag zu einflußreicher Thätigkeit berufen. Er widersetzte sich hier alsbald lebhaft und erfolgreich dem Versuche Hassenpflugs, einen wesentlichen Grundsatz der Gemeindeordnung von 1834, die Gleichstellung des Charakters einer Stadt- [349] und Dorfgemeinde, aufzuheben und bekämpfte eine Zumuthung dieses Ministers, das landständische Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung für bestimmte Fälle zu opfern. Auf den folgenden Landtagen bis 1850 nacheinander Abgeordneter der Städte Hersfeld, Melsungen, Kassel und Eschwege, trat er 1837 beim Streite über die Einkünfte der sog. Rotenburger Quart in hervorragender Weise für die Rechte des Landes auf. Von besonderer Bedeutung war auch sein Ausschußbericht zur Vertheidigung des landständischen Ausschusses gegen vielfache Beeinträchtigungen durch die Regierung. Eine besondere Stellung nahm er im Dec. 1837 bei den Verhandlungen über das Grundsteuergesetz ein, wo er eine ausgedehnte Entschädigung der Ritterschaft für die Aufhebung der Steuerfreiheit befürwortete. Aufsätze von ihm im Kasseler „Rechtsfreund“ über „Wahrheit und Irrthum in der Maurenbrecher’schen Schrift: Die deutschen regirenden Fürsten und die Souveränetät“ erschienen auch als besondere Schrift (Kassel 1839). An der Wahrung der Rechte der Volksvertretung und an der Bekämpfung der Versuche, die Verfassung unwirksam zu machen, betheiligte er sich mit Eifer auch dem Ministerium Scheffer gegenüber. Auf dem im Dec. 1842 eröffneten Landtage trennte er sich jedoch insofern von seinen Genossen, als er sich für Unentbehrlichkeit der Censur und gegen eine Ablösbarkeit der Lehen aussprach. Im Landtage von 1845–46 führte er den Vorsitz, in dem von 1847 war er Vicepräsident. In den Tagen der hochgehenden Bewegung von 1848 stand er als Vicebürgermeister an der Spitze des Stadtraths von Kassel, welcher dem Kurfürsten eine Adresse mit der Bitte um Abstellung einer Reihe von Beschwerden überbrachte. 1848 und 49 unterstützte er im Landtage die Bemühungen des Märzministeriums um Schaffung zeitgemäßer Gesetze. 1859 war er wiederum Vicepräsident des Landtags wie auch Mitglied des Volkshauses des Unionsparlaments für den Bezirk Eschwege. Als sich der Kurfürst im Frühjahr 1850 mit der Einsetzung eines neuen Ministeriums trug, ließ er N. das Innere antragen. Dieser, Anfangs geneigt, lehnte entschieden ab, als er hörte, daß Hassenpflug an die Spitze treten sollte. In dem Landtage, mit welchem letzterer den Streit begann, war N. Vicepräsident. Auch gehörte er dem bleibenden Ausschusse an, welcher der vorläufigen Steuererhebung zustimmte. Im zweiten Landtage von 1850 trat er, trotz der demokratischen Mehrheit, besonders hervor durch seine für die wichtigsten Ausschüsse erstatteten Berichte über die mit Hassenpflug streitigen Fragen. Nachdem die Regierung ihre Verordnungen mittelst Denkschrift vom 19. Sept. 1850 bei den Bundesregierungen zu rechtfertigen versucht hatte, betheiligte sich N. an einer Gegenschrift. Zur Zeit der Bundesexecution vertheidigte er viele Angeklagte vor dem Kriegsgerichte. Während der Reactionszeit trat N. öffentlich nicht hervor, aber der 1859 beginnenden Bewegung für Herstellung der Verfassung von 1831 schloß er sich bald an durch die Schrift: „Der Bundesbeschluß vom 27. März 1852 in der kurhessischen Verfassungssache ist erschlichen“ (Hamb. 1860). Dieselbe war namentlich auch gerichtet gegen die Anklagepunkte, welche die Regierung in ihrer Denkschrift vom 10. Oct. 1859 gegen jene Verfassung aufgeführt hatte. Ferner war er betheiligt an den „Flugblättern der Verfassungsparthei“ und an der von den kasseler Stadtbehörden am 9. Juni 1860 an den Bundestag gerichteten Verwahrung gegen die Verfassung vom 30. Mai 1860. Am 10. August 1860 unter Rechtsverwahrung zum zweiten Abg. Kassel’s in die zweite Kammer gewählt, erklärte er sich bei Annahme des Vorsitzes für Fortbestand aller seit 1850 unrechtmäßig beseitigten Gesetze. Nachdem sich diese Kammer für unzuständig erklärt, liefen bei ihm Anerkennungsadressen aus vielen Theilen Deutschlands ein. Der gleichen Erklärung der folgenden zweiten Kammer ging eine würdige Ansprache des wieder [350] präsidirenden N. voraus. Nachdem sich jener Vorgang auch am 8. Dec. 1862 wiederholt hatte, hielt er eine, die Haltung des Landes bestärkende Ansprache mit Vorwürfen gegen die Minister, das Petitionsrecht mit Füßen zu treten. Es bezog sich dies auf Hindernisse, welche der von N. mitveranstalteten sogenannten Riesenadresse des Landes an den Bundestag bereitet waren. Nach Herstellung der Verfassung von 1831 war N. Präsident der 1862 und 1863 eröffneten Landtage. Seiner Besonnenheit sind die geschickten Beschlüsse mitzuverdanken, durch welche der Regierung des Kurfürsten erschwert wurde, die Verzögerung der nothwendigen Gesetzesvorlagen fortzusetzen. N. übte auch sonst großen Einfluß für eine ruhige Entwickelung der öffentlichen Dinge Kurhessens; nachdem aber der bleibende Ständeausschuß seit 1864 wiederholt den fast völligen Stillstand des Staatslebens festgestellt hatte, warnte N. am 5. Febr. 1866 bei Vertagung des Landtags die Regierung, nicht ihr Spiel mit diesem zu treiben und drückte am 14. Juni in einer Präsidialansprache die Hoffnung aus, die Regierung werde bei der drohenden Gefahr in der Verfassung die sicherste Gewähr, vielleicht die einzige Bedingung ihrer eigenen Erhaltung erkennen. In der Nacht vom 19. Juni machte N. einen vergeblichen Versuch, den Kurfürsten zur Nachgiebigkeit gegen Preußen zu bewegen. Als am 20. der Kurhessen besetzende preußische General v. Beyer im bleibenden Ständeausschusse erschien, reichte er N. die Hand um sie „damit dem kurhessischen Volke zu reichen“. Mit der neuen Wendung der Dinge einverstanden, theilte er doch mit Vielen in Hessen Besorgnisse wegen der künftigen Stellung, der Wahrung von Rechten und Eigenthümlichkeiten des Landes. Als er daher am 27. Aug. 1866 an der Spitze einer Abordnung des kasseler Stadtraths dem König Wilhelm in Berlin die volle Hingebung in den neuen Gang der Dinge versicherte, drückte er zugleich die Hoffnung auf thunlichste Schonung der vielhundertjährigen Einrichtungen Hessens aus und am 19. Sept. richtete er und 42 hessische Abgeordnete an den Civiladministrator die Bitte, dahin zu wirken, daß während der Uebergangszeit die Regierung unter Mitwirkung der bisherigen Landesvertretung geführt werde. Der Schritt war vergeblich, worauf N. und Genossen von demokratischer Seite als die Todtengräber des hessischen Landesrechts bezeichnet wurden. In der That aber blieb er auch ferner für dieses thätig. Am 12. Mai 1867 bat er mit 11 hessischen Abgeordneten den Oberpräsidenten um Belassung des kurhessischen Staatsschatzes für Bedürfnisse der Provinz; als aber im Gegentheil die Verordnung vom 5. Juli 1867 die Verwaltung dieses Fonds der Generalstaatscasse übertrug, stand N. im Begriff, aus Mißmuth die Stelle eines Oberbürgermeisters von Kassel niederzulegen, doch ließ er sich bewegen, den König in Ems aufzusuchen, der dann am 7. Aug. in Kassel die Bitte zum Theil gewährte. Auch befand sich N. unter den Vertrauensmännern, welche im Sept. 1867 in Berlin die Frage einer Neuordnung der wesentlichsten Einrichtungen Hessens begutachteten. Am 18. Dec. 1867 wurde er auf Präsentation der Stadt Kassel in’s Herrenhaus berufen. Seine Thätigkeit ging hinfort in seiner Stellung als Oberbürgermeister auf, zu welcher er schon am 20. August 1864 gewählt war, aber erst am 3. Juli 1866 von der preußischen Verwaltung bestätigt werden konnte. Im Reichstag 1869–71 den Bezirk Marburg vertretend, war N. Mitglied der Kaiserdeputation in Versailles. Auf deren Rückreise feierte er in Nancy in einer Tischrede den Präsidenten Simson. N. starb in Kassel am 31. Juli 1875. Die dortigen Stadtbehörden sagten in einem Nachrufe: „Der Besten Einer hat er in den politischen Kämpfen des Landes durch hingebenden Patriotismus und seinen unbeugsamen Sinn für Recht und Gerechtigkeit sich hohe Verdienste weit über die Grenzen des Hessenlandes erworben.“ Durch Schreiben vom 1. Aug. sprach der Kaiser jenen Behörden seine Theilnahme aus und hob Nebelthau’s Jahrzehnte lang der Stadt [351] Kassel geleistete Dienste sowie die „selbstlose, charaktervolle Weise hervor, in welcher sich sein Patriotismus in den verschiedensten und schwierigsten Verhältnissen bestätigt hat“. – Nekrol. in Hessische Morgen-Z. Nr. 6821 und Kass. Tagebl. Nr. 211 von 1875.
Nebelthau: Friedrich August Wilhelm N., kurhessischer Staatsmann, geb. den 22. Jan. 1806 in Kassel, stammte aus einer urkundlich schon 1427 erwähnten, nach den Kirchenbüchern von Kassel seit 1680 hier heimischen Familie. Er war das zweite der fünf Kinder des kurfürstlich hessischen Oberpostmeisters Johann Jakob N. († 1839) in Kassel und der Tamina geb. Rösing aus Leer († 1860). Der Vater hatte aus Anhänglichkeit an den von den Franzosen vertriebenen- Grenzboten 1848, 1 Sem., 1. Bd. S. 57; Wippermann, Kurhessen seit d. Freiheitskriegen (Kass. 1850); Gartenlaube 1862, Nr. 14; Leipz. Illustr. Z. Bd. 40, Nr. 1038 von 1863; Staatslex., 3. Aufl., Art. „Hessen-Kassel“; „Kurhessen seit 1860“ in „Unsere Zeit“ (Leipz. 1866, Bd. 2); Die Todtengräber des kurhess. Landrechts (Leipz. 1868); Braun, Bilder a. d. d. Kleinstaaterei. Neue Folge. Bd. 1, (Berl. 1870); Müller, Kassel seit 70 Jahren, Bd. 2 (Kass. 1879); Nord und Süd, Bd. II (1879) S. 127; Pfaff, Erinnerungen (Gotha 1883); Memoiren des kurhess. Ministers Abee in „Hess. Bl.“ vom 25. Oct. 1884. Seine Thätigkeit im zweiten hessischen Verfassungsstreite und nach 1866 ist ausführlich behandelt im 3. Bande von F. Oetker’s Lebenserinnerungen (Kassel 1885).