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ADB:Melzer, Ernst

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Artikel „Melzer, Ernst“ von Carl Jentsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 313–315, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Melzer,_Ernst&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 13:39 Uhr UTC)
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Melzer: Ernst M. wurde am 21. September 1835 zu Leisersdorf im Kreise Goldberg (Schlesien) geboren, mußte sich auf dem katholischen Gymnasium zu Glogau mit Stundengeben mühsam durchschlagen, zeichnete sich trotzdem aus und brachte es namentlich zu bedeutender Fertigkeit im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der lateinischen Sprache. In Breslau hörte er philosophische und theologische Vorlesungen bei Baltzer und Elvenich, zwei entschiedenen Vertretern der Günther’schen Philosophie, sowie bei Reinkens, und löste zwei Preisaufgaben; in Bonn erwarb er sich 1860 die philosophische Doctorwürde. Die Mittel zur Vorbereitung auf das philologische Staatsexamen, das er erst 1868 bestand, mußte er sich in Redacteurstellungen (an der conservativen „Provinzialzeitung“ in Breslau und am „Glogauer Stadt- und Landboten“) verdienen. Im Herbst 1868 trat er an der Realschule zu Neiße sein Probejahr an, wurde 1871 an dieser Anstalt, die seit 1882 Realgymnasium ist, definitiv angestellt und unterrichtete daran bis 1885. Die treue Erfüllung seiner Amtspflichten hinderte ihn nicht, unablässig und mit Begeisterung seiner Lieblingswissenschaft, der Philosophie, obzuliegen und die Früchte seiner Studien in einer langen Reihe von Schriften zu veröffentlichen. Seine (1860 bei Carthaus in Bonn erschienene) Doctordissertation hatte „Augustini et Cartesii placita de mentis humanae sui cognitione“ behandelt, und Augustin, Cartesius und Günther blieben seine Leitsterne. Von Günther’s Lehre eignete er sich kritisch sichtend die Grundgedanken an, die er (in der Baltzerbiographie) folgendermaßen zusammenfaßt: „Der Mensch ist die formale Synthese des Weltgegensatzes in Geist und Natur, das bedingte Gegenbild des unbedingten göttlichen Seins und reales Schlußglied des dreigliedrigen Weltorganismus, des geschöpflichen Gegenbildes der ungeschaffenen trinitarischen Gottheit. Von den Substanzen ist keine völlig tot, sondern jede strebt nach Selbstoffenbarung ihres Seins in Erscheinungen. Die gemeinsame Lebensform aller Wesenheiten ist Streben nach dem Wissen um sich. Die göttliche Substanz setzt dieses Wissen in absoluter Vollkommenheit durch: Gott schaut sein reales Ich in realer Selbstvergegenständlichung im Sohne an und erfaßt sich zugleich als wesenhafte absolute Einheit des Anschauenden und des Angeschauten, als absolutes Subject-Object im Heiligen Geiste. Der geschaffene Geist hingegen bringt es in seinem Selbsterkennungsprozeß zu keiner realen Vergegenständlichung [314] und damit auch zu keiner Selbstanschauung seiner Substanz; er gelangt vielmehr zu einer formalen Verinnerung seiner selbst mittelst des Ichgedankens. Die Natursubstanz kommt im Streben nach Selbsterfassung nur zur Wahrnehmung ihrer Erscheinungen und nicht zum Wissen um sich als Realgrund dieser Erscheinungen. Der Mensch entdeckt durch die Zergliederung der Thatsachen seines Selbstbewußtseins seine eigne Endlichkeit, Relativität und Geschöpflichkeit und den dreieinigen Schöpfer. Er findet ferner in sich zwei Lebensprincipien und mit diesen zwei Denkprincipien gegeben. Der Leib hat seine eigne Seele, die mit dem Geiste zur formalen Einheit, zu einer Person verbunden ist. Nur vom Standpunkte dieses doppelten Dualismus (Schöpfer und Geschöpf, Natur und Geist) aus sind wahre Philosophie und ein vernünftig begründetes Christenthum möglich. Der Pantheismus, der Rationalismus, der Atheismus bleiben im Naturdenken befangen, können im Menschen nichts sehen als die höchste Blüthe der Natur und vermögen die Unsterblichkeit des Menschengeistes nicht anzuerkennen.“ Von diesem Standpunkte aus hat M. u. a. Kant und Fichte vortrefflich kritisirt (an jenem rügt er, daß er nur der praktischen, nicht auch der theoretischen Vernunft Autonomie zugesteht („das Gewissen ist nur denkbar auf der Grundlage des Wissens“) und daß er die Autonomie des Menschen nicht auf die Theonomie zurückführt) und hat er das Verhältniß Goethe’s zu Spinoza und Kant sehr schön und befriedigend dargestellt. In eine ungünstigere Zeit konnte M., dem noch dazu sein Entwicklungsgang tiefere Einsicht in die Naturwissenschaften versperrt hatte, mit seinen Bestrebungen nicht treffen als in die siebziger und achtziger Jahre, wo Häckel’s Monismus seine Triumphe feierte, der sich eher noch mit dem katholischen Thomismus als mit dem schroffen Doppeldualismus Günther’s vertragen könnte; und dieser wurde noch dazu von der Kirche verurtheilt. Es war natürlich, daß sich die Güntherianer, unabhängige Denker und als solche schon in Oppositionsstellung gerathen, 1870 der altkatholischen Bewegung anschlossen, und M. folgte auch darin seinen verehrten Lehrern. So konnte er bei keiner der um die Herrschaft ringenden geistigen Mächte auf Anerkennung rechnen, und er würde wol kaum einen Verleger gefunden haben, wenn ihm nicht die wissenschaftliche Gesellschaft Philomathie in Neiße zur Veröffentlichung seiner Abhandlungen verholfen hätte, deren Mitglied er dreißig Jahre lang (zwei Jahre lang als Secretär) gewesen ist. Er war ihr eifrigster Vortragender; in ihren Jahresberichten sind außer kurzen Referaten über seine Vorträge seine meisten, in schlichter, verständlicher, schöner Sprache geschriebenen Abhandlungen erschienen, von denen dann erweiterte Sonderabdrücke herausgegeben wurden, die vielfach in philosophischen Zeitschriften Beachtung gefunden haben. Seine Studien über mehrere unsrer großen Dichter und Denker und seine für die Geschichte des deutschen Katholizismus wichtige Lebensbeschreibung Baltzer’s offenbaren sein Talent für Biographie, und es ist zu bedauern, daß ihn der Tod ereilte, ehe er die begonnene Lebensbeschreibung seines Bonner Lehrers Knoodt vollendet hatte, der ebenfalls Güntherianer und ein Führer der Altkatholiken war.

Körperliche Gebrechen, die seine Lehrthätigkeit erschwerten, veranlaßten ihn, sich schon nach siebzehn Amtsjahren pensioniren zu lassen. Die Pension konnte bei dem damals noch kärglichen Lehrergehalt nicht hoch ausfallen und sie wurde beinahe von dem Jahrgelde absorbirt, das er seiner Frau zahlen mußte, von der er sich ihres schlechten Charakters wegen nach kurzem Zusammenleben getrennt hatte. So sah er sich denn genöthigt, seinen eignen Lebensunterhalt durch Arbeit zu erwerben und übernahm noch einmal die Glogauer Redacteurstelle, bis sich ihm in der Redaction des „Altkatholischen Volksblatts“ in Bonn [315] eine seiner Bildung und seinen Neigungen angemessenere Versorgung darbot. Am 1. Februar 1899 erlöste ihn dort ein Blutsturz von der Lebensmühsal, in der ihm außer seinen philosophischen Studien kaum eine Erquickung beschieden gewesen war. Melzer’s hervorstechende Charaktereigenschaften, Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, waren keineswegs durch Armuth und sonstige Ungunst der Lage gezüchtete Sklaventugenden, sondern entsprachen seiner philosophischen Einsicht und gingen aus einem harmlosen und liebreichen Herzen hervor. Dieses bewahrte ihn vor Verbitterung und bewährte sich durch die wirklich vornehme Art seiner Polemik, in der kein beleidigendes Wort vorkommt, und in der Milde seines Urtheils; niemals hörte man ihn irgend jemandem Uebles nachreden; für Klatsch war er nicht zu haben. Und bei all dem Druck, unter dem er litt, blieb er ein treuer, teilnehmender Freund seiner Freunde und ein heiterer, liebenswürdiger Gesellschafter. Im dreißigsten Bericht der Philomathie hat ihm der Secretär der Gesellschaft, Oberlehrer Christoph, einen warmen Nachruf gewidmet, dem das nachstehende Verzeichniß seiner Schriften entnommen ist.

Als Sonderabdrücke aus den Philomathieberichten sind im Graveur’schen Verlag (Gustav Neumann) zu Neiße erschienen: 1. „Eduard v. Hartmann’s Philosophie des Unbewußten“; 2. „Die Entwicklung des deutschen Kaiserthums“; 3. „Die Lehre von der Autonomie der Vernunft in den Systemen Kant’s und Günther’s“; 4. „Die Unsterblichkeitslehre J. G. Fichte’s“; 5. „Goethe’s philosophische Entwicklung“; 6. „Erkenntnißtheoretische Erörterungen über die Systeme von Ulrici und Günther“; 7. „Die theistische Gottes- und Weltanschauung als Grundlage der Geschichtsphilosophie“; 8. „Goethe’s ethische Ansichten“; 9. „Die Augustinische Lehre vom Kausalitätsverhältniß Gottes zur Welt“; 10. „Der Beweis für das Dasein Gottes und seine Persönlichkeit“; 11. „Die Unsterblichkeit auf Grundlage der Schöpfungslehre“. Im Realschulprogramm sind veröffentlicht: 12. „Herder als Geschichtsphilosoph“; 13. „Lessing’s philosophische Grundanschauung“. Bei J. Neusser in Bonn erschien 1877: 14. „Johannes Baptista Baltzer’s Leben, Wirken und wissenschaftliche Bedeutung“, und in Karl Hinstorff’s Verlag (Leipzig und Danzig 1889) „Joh. Jos. Ign. v. Döllinger“. Außerdem finden sich in den Philomathieberichten Referate über folgende Vorträge: „Buckles Geschichte der Civilisation in England“; „Hegel’s Beweis vom Dasein Gottes“; „Eduard v. Hartmann’s Entwicklungsgang und Religion der Zukunft“; „Joseph v. Eichendorff“, „Der Dichter Hermann Kunibert Neumann“; „Kehrbach’s Monumenta Germaniae paedagogica“; „Eichendorff und die romantische Schule“.