ADB:Lehmann, Karl Friedrich August
Lehmann: Karl Friedrich August L., der Erfinder des unter dem Namen Stenotachygraphie bekannten Schnellschriftsystems, ist geboren am 16. April 1843 in Zossen in der Mark. Die Eltern waren Kleinbauern, sie ließen den Sohn die Bürgerschule des Ortes besuchen und ihn daneben bei dem Rector der Anstalt besonderen Unterricht genießen in neueren Sprachen und in der Musik. Die Hoffnung des Sohnes, Lehrer zu werden, ließ sich infolge zunehmender Verarmung der Eltern nicht verwirklichen; er wurde, nachdem er mit 16 Jahren die Schule absolvirt hatte, einem Schuhmachermeister in Berlin in die Lehre gegeben. So sehr dieser Beruf seinen Neigungen widerstrebte, er erwies sich hierin als tüchtig und bestand das Meisterexamen mit dem Zeugniß „vorzüglich“. 1866 heirathete er und begründete bald darauf eine eigene Werkstatt. Der Ehe entsprossen acht Kinder, von denen beim Tode der Frau im J. 1886 noch fünf am Leben waren.
Durch die handwerksmäßige Arbeit wurde Lehmann’s Streben nach geistiger Fortbildung nicht vermindert. Er las und excerpirte viel, und so kam es, daß er sich in der Stenographie eine Gehülfin für seine Aufzeichnungen suchte, daß er 1867 die Arends’sche Schnellschrift erlernte, die in einigem Gegensatz zu den älteren Systemen mit in erster Reihe in Handwerkerkreisen Eingang suchte. Leopold Arends selber wurde sein Lehrer. Am 7. Februar 1874 begründete L. den Arends’schen Stenographenverein „Merkur“, als dessen Vorsitzender er mit starkem Erfolge für die Verbreitung der Arendsschen Schrift wirkte. Diese Einmischung in den stenographischen Wettstreit erforderte es, daß er sich auch gründliche Kenntnisse in anderen Kurzschriftsystemen erwarb. Er ergänzte deshalb sein bisher nur oberflächliches Wissen in der Gabelsberger’schen Schrift und machte sich auch die Stolze’sche Stenographie vollkommen zu eigen. Das Studium der letzteren mit ihren die feinsten sprachlichen Unterschiede widerspiegelnden Wortgebilden bewirkte es, daß Lehmann’s ursprüngliche Begeisterung für das Arends’sche Werk sich verminderte, daß er viele Mängel in ihm zu entdecken glaubte und diese Anschauung nunmehr auch im eigenen Verein vertrat. Eine durchgreifende Reform des Systems schien ihm erforderlich zu sein und nur dann Erfolg verheißend, wenn man mit dem Princip der Arends’schen Vocalverschmelzung bräche. Gegenüber diesem Verlangen erhob sich im „Merkur“ lebhafter Widerspruch, weshalb L. zu Beginn des Jahres 1875 mit einigen gleichgesinnten Freunden ausschied und einen neuen Verein unter dem Namen „Stenotachygraphische Gesellschaft“ ins Leben rief, der unter den begründenden Mitgliedern die Arends’sche Schrift zwar noch weiter pflegte, aber den Unterricht nach dem Stolze’schen System zu ertheilen beschloß. Als einen Mangel dieses Systems empfand es L. [613] freilich, daß es nach Art einer vereinfachten Notenschrift sich dreier Schreiblinien bediente. Um jene Zeit wurde in der Stolze’schen Schule selbst schon der Ruf nach Einzeiligkeit vielfach laut und auch L. vertiefte sich neben seinen Reformarbeiten an der Arends’schen Stenographie in Untersuchungen über die Lösbarkeit dieser Stolze’schen Frage. Während aber seine Arends’schen Reformversuche scheiterten, gelang ihm die Lösung der Einzeiligkeitsfrage in einer Art, die zwar nicht die Stolze’sche Schrift einzeilig gestaltete, wol aber die Grundlage zu einem ganz neuen einzeiligen System schuf und der stenographischen Forschung ein bis dahin völlig unbekanntes Gebiet erschloß. In Anlehnung an den Namen der von ihm geleiteten Gesellschaft benannte L. seine Schrift Stenotachygraphie, und er hatte auch die Freude, daß die Gesellschaft sofort zu dem neuen System übertrat. Mit der Ausgabe der ersten Auflage von Lehmann’s Lehrbuche wurde nach einer einwandfreien Mittheilung des Stenographieerfinders Heinrich Roller, am 1. September 1875 begonnen, so daß dieser Tag als das Begründungsdatum des Systems gelten darf. Sein Handwerk gab L. kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Stenotachygraphie auf, um nur noch der Fortbildung und Verbreitung seiner Schrift zu leben. Schon im Januar 1876 begründete er eine diesen Zweck verfolgende Zeitschrift. Die Einkünfte aus dem Blatte und der Erlös aus dem Vertriebe der Lehrbücher reichten aber nicht aus, um ihn und seine zahlreiche Familie gegen Nahrungssorgen zu schützen. Ueberdies mußte er seit der Mitte der achtziger Jahre seelisch darunter schwer leiden, daß mißvergnügte Kenner seines Systems persönliche Zwistigkeiten mit dem Erfinder zum Anlaß nahmen, um ihrem Verdruß, einen ehemaligen Schuster an der Spitze der Schule zu sehen, eigenartigen Ausdruck zu geben. Sie sprengten das Gerücht aus, L. habe gar nicht die Stenotachygraphie erfunden, sondern sie sei ihm von einem Anonymus lediglich zur Veröffentlichung übergeben worden. Diese jedes Stützpunktes entbehrende Behauptung fand jedoch so wenig Glauben, daß einige Jahre später von den Widersachern Lehmann’s einer anderen Version der Vorzug gegeben wurde, für die sie eine sachliche Unterlage gefunden zu haben meinten. Sie begnügten sich nunmehr mit der Hypothese: L. habe die Stenotachygraphie nicht allein erfunden, sondern sie sei in den Sitzungen seiner Gesellschaft auf Grund einer in der Stolze’schen Zeitschrift „Der Beobachter“ veröffentlichten Systemstudie ausgearbeitet worden, also die gemeinsame Arbeit aller Mitglieder jener Gesellschaft. Auch diese Darstellung hat sich als unrichtig erwiesen. Es ist einmal festgestellt, daß jene Anfangs September 1875 herausgegebene Beobachterstudie erst einen vollen Monat später erschien, nachdem bereits in der Zeitschrift „Der Tachygraph“ eine Besprechung der damals schon handschriftlich niedergelegten Grundzüge des Lehmann’schen Systems erfolgt war, und es ist ferner durch Mitglieder der Gesellschaft, insbesondere durch ihren damaligen Schriftführer, ausdrücklich bezeugt worden, daß Berathungen über den Aufbau des Lehmann’schen Systems in der Gesellschaft niemals stattgefunden haben und das L. „die Ehre gebühre, alleiniger Begründer seines Systems zu sein“. Das wird außerdem bestätigt durch zahlreiche vom Königlichen Stenographischen Institut zu Dresden und vom Archivrath Dr. Mitzschke in Weimar geprüfte und als echt befundene Correspondenzen Lehmann’s, die bis zum Mai 1875 zurückreichen und aus denen es sich ergibt, daß L. bereits um jene Zeit mit der „Vervollkommnung seines schon begonnenen Systems“ beschäftigt war. Eigentlich hätte es aller dieser Beweise gar nicht bedurft, denn schon der Titel und die Schlußbemerkung des Lehmann’schen Lehrbuches vom 1. September 1875: „Stenotachygraphie von August Lehmann“ und „Verfasser und Herausgeber A. Lehmann-Berlin“ [614] würde sicherlich den Widerspruch der Gesellschaft herausgefordert haben, wenn die Stenotachygraphie ihr geistiges Eigenthum gewesen wäre. Ein solcher Widerspruch ist nicht erfolgt, im Gegentheil, das nach dem Uebertritt der Gesellschaft veränderte Statut bekundet wörtlich: „Die stenotachygraphische Gesellschaft, gebildet am 24. Februar 1875, bezweckt die Verbreitung der Kurzschrift, sie erkennt die Lehmann’sche Stenotachygraphie als diejenige an, welche sich für Parlamente, Schulen, kaufmännische und gewerbliche Institute am besten eignet“. Schließlich haben denn auch die alten Gegner Lehmann’s selbst zugegeben, daß sich ein Beweis für ihre früheren Behauptungen nicht erbringen lasse. Wenn aber auch jene Behauptungen heute längst widerlegt sind und von unterrichteten Kreisen ebenso wie von L. selbst natürlich schon von Anbeginn in das Gebiet der Fabel verwiesen wurden, so waren sie doch eine Zeitlang auf das Leben des Meisters, der über eine starke Presse zur Vertheidigung seiner Rechte nicht verfügte, von höchst nachtheiligem Einfluß. Bei einer leichtgläubigen Menge fanden sie ein nur zu geneigtes Ohr und raubten dem Erfinder nicht bloß den größten Theil seiner bescheidenen Einkünfte, sondern sie brachten sogar seine geistige Gesundheit in ernste Gefahr, indem sie vorübergehend Anwandlungen von Verfolgungswahn in ihm hervorriefen. Aus dieser geistigen und wirthschaftlichen Noth riß ihn erst eine zweite Ehe, die er 1889 einging. Sie sicherte seinen letzten Jahren häusliches Glück und bescheerte ihm noch eine Tochter. L. starb an einer Lungenerkrankung am 8. April 1893 in Berlin.
Lehmann’s System beruht auf der Darstellung aller Consonanten durch Zeichen von gleicher Höhe, die in ihrer Hauptrichtung Grundstriche sind. Außer den Consonanten haben nur noch die anlautenden Vocale besondere Zeichen, dagegen werden die Auslautvocale sinnbildlich dargestellt und zwar dadurch, daß man das vorhergehende Consonantenzeichen 1. mit oder ohne Druck schreibt, 2. es in seiner ursprünglichen Größe beläßt oder es doppelt bezw. dreifach vergrößert, 3. es durch einen kurzen oder weiten Haarstrich mit dem auslautenden Consonanten verbindet, 4. an ihm in den drei verschiedenen Größen eine Einknickung vornimmt. Die Bezeichnung einiger Vocale sei zur deutlicheren Klarlegung der übrigen Hauptregeln an einem Beispiele erläutert. Der Consonant b gleicht in Form und Größe dem kleinen lateinischen e ohne Vorstrich. Schreibt man dieses Zeichen mit Druck, so bedeutet es ba, schreibt man es in doppelter Größe ohne Druck, so heißt es bo, mit Druck bu, in dreifacher Höhe ohne Druck bi, mit der Einknickung, die dem Zeichen eine ziemlich unschöne Form gibt, in einfacher Höhe beu, in doppelter bau, in dreifacher bäu. Alle so gewonnenen Silbenzeichen stehen auf der Schreiblinie. Verlängert man sie nach unten hin, so nehmen sie bei kurzer (halbstufiger) Verlängerung noch ein folgendes r und bei reichlicher (einstufiger) Verlängerung ein folgendes l auf. Die auf der Linie stehende Silbe ba bedeutet also, wenn man das Zeichen durch die Zeile hindurch ein wenig verlängert, bar, und wenn man es reichlich nach unten verlängert bal. Setzt man ein Consonantenzeichen ganz unter die Linie, so nimmt es ohne Druck ein vorhergehendes n, mit Druck ein folgendes t auf. Diese ganz unter der Linie stehenden Zeichen werden nun auch wieder zur Aufnahme von (e)r und (e)l verlängert. Ein ganz unter der Linie stehendes, mit Druck geschriebenes b bedeutet also in ursprünglicher Größe bt, mit geringer Verlängerung bter, mit reichlicher Verlängerung btel. Die starke Verwendung der sinnbildlichen Bezeichnung durch volle Ausnutzung des Raumes – auf und über der Linie für die auslautenden Vocale, unter der Linie für die vier häufigsten Consonanten in ihren wichtigeren Verbindungen – verleiht den meisten Wörtern [615] Formen von bestechender Kürze und wird allein ermöglicht durch den Vorzug der gleichen Höhe aller Consonantenzeichen. Dem Vorzuge steht jedoch der Nachtheil entgegen, daß sich eine geschlossene Reihe gleich hoher Elementarzeichen nur unter Anwendung sehr peinlicher Unterscheidungsmerkmale finden läßt. Diesen Mangel in der Consonantenformation hat L. nun wieder durch Einsetzung von Nebenzeichen und Kürzungen am geeigneten Orte gemildert und auf diese Art doch schließlich ein zwar nicht sehr leicht erlernbares, aber im ganzen wohlgefügtes und für die graphisch geschulte Hand bequem verwendbares System gewonnen.
Im J. 1887 wurde eine Organisation der Anhänger des Lehmann’schen Systems geschaffen durch Begründung eines „Allgemeinen Deutschen Stenotachygraphenverbandes“. Der Verband setzte eine ständige Commission ein, der unter anderem die Beseitigung von Schriftmängeln obliegen sollte. Eine wirkliche Verbesserung, welche die Commission vornahm, war die Beseitigung der Einknickung. Sie wurde möglich durch den Verzicht auf selbständige Symbole für die Vocale y, ie und ai, die nunmehr gleich i und ei geschrieben wurden. L. nahm an den Arbeiten des Verbandes und seiner Commission keinen Theil. Er hat ihnen stets widersprochen, konnte jedoch der Verbreitung der beschlossenen Aenderungen keinen wesentlichen Einhalt thun. Die umfassendste Reform fiel freilich erst in die Zeit nach seinem Tode. Die Vereinfachungsbestrebungen, die namentlich mit der Begründung des Einigungssystems Stolze-Schrey im J. 1897 eine neue Aera in der stenographischen Bewegung einleiteten, veranlaßten auch die Commission des Stenotachygraphenverbandes zu einer Reform, die das System leichter erlernbar und der weiten Verbreitung zugänglicher machen sollte. Ein Theil der Wortkürzungen wurde gestrichen und der Gebrauch der Nebenzeichen auf ein geringes Maß eingeschränkt. Die Principien der Lehmann’schen Lehre, die gleich hohen Consonanten in unveränderter Gestalt, die Idee der Vocal- und Consonantensymbolik blieben zwar erhalten, aber die künstlerische Feilarbeit des Meisters zum Ausgleiche des durch die beschränkte Zeichenauswahl bedingten Mangels fiel dem Streben nach Einfachheit großen Theils zum Opfer. An praktischer Brauchbarkeit hat das System infolge dessen sehr starke Einbuße erlitten. Immerhin kam die Thatsache des erleichterten Studiums der Werbearbeit zu gute, die jetzt mit aller Kraft einsetzte und dem System einen beträchtlich erweiterten Anhängerkreis zuführte. Der Ausbreitung der Lehmann’schen Lehre widmen sich heute 424 Vereine, gegenüber 1949 nach Gabelsberger und 1359 nach Stolze-Schrey. Die Lehmann’sche Schule steht damit, allerdings in weitem Abstande von Gabelsberger und Stolze-Schrey, hinsichtlich der Verbreitung des Systems unter den zahlreichen deutschen Kurzschreiberschulen jetzt an dritter Stelle.
Das Gedächtniß des Erfinders ehrt eine granitene Tafel an dem Hause seines letzten Wirkens in Berlin, Möckernstraße 112.
- Der Beobachter, Herausgeber Karl Schöppe, Naumburg, Jahrg. 1875. – Der Tachygraph, Herausgeber Heinrich Roller, Berlin, Jahrg. 1875. – Stenotachygraph, Herausgeber August Lehmann, Berlin, Jahrg. 1876. – Der Stenotachygraph, Herausgeber A. Pfeiler, Linz a. D., Jahrg. 1893 (Art. Wer hat die Stenotachygraphie erfunden?). – Magazin für Stenographie, Herausgeber Max Bäckler, Berlin, Jahrg. 1899 (Art. Zum Gedächtnisse August Lehmanns). – Mertens, Deutscher Stenographenkalender, Jahrg. 1899 bei Franz Schulze-Berlin (Art. Systemübersicht). – Daniel, Die Reform des Lehmann’schen Stenographiesystems b. Gerdes u. Hödel-Berlin.