ADB:Mattheson, Johann
Schott’s Leitung in voller Blüthe stand. Er war einer jener gottbegnadeten Menschen, denen alles, was sie beginnen, gelingt. Kein Wunder, wenn ihm die fesselnden Schranken der Schulwissenschaft nicht zusagten und er seinen eigenen Weg ging. Durch das Bewußtsein, Alles aus sich und durch sich zu empfangen, erzeugte sich in seinem Charakter jene bedenkliche Neigung zu Eitelkeit und Ueberhebung, durch die so mancher zu Grunde geht; M. aber fand stets das Gleichgewicht wieder und sein erstaunlicher Fleiß nebst einem hohen Ehrgefühle ließen ihn seine Geistesgaben dennoch in der trefflichsten Weise verwerthen.
Mattheson: Johann M., einer der bedeutendsten musikalischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, der sich aber auch als Sänger, Componist und sogar als geschickter Diplomat ausgezeichnet hat. Er wurde am 28. September 1681 zu Hamburg geboren; seine Vorfahren gehörten einem norwegischen Adelsgeschlecht an, doch scheint sich bereits der Urgroßvater seines Adels begeben zu haben. Dieser war Stadtschreiber zu Wismar. Dessen Sohn wird als „wohlversuchter Kriegsmann“ erwähnt und der Vater Johanns bekleidete bei dessen Geburt einen Accise-Einnehmer-Posten zu Hamburg. Seine Mutter, eine brave Friesin, geb. Höling aus Rendsburg, wird als eine fromme und glaubensfeste Frau geschildert, deren religiöse Uebungen der Sohn, trotz seiner Streitsucht, seines lebhaften Charakters und seiner vielseitigen aufreibenden Beschäftigungen dennoch bis ins hohe Alter beibehielt. Sie wurden ihm von vielen Seiten als Heuchelei ausgelegt, da sie zu seinem sonstigen Charakter so wenig paßten und doch scheinen sie aus innerem Drange entsprungen zu sein. Mochten sie immerhin zum Theil auf Gewohnheit beruhen, so haben sie ihm doch wol in seinem vielbewegten Leben als Augenblicke der Sammlung und Beruhigung gedient. Die Eltern verwendeten auf den ihnen allein übrig gebliebenen Sohn allen Fleiß einer sorgsamen Erziehung. Den ersten Unterricht erhielt er von Privatlehrern, bis er später als Schüler in das Johanneum aufgenommen wurde. Neben der Pflege der geistigen Kräfte wurden die körperlichen nicht vernachlässigt und reiten wie fechten standen mit den Schulwissenschaften in regelmäßiger Abwechselung. Obgleich der Wunsch des Vaters ihn der juristischen Laufbahn bestimmte, scheint er doch keinen vorschriftsmäßigen Cursus durchgemacht zu haben, wenn er auch noch auf dem Johanneum einige juristische Collegien besuchte. Der Vater, schwach genug, scheint dem Sohne in Allem freien Willen gelassen zu haben. So kostete er hier und dort herum, betrieb dies und jenes und bei seinem vortrefflichen Fassungsvermögen eignete er sich wie im Fluge eine Menge Fertigkeiten an. So auch in der Musik. Mit einer prächtigen Sopranstimme ausgestattet, ließ er sich schon als Knabe öffentlich hören, erlernte mehrere Musikinstrumente, componirte, brachte seine Compositionen zur Aufführung und trat schließlich in Frauenrollen auf der Hamburger Opernbühne auf, die damals unter[622] Es war nothwendig, dieser eigenthümlichen Mischung von Geistesfähigkeiten und Schwächen von vornherein auf den Grund zu gehen, um den vielfach absprechenden und schmähenden Urtheilen der Neuzeit entgegenzutreten, die den einzelnen Aeußerungen seines Lebens gegenüber wol gute Berechtigung haben, doch aber ungerecht sind, wenn man den ganzen Mann ins Auge faßt. Wer ihn nur aus Chrysander’s Händel-Biographie kennen lernt, wird sich allerdings wenig erbaut von ihm fühlen; er sieht hier nur einen Großprahler, der sich zum Vormunde Händel’s aufdrängt, und wo er die Krallen des Löwen fühlt, den Spieß hinterrücks umkehrt. Das zeigt aber nur die Schattenseiten des Mannes, während seine Verdienste nicht zur Geltung kommen.
Wir kehren zur Schilderung seines vielbewegten Lebens zurück. Bereits 1690 trat er als Sänger in Frauenrollen auf der Hamburger Bühne auf und blieb dem Theater bis ins Jahr 1705 treu, nicht allein als Sänger, sondern auch als Director, Accompagneur am Clavier und Operncomponist. Unterricht ertheilen, juristische Studien, besonders Cameralia und die Erlernung verschiedener neuerer Sprachen füllten die übrige Zeit aus. Im J. 1703 kam Händel nach Hamburg und M. nimmt ihn nach Gönnermanier, wie er selbst schreibt, unter seine Fittiche, obwol er nur vier Jahre älter als Händel war. Sie müssen anfänglich ein ganz vergnügliches Leben geführt haben und M. verstand es vortrefflich, den genialen Jüngling zu seinem Besten auszubeuten, obgleich er sich stets den Schein des Wohlthäters zu wahren weiß. Da Händel sich über sein Verhältniß zu M. nie ausgesprochen hat, so ist es schwierig manche Begebenheit, die nur durch Mattheson’s Mittheilung bekannt ist, unparteiisch zu beurtheilen. So gab z. B. Händel bei dem großbrittannischen Gesandten, Herrn v. Wich, Unterricht. Nach Mattheson’s Mittheilung versäumte Händel aber vielfach seine Verpflichtungen, so daß er selbst an seiner Statt engagirt ward. Da Händel sehr viel Musikunterricht in Hamburg gab und sich dadurch ein kleines Kapital erwarb, welches ihm den Aufenthalt in Italien ermöglichte, so läßt sich nicht einsehen, warum er gerade dort seine Pflichten versäumt haben sollte; wahrscheinlicher ist es, daß M. ihn absichtlich aus dem Hause drängte, um selbst dort festen Fuß zu fassen, denn er wußte sich durch seine juristischen Kenntnisse und seine gewandte Federführung dem Gesandten so unentbehrlich zu machen, daß ihn derselbe 1706 als Secretär mit einem ansehnlichen Gehalte anstellte. Später hatte er auch Gelegenheit ihn bei Abwesenheit desselben persönlich zu vertreten und ebenso wurde er verschiedene Male mit diplomatischen Missionen betraut. Man glaubt fast zwei verschiedene Persönlichkeiten vor sich zu haben, hier den schlauen, verschwiegenen Diplomaten, der mit Ruhe und Zähigkeit sein Ziel verfolgt, diplomatische und staatswissenschaftliche Abhandlungen schreibt, die allein genügen das Leben eines Mannes auszufüllen, und in der Musik den offenen schneidigen Litteraten, der sich mit der ganzen Welt um theoretische Fragen herumbalgt und ein dickleibiges Werk um das andere zum Aerger seiner zahlreichen Feinde vom Stapel läßt. Dabei componirt er Opern, Oratorien, Instrumentalwerke und findet immer noch so viel müssige Zeit, Werke aus fremden Sprachen ins Deutsche zu übersetzen. 1722 schloß er sich sogar der Societät an, welche die Verwaltung der Oper in die Hand nahm, um sie aus dem Verfall zu retten und ihr womöglich den einstigen Glanz wieder zu verleihen. Daß M. sich dabei nicht nur nominell betheiligte, sondern vielmehr einer der Ersten war, welcher sich der Angelegenheit mit Eifer annahm, läßt sich ganz bestimmt voraussetzen. Doch die Zeit war vorbei und selbst M. konnte den Verfall nicht mehr hemmen. Außer solchen vorübergehenden Nebenämtern bekleidete er lange Zeit das Cantorat an der Domkirche in Hamburg, woselbst er auch später ein Canonicat erhielt. Ob der Titel „Herzoglich Holsteinscher Kapellmeister“ mit irgend [623] welcher amtlichen Thätigkeit in Verbindung stand, ist heute nicht mehr ersichtlich. Ein zunehmendes Gehörleiden, was schließlich in Taubheit ausartete, zwang ihn schon 1728 jede praktische Ausübung der Musik aufzugeben. Mit desto größerem Eifer setzte er seine litterarische Thätigkeit fort und ein einstmals von ihm leicht hingeworfenes Wort: er mache sich anheischig so viel Werke zu schreiben als er Jahre zähle, hat er nicht nur eingelöst, sondern weit übertroffen, obgleich er fast 83 Jahr alt geworden ist.
Seine Compositionen, die aus mehreren Opern, Oratorien, Liedern und Claviersachen bestehen, haben nur geringen Werth. So lebhaft seine Fantasie sich erregte, wenn es sich um theoretische Themata handelte, so wenig stand ihm die Sprache der Töne zu Gebote. Er bewegt sich zwar, in Form und Ausdruck gewandt, in den Grenzen der damaligen Kunstfertigkeit, ist auch stets bereit den sich neu anbahnenden Ideen zu huldigen und sie praktisch zu verwerthen[WS 1], wie den Gebrauch der modernen 24 Tonarten – der Neuheit halber zeichnet er auch wol einmal 6 ♭ oder 6 ♯ vor – doch seine musikalischen Gedanken, die Themen und Melodien, nebst der Durchführung und Bearbeitung derselben, erreichen kaum das gewöhnliche Maß des damals Zulässigen. Mit kleinen winzigen Themen muß er sich begnügen und armselig ist die Durchführung derselben. Alle Hilfsmittel, die damals zu Gebote standen, nimmt er bereitwilligst auf, doch hier hatte ihm die Natur, die ihn im Uebrigen so reich bedacht, eine Grenze gezogen, über die er nicht hinweg konnte. Dennoch scheint er unmäßig Vieles componirt zu haben, obgleich uns heute nur wenig davon bekannt ist, da im Verhältniß nur Weniges im Druck erschien. Doch sagt Gerber in seinem alten Lexikon von 1790 (S. 910): Praktische Werke im Manuscript sind eine solche Menge vorhanden, daß es hier zu weitläufig wäre sie alle namhaft zu machen; darauf führt er 9 Opern und 24 große Oratorien an.
Seine litterarischen Erzeugnisse, wenn wir die juristischen, staatswissenschaftlichen und die Uebersetzungen bei Seite lassen, da sie heute nur noch ein antiquarisches Interesse haben, nehmen unsere Aufmerksamkeit von verschiedenen Seiten in Anspruch. Fast allen Fächern der Musikausübung und Musikwissenschaft widmete er seine Kräfte, und haben die einen dieser Werke heute nur noch geringen Werth, so ist der der anderen desto höher anzuschlagen. Unter die letzteren gehören die biographischen Arbeiten, unter die ersteren die Streitschriften. In der Mitte stehen seine theoretischen und kritischen Werke. Johann Gottfried Walther gab 1732 ein Musikalisches Lexikon heraus, welches sich besonders dadurch vor den Arbeiten seiner Vorgänger auszeichnete, daß er mit großer Sorgfalt alle biographischen Nachrichten sammelte. Noch heute ist es für manchen Autor die einzige oder die sicherste Quelle, trotz aller sonst so vorzüglichen Arbeiten auf diesem Felde, durch welche die Neuzeit sich so sehr auszeichnet. M. wird in demselben ein verhä1tnißmäßig umfangreicher Artikel gewidmet und seine Verdienste hoch gepriesen und doch warf M. auf den Verfasser einen Haß, dem er bei jeder Gelegenheit den Zügel schießen läßt, ohne ihn jedoch jemals beim Namen zu nennen. Eine Gewohnheit, die er meistens anwendet, oft auch Händel gegenüber, und die dem heutigen Historiker manche mühsam zu beseitigende Schwierigkeit in den Weg legt. Nicht das Lexicon selbst war M. ein Dorn im Auge, sondern daß ein anderer als er etwas Vortreffliches geschaffen hat, was ihm selbst eine Anerkennung abzwang, gegen die er sich doch mit allen Kräften wehrte. Sein Sinnen und Trachten ging nun darauf aus, etwas Aehnliches zu schaffen, was aber in keiner Weise in Vergleich mit demselben sollte gestellt werden können. So entstand seine berühmte „Ehrenpforte“, die heute im Handel mit Gold aufgewogen wird. Sie enthält sehr viele durch ihn veranlaßte Selbstbiographien, außerdem einige Biographien älterer Meister, die Walther verhältnißmäßig zu [624] knapp gehalten, oder in denen Irrthümer vorkommen. Natürlich betont M. dieselben mit besonderem Vergnügen, wobei er stets den Ausdruck gebraucht „ein gewisses Lexicon“. Dazu kamen dann noch einige kurze Artikel über damals noch lebende Autoren, die trotz alles Mahnens und Wartens nichts von sich hören ließen, wie der Wiener Hofcapellmeister Fux. Mattheson’s eigene Biographie ist natürlich in gehöriger Breite ausgeführt; er spricht stets von sich in der dritten Person, ähnlich wie es der spätere Lexikograph Gustav Schilling macht, doch geht dessen Lobhudelei weit über M. hinaus, der sich doch stets in den Grenzen des Erlaubten bewegt, wenn er auch jede Begebenheit zu seinen Gunsten auslegt. Der Hauptwerth der Ehrenpforte beruht in den Selbstbiographien und dieser Werth erhält von Jahrzehnt zu Jahrzehnt eine immer höhere Schätzung. Schon mit diesem einen Werke hat sich M., wenn er auch meist nur der Sammler seines Inhaltes war, ein unvergängliches Andenken gestiftet. Auch die Biographie Händel’s verdient Anerkennung, wenn gleich der Historiker dabei mit Mattheson’s Charakter zu rechnen verstehen muß. Jedenfalls schlägt er bei aller Anerkennung Händel’s doch die eigenen Verdienste, welche er sich um Händel’s Ausbildung erwarb, viel zu hoch an, denn schließlich beschränken sie sich auf einige Anregungen. Seine theoretischen Schriften sind zu gleicher Zeit Streitschriften, in denen er Partei nimmt für die Neuerungen in der Musik und sich in heftigen Angriffen gegen die ältere Schule ergeht, die noch Fux in seinem Gradus ad Parnassum ganz und voll vertritt. In der Wahl der Waffen ist er der damaligen Zeit gemäß nicht allzu ängstlich; was er angreift und verwirft, überhäuft er zugleich mit Spott und Hohn. Dabei kommt ihm sein glänzendes schriftstellerisches Talent zu Nutze. Deshalb schlugen denn auch seine Schriften wie Blitze ein und setzten alles, was die Feder führen konnte, selbst die Schwachköpfe, in Bewegung. Sein frühestes Werk ist das „Neu eröffnete Orchestre“, 1713 bei Schiller in Hamburg erschienen; eine spätere Ausgabe (bei Schillers Wittwe) trägt keine Jahreszahl. Hier zieht er ganz besonders gegen die Solmisation, das Hexachord und dessen umständliche Zusammenziehung zu Felde. Bekanntlich bezeichnete man seit dem 11. Jahrhundert die Töne mit „ut re mi fa sol la“ und behielt den 7. Ton übrig, den man erst durch die Wiederholung der Silbenreihe um eine Quart höher in fa ut fand. In dieser Weise setzte man das Hexachord siebenmal zusammen und erhielt erst dadurch eine Tonreihe von 2 Octaven und 5 Tönen. Hierdurch kam es, daß man z. B. das kleine a mit la mi re, das eingestrichene c mit sol fa ut u. s. f. bezeichnen mußte. Da aber auf die Halbtöne e f und h c stets mi fa kommen mußten, so boten sich dem Lernenden für die geläufige Handhabung des Systems unendliche Schwierigkeiten dar. Schließlich war vermöge der Einführung von 6 ♭ und 6 ♯ und des immer mehr hervortretenden Charakters nur einer Moll- und einer Durtonart das Hexachord lediglich eine lästige und werthlose Quälerei für Schüler und Erwachsene, so daß dessen Abschaffung wirklich nur noch eine Frage der Zeit war. Trotzdem gehörte ein so energischer, muthvoller und gewandter Schriftsteller wie M. dazu, um dem Alten den nachdrücklichen Gnadenstoß zu geben, der es auf immer zum Falle brachte. Mächtig schäumten die Wogen auf, als er sein „Orchestre“ in die Welt sandte und keiner der älteren Tonlehrer und Theoretiker wollte so leichten Kampfes das Alte aufgeben. Nur die Jugend hatte M. auf seiner Seite, denn sie begriff sehr leicht, daß der Federkrieg zu ihren Gunsten geführt wurde. In demselben Werke spricht er auch den neuen Tonarten das Wort, geht aber hier nicht mit der Entschiedenheit vor wie bei der Solmisation, weil der Bruch hier nicht so scharf hervortrat. Schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die alten Toni (Tonarten) praktisch vernachlässigt und fast unmerklich schmuggelte sich unser heutiges Dur und Moll ein. Die charakteristischen [625] Merkmale in den Tonschritten verschwanden und machten dem Dur- und Moll-Dreiklang Platz. In dieser Weise führt er sie auch Seite 60 an: acht Tonarten als die gebräuchlichsten, nämlich D-moll, G-moll, A-moll, E-moll, C-dur, F-dur, D-dur und G-dur. Acht andere als bereits auch eingebürgerte, nämlich C-moll, F-moll, B-dur, Dis-dur (resp. Es-dur), A-dur, E-dur, H-moll und Fis-moll und schließlich die noch wenig im Gebrauche stehenden: H-dur, Fis-dur, Gis-moll, B-moll, Gis-dur (resp. As-dur), Cis-moll, Cis-dur (resp. Des-dur) und Dis-moll. – Auch die Quart erklärt er für eine Dissonanz und stellt sich dadurch allen Theoretikern feindlich gegenüber. Doch solcher Feindseligkeiten bedurfte scheinbar sein Charakter, sie regten und feuerten ihn zu neuem Schaffen an und je unflätiger seine Gegner sich an ihm vergriffen, desto schärfere Waffen drückten sie ihm in die Hand, die er mit Geschick und Erfolg zu führen wußte. Es schien, als wenn er dazu berufen wäre in der Musiktheorie gründlich aufzuräumen und die alte Schulweisheit zum Tempel hinauszujagen. Jedes seiner Werke bringt neue Belege seiner bereits verfochtenen Meinung und neue Schwächen der alten Lehre, die sich mit der neueren Ausübung der Musik nicht mehr vertragen. Lächerlich ist es zwar und erscheint uns einem Manne wie M. wenig angemessen, wenn er sich von Anderen seine Weisheit förmlich attestiren läßt, und geht gar ein alter Gegner in sein Lager über, so ruht er nicht eher, bis sich derselbe schriftlich erklärt und dann kann der Aermste gewiß sein, im nächst erscheinenden Werke seine Schande gleich vorne an zu lesen. Jede Zeit hat ihre Manieren; diese Art aber des Kampfes ist jedenfalls rücksichtslos grausam. Einen anderen Weg schlägt er in seiner 1722 erschienenen „Critica musica“ an. Man könnte sie die erste Musikzeitung nennen, denn sie erschien nicht nur in zeitweisen Lieferungen, sondern bespricht neuere theoretische Werke, Compositionen und bringt historische, biographische und andere Nachrichten. Er wird nicht müde immer und immer auf das alte Thema der Solmisation zurückzukommen; er weiß sehr wohl, daß Tropfen auch den Stein aushöhlen und daß die Köpfe seiner Gegner härter sind wie die Steine! Chrysander weist in seinem Händel nach, daß die dort kritisirte Passion von Händel in Hamburg geschrieben war. M. nennt wohlweislich keinen Namen, da es mehr wie kleinliche Rache ist, dem auf der Höhe stehenden Meister seine Jugendarbeit, auf die er selbst keinen Werth legte, eine nie gedruckte und bis heute völlig verschwundene Arbeit, Stück für Stück mit ihren vermeintlichen Schwächen vorzuhalten und ihn wie einen Schulknaben zu behandeln. Gerade so, wie er Walther nicht verzeihen konnte ein vortreffliches Musiklexikon geschrieben zu haben, so unbequem war es ihm, in Händel den großen Componisten anzuerkennen. Nur wo er seinen vermeintlichen Einfluß auf Händel in die Wagschale werfen konnte, da ließ er ihm alle Anerkennung zu theil werden. Dieses eigenthümliche Gemisch, in dem er seine Geisteskräfte verwerthete, nie ganz der Sache gewidmet, sondern stets mit Persönlichkeit gepaart, hat ihm viel geschadet, ihm viele Feinde zugezogen und sein Leben verbittert. Dazu kam seine zunehmende Schwerhörigkeit, die ihm jeglichen Umgang mit Menschen erschwerte, ihm die Pforten der Musik immer mehr verschloß und ihn zum Einsiedlerleben verbannte. Alles dies wirkte zusammen, ihn mit der Welt zu verfeinden und noch bis heute beehrt ihn das oberflächliche Urtheil mit den Titeln Disputax, Geck, Charlatan, Wortkrämer u. dgl. Wie gut er übrigens selbst seine schärfsten Angriffe in ein humoristisches Gewand zu kleiden wußte, beweist der Artikel der Critica musica in dem er Murschhauser, den Münchener Capellmeister, mit seiner 1721 erschienenen „Hohen Schule der Musicalischen Composition“, die direct gegen ihn gerichtet war, abfertigt. Schon der gewählte Titel „Die melopoetische Lichtscheere“, dann die Unterabtheilungen „Erste Schneuzung, zweite Schneuzung“ [626] zeugen von dem Humor des Verfassers, der sich durch keine noch so groben Beleidigungen von seiner Geisteshöhe herabziehen läßt. Trifft er aber auf einen ihm ebenbürtigen Gegner, wie den Cantor der fürstlichen Schule zu Wolfenbüttel, Heinrich Bokemeyer, so vergißt er jeglichen Groll und ist unübertrefflich in seinen Beweisführungen. Bokemeyer war nicht der Mann, der sich gegen die Meinungen anderer engherzig verschloß und M. erlebte den Triumph, daß Bokemeyer in sein Lager überging und sich die einstige Gegnerschaft schließlich in ein enges Freundschaftsband zwischen beiden verwandelte. Obgleich in fast allen seinen musiklitterarischen Erzeugnissen dem Theoretischen in der Musik das Hauptaugenmerk zugewandt ist, so kann man doch keins derselben ein rein theoretisches Werk nennen, wie sie andere geschaffen haben, indem sie in systematischer Weise vom einfachen zum complicirten Satze fortschreiten. Weit entfernt für Schüler zu schreiben und sich an die engen Grenzen des Lehrhaften zu binden, springt sein lebhafter Geist von Einem zum Andern: Historisches, Persönliches, Lehrhaftes, Kritisches, Satyrisches, Biographisches, Bibliographisches wechseln in bunter Reihe mit einander ab. Stets schweben ihm die großen und kleinen Geister seiner und früherer Zeit vor, überall findet er etwas zu tadeln und zu loben und dadurch wurde er zum eigentlichen Reformator in der Musik seiner Zeit. Das Alte war noch nicht gänzlich abgethan und das Neue befand sich in der Entwicklung, so daß M. der rechte Mann an der richtigen Stelle war. „Die große und kleine Generalbaß-Schule“, „Kern melodischer Wissenschaft“, „Der vollkommene Capellmeister“, „Philologisches Tresespiel“, „Plus ultra“, „Bewährte Panacea, als eine Zugabe zu einem musikalischen Mithridat“, „Der musikalische Patriot“, „Die Untersuchung der Singspiele“, „Aristoxeni junioris Phtongologia systematica“ tragen alle den gleichen Charakter und verfolgen dasselbe Ziel. Schlag auf Schlag folgten seine Werke; ohne Ruhe und Rast verfolgte er seine Ideen, überall trat er ein. Die Zahl seiner Feinde machte ihn nicht schwankend, sondern reizte ihn zum fortgesetzten Kampfe und was er erstrebte, wurde Gemeingut einer späteren Zeit. Wenn auch die Art des Kampfes uns heute nicht mehr die richtige zu sein scheint, indem sie das Maß jeglicher anständigen Polemik überschreitet und oft in unflätige Schimpfereien ausartet, die bei M. aber doch stets mit einem Anfluge von Humor verbunden sind, so müssen wir dies als eine Eigenart der Zeit mit in den Kauf nehmen. Denn diese derbe Ausdrucksweise, die oft genug nicht als Beweis, sondern als Rechthaberei klingt, war damals in allen Gelehrtenkreisen gang und gäbe – man denke nur an die theologischen Zänkereien – und Mattheson’s humoristisch beißender Stil erscheint uns noch milde gegen den, welchen die Männer der christlichen Liebe führten.
Ueber die letzten Lebensjahre Mattheson’s sind wir wenig unterrichtet. Zwar die Sorge hat nie an seine Thür geklopft, dazu führte er ein zu regelmäßiges und geordnetes Leben; aber das in völlige Taubheit ausgeartete Leiden war wol geeignet selbst den besten Humor zu untergraben. Bis ins hohe Alter stand er seinem diplomatischen Posten vor und als er des Kampfes müde wurde, schrieb er als letztes die Biographie seines Jugendgenossen Georg Friedrich Händel. Dem Titel nach ist dieselbe nur eine Uebersetzung „mit einigen Anmerkungen versehen“. Er gab sie auf eigene Kosten heraus. Am 17. April 1764 schlug auch ihm das letzte Stündlein, das ihn allen Feinden und Mühseligkeiten entrückte; fast hatte er das 83. Jahr erreicht.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: verwerlhen