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ADB:Ingersleben, Karl von

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Artikel „Ingersleben, Karl Heinrich Ludwig von“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 669–676, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ingersleben,_Karl_von&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:14 Uhr UTC)
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Ingersleben: Karl Heinrich Ludwig von I., preußischer Verwaltungsbeamter, geboren am 1. April 1753, † zu Coblenz als Staatsminister und Oberpräsident der Rheinprovinz am 13. Mai 1831, war der Sohn des bei Kolin schwerverwundeten und in der Schlacht bei Breslau am 22. November 1757 zu Tode getroffenen, von Friedrich dem Großen mit Ehren überhäuften Generalmajors Johann Ludwig v. I. und der Charlotte Luise Dorothea v. I., geb. v. Herold, einer Tochter des am 18. Mai 1720 in den Adelstand erhobenen, um die preußische Verwaltung sehr verdienten Geheimen Finanz-, Kriegs- und Domänenraths Dr. Christian Herold, der ohne männliche Leibeserben am 10. Februar 1744 gestorben ist. Auch die Mutter Ingersleben’s starb früh. Die Familie v. I. gehörte zum alten magdeburgischen Adel. Der General Joh. Ludwig besaß die Güter Königerode, Friedrichrode und Willerode im Mansfeld’schen. Auch der Kriegs- und Domänenrath v. Herold war ansehnlich begütert. Zur Zeit der Geburt Karl Heinrich Ludwig’s stand der Vater in Potsdam in Garnison. Außer vier Schwestern, von denen sich die eine mit dem General v. Borstell, dem Vater des späteren commandirenden Generals des 8. Armeecorps verheirathete, hatte Karl Heinrich Ludwig einen älteren Bruder, Friedrich Wilhelm Heinrich Ferdinand, der später Oberst wurde und durch seine Uebergabe von Küstrin im J. 1806 eine traurige Berühmheit erlangte. Karl Heinrich Ludwig bezog am 17. April 1764 die Ritterakademie zu Brandenburg, wo er bis zum Jahre 1765 blieb. Von dort kam er auf die école militaire nach Berlin, die er in den Jahren 1766 und 1767 besuchte. Am 15. October 1768 trat er als Fahnenjunker in das Manstein’sche Cürassierregiment ein, am 11. Juni 1769 wurde er zum Cornett, am 13. August 1777 zum Lieutenant befördert. [670] Während des bairischen Erbfolgekrieges war er Inspectionsadjutant bei General v. d. Marwitz. Im J. 1783 verheirathete er sich mit Albertine Sophie Ulrike v. Brause, Tochter des Generalmajors v. Brause. Das langsame Avancement verleidete ihm die militärische Laufbahn. Er kam daher um seinen Abschied ein, der ihm unter dem 6. August 1786 gewährt wurde. Beim Regierungsantritt König Friedrich Wilhelm’s II. erhielt er den Charakter als Rittmeister. Am 30. Oktober 1787 wählte ihn die Ritterschaft der Altmark zum Landrath des Tangermünder und Arneburger Kreises. Von da wurde er 1795 nach Halberstadt als Präsident der dortigen Kriegs- und Domänenkammer versetzt und von dort bereits unter dem 15. Mai 1798 an Stelle des am 8. Mai verstorbenen Geheimen Finanzraths und Kammerpräsidenten v. Schütz als Präsident der Kriegs- und Domänenkammer nach Stettin. In den drei Jahren seiner Thätigkeit in Halberstadt hatte er es verstanden, sich dort sehr beliebt zu machen. Ein Ausdruck davon war es, daß die Kammer daselbst aus Anlaß seines Scheidens eine goldene Medaille mit seinem Brustbilde prägen ließ, ebenso zeigt seine Beliebtheit ein ihm und seiner Familie im Göttinger Musenalmanach gewidmetes Lebewohl.

In Stettin sollte I. in achtjähriger Thätigkeit eine außerordentlich segensreiche Wirksamkeit entfalten, indem er dort das große Werk der Befreiung der pommerschen Domänenbauern mit außerordentlichem Erfolge durchführte. Er hat dies nicht etwa durch seine Organe erledigen lassen, sondern augenscheinlich die Hauptarbeit selbst gethan, wie die verschiedenen von ihm in dieser Sache unternommenen Dienstreisen durch die ganze Provinz vermuthen lassen. Er hat ferner nicht nur die vom Staatsminister v. Voß auf Veranlassung des Königs in Gang gebrachte Aufhebung der Dienste bei den pommerschen Domänenbauen durchgeführt, sondern vor allem das Verdienst der Idee, den Bauern, welche die Verdienste abzulösen bereit seien, die persönliche Freiheit zuzugestehen (1799). Am 19. Juni 1799 legte er einen Plan vor, nach dem die Ablösungen vorgenommen werden sollten. Er sah dabei darauf, daß die fiscalischen Interessen nicht litten. Zunächst faßte er nur die Ablösung der Spanndienste ins Auge. Der Plan fand die Zustimmung des Königs. Dieser ließ I. unter dem 16. Juli seinen „ganzen Beifall“ für seine „zweckmäßigen Bemühungen“ aussprechen, namentlich wegen des „sehr gründlichen“ Planes, die Dienstaufhebung „ohne alles Geräusch“ zu Stande zu bringen. Am 21. September 1799 entwarf I. eine Instruction, nach der der Plan ausgeführt werden sollte. Darin hieß es: „Die Verwandlung der Dienste in eine Geld- oder Körnerabgabe genügt noch nicht: der Bauer muß auch Eigenthümer werden, was er bis jetzt noch nicht ist.“ Um die Bauern zur Annahme des Eigenthums zu bestimmen, übte er geradezu einen Druck aus, indem er dafür auch Erlaß der verhaßten Handdienste in Aussicht stellte. Doch galt dies nur für die Bauern. Bei den Kossäten machte I. Halt. Er meinte, daß es deren eigentliche Bestimmung sei, Handdienste zu leisten; was sollten diese Leute mit ihrer frei gewordenen Zeit anfangen, da ihr Landbesitz so gering wäre, daß sie von besserer Cultur doch nur wenig Vortheil haben würden. Auch bei den Bauern selbst hatte er im wesentlichen nur die größeren im Auge. Landabtretungen zur Entschädigung der Domänenpächter betrachtete er als Ausnahme. Auch sonst verfuhr er sehr sparsam bei der Gewährung von Entschädigungen. Viele Domänenpächter wußte er zum Verzicht auf die ihnen zustehende Entschädigung zu veranlassen, da sie durch sonstige bei den Regulirungen eintretende Vergünstigungen hinreichend anderweitige Vortheile empfingen. Dabei ließ I. die Bauern an den Staat herankommen, indem er von dem klugen Grundsatze ausging : „nur so lange der gemeine Mann der [671] bittende Theil ist, kann man Bedingungen machen.“ Das ganze Regulirungswerk in Pommern ging mit einer auffälligen Schnelligkeit vor sich. Am 12. Mai 1804 waren auf den 40 pommerschen Aemtern bei den 5000 Domänenbauern 173 075 Spanndiensttage und 204 584 Handdiensttage aufgehoben. In 25 Aemtern war damals die Arbeit bereits vollendet, weitere 12 Aemter sollten bis Trinitatis 1806 fertig sein. Dabei schnitt der Staat noch gut ab, indem er einen jährlichen Ueberschuß von 23 011 Thalern zu verzeichnen hatte. Verstand doch I. selbst die Landwirtschaft aus dem Grunde, wie seine Verwaltung des großen, durch ihn im J. 1801 von den Erben F. Gotthilf’s v. Enckevort für 58 000 Thaler erworbenen Güterkomplexes Vietzow, Wutzow, Lazenz, Neuhof, Grünewiese und Dieck im Kreise Belgard zeigt, wo er in den Jahren 1802 und 1803 das schwierige Geschäft der Gemeinheitstheilung mit seinen Bauern schnell und glücklich durchführte. Niemand war vergnügter über das von I. auf den Domänen erzielte günstige Ergebniß als der König selbst, der am 18. Mai 1804 in einer Cabinettsordre an Voß anordnete, daß I. und seine Räthe eine besondere Belohnung erhalten sollten. Schon vorher hatte er I. (am 14. März 1804) eine namhafte persönliche Gehaltszulage verliehen.

I. besaß überhaupt die vollste Gunst König Friedrich Wilhelm’s III. Schon im Frühjahr 1803 hatte dieser daran gedacht, ihm einen Ministerposten zu übertragen, nämlich die Verwaltung des niedersächsisch-westfälischen Departements, statt des ihm dafür vorgeschlagenen Freiherrn v. Stein. Doch rieth ihm Graf Schulenburg-Kehnert davon ab, weil Stein, dessen Vorgesetzter I. dadurch geworden wäre, nicht geneigt sein würde, sich I. zu fügen. Das deutet darauf hin, daß Ingersleben’s Natur dem Freiherrn nicht kraftvoll genug erschien. Als das Werk der Befreiung der Domänenbauern in Pommern fast beendet war, machte Friedrich Wilhelm einen neuen, weiteren Wirkungskreies für I. ausfindig, indem er ihn, zunächst unter Belassung in seiner Stellung als Kammerpräsident, am 24. Januar 1806 dem mit der Verwaltung von Hannover betrauten General Grafen Schulenburg als Civilcommissar beiordnete. I. erhielt bei der Organisation der hannoverschen Administrationscommission, während Schulenburg etwa die Stellung eines Generalgouverneurs einnahm, am 15. Februar 1806 den Vorsitz in der Commission, deren heikle Aufgabe es war, für die Neutralität Hannovers in dem Kriege zwischen Frankreich und England zu sorgen und dem Lande die Lasten möglichst zu erleichtern. Als Schulenburg im Sommer zurücktrat, rückte I. in dessen Stellung (am 11. August). Schon vorher hatte er die Geschäfte hauptsächlich erledigt und u. a. am 19. Mai 1806 eine umfassende Instruction für die aus Eingesessenen gebildete Verwaltungsbehörde entworfen. Schulenburg konnte ihm umsomehr die Geschäfte überlassen, als er, wie aus einem von ihm an den König unter dem 14. Juli erstatteten Berichte hervorgeht, sein Verwaltungstalent und seine Arbeitsamkeit erkannt hatte. Freilich, so meinte er, ginge ihm noch etwas die Erfahrung ab. Außerdem vermißte er einigermaßen Selbständigkeit und Initiative bei ihm. Durch die Umstände sah sich I. gezwungen, die ihm ursprünglich gesteckte Aufgabe zu verlassen. So mußte er den preußischen Münzfuß einführen, was zu heftigen Recriminationen der Hannoveraner führte. Noch mißlicher war es, als I. Ende September auf Befehl des Königs auch dazu schreiten mußte, das preußische Heer aus hannoverschem Material zu ergänzen. Am 2. October erhielt er außerdem Anweisung, das Land zu den Kriegskosten heranzuziehen. Obwol I. sich im dauernden Besitze des Vertrauens seines Königs und dessen Berathers, Beyme, wußte, wofür seine am 16. September erfolgte Ernennung zum Staatsminister ein neuer Beweis war, [672] konnte er sich nicht verhehlen, daß seine Mission sowol bei der bestehenden Abneigung der Hannoveraner als auch bei der schwachen Stellung Preußens ganz hoffnungslos war. Schon am 24. August berichtete er in diesem Sinne an den König. So versöhnlich und schonend er auch auftrat, die Verhältnisse und der Gang der Dinge gestatteten es nicht, daß daraus auch nur der geringste Nutzen für Preußen erwuchs. Selbst die Ordnung, die I. in die Finanzen des Kurfürstenthums brachte, und sogar die Thatsache, daß er die hannoversche Besatzung von Hameln aus preußischen Mitteln besolden ließ, erwarb den Preußen nicht Sympathien im Lande. Zwar bewies König Georg IV. noch nach 15 Jahren I. seine Erkenntlichkeit für die von ihm geübte humane und uneigennützige Verwaltung, indem er ihm in Erinnerung daran das Großkreuz des Guelfenordens verlieh, die Hannoveraner hielten es 1806 aber mehr mit den sie mit großer Härte behandelnden Franzosen. Sofort nach der Schlacht bei Jena übernahmen die alten Minister trotz Ingersleben’s Anwesenheit wieder die Geschäfte in Hannover (am 20. October). Gleich darauf zog die preußische Garnison ab, und alsbald riß man vor den Augen Ingersleben’s die preußischen Adler herunter. Daß I. hiergegen nicht einmal zu protestiren wagte, ist ein schlagender Beweis dafür, daß er, wie Stein wol richtig erkannt hatte, nicht aus kräftigem Holze geschnitzt war. Am 22. October verließ I. selbst Hannover.

In Salzwedel erfuhr er, daß das Generaldirectorium von Berlin nach Stettin verlegt sei. Infolge dessen begab er sich dorthin und traf daselbst am 27. October ein. Da er an seinem Wagen eine Ausbesserung vornehmen lassen mußte, konnte er sich an diesem Tage nicht den gerade von Stettin nach Danzig aufbrechenden Ministern Schulenburg, Voß und Stein anschließen und wurde so in die Capitulation von Stettin verwickelt. Der Magistrat und die Bürgerschaft bestürmten ihn am 28. unter dem Eindrucke der Nachrichten von der Waffenstreckung Hohenlohe’s bei Prenzlau, sie nicht zu verlassen, sondern die Leitung der Civilangelegenheiten zu übernehmen. I. sträubte sich anfangs dagegen, „weil er als Diener des Staats sich keine Bestimmung selbst zueignen könne“. Durch seine Ernennung zum Staatsminister im September war er zwar aus der pommerschen Kammer ausgeschieden. Wehmüthige Abschiedsschreiben, die er mit der Kammer und den pommerschen Ständen gewechselt hatte und die bekunden, wie sehr er sich mit Pommern verwachsen fühlte, hatten diese Trennung noch besonders betont. Seit dem 1. October 1806 war Stettiner Kammerpräsident Schuckmann geworden. Dieser war jetzt aber nicht anwesend und auch sonst scheint die Verwaltung hilflos gewesen zu sein. Angesichts einer solchen Lage war es wohl zweckdienlich, wenn I. selbständig eingriff. Daß er zauderte, entspricht der Auffassung Schulenburg’s, I. besäße wenig Initiative. Man fand jedoch einen Ausweg in dieser Verlegenheit, indem eine Stafette des Königs Befehl hierzu einholen sollte; währenddessen übernahm I. einstweilig die Verwaltungsgeschäfte und traf alsbald die zweckmäßige Anordnung, daß die in Stettin befindliche Kriegscasse mit einem Inhalte von 253 000 Thalern über Swinemünde zur See nach Danzig geschafft wurde. Am Mittage des 29. veranlaßte er den altersschwachen Gouverneur v. Romberg zur Abweisung einer ersten Aufforderung zur Uebergabe der Festung. Als am Nachmittag abermals ein Parlamentär mit dem Verlangen der Capitulation erschien, bewirkte er, um den fassungslosen Romberg moralisch zu stärken, eine Berathung der höheren Officiere zusammen mit dem Gouverneur und dem Commandanten, während er selbst, weil er diese Berathung für rein militärisch ansah und seine Anwesenheit dabei für weniger angebracht hielt, mit dem französischen Parlamentär in seine Wohnung ging. Als er zurückkehrte, [673] fand er, wie er angibt, „zu seinem Erstaunen“ den Beschluß der Officiere vor, die stark armirte Festung Stettin an die Franzosen, die nur mit einem kleinen Reitertrupp vor den Thoren standen, zu übergeben. Im Bewußtsein, an der Thatsache nichts mehr ändern zu können, verließ er nach Ueberreichung einer von ihm vorher im Beisein des Parlamentärs entworfenen, auf eine milde Behandlung der Stadt hinzielenden Civilcapitulation voller Aufregung das Zimmer und ließ den Dingen ihren Gang. Es sind ihm wegen dieses seines Verhaltens von vielen seiner Zeitgenossen und auch neuerdings von Granier heftige Vorwürfe gemacht worden; und in der That hat er in jener Krisis nicht kraftvoll, ja schwach gehandelt; auch sein Benehmen dem französischen Officier gegenüber ist nach Ausweis der Acten nicht gerade energisch zu nennen. Richtiger wäre es gewesen, die muthlosen Militärs, deren Handlungsweise ihn erschreckte, von ihrem unseligen Entschlusse zurückzubringen oder doch vorher auf sie stärkend einzuwirken und sich nicht zu entfernen, als über Stettin das Loos geworfen werden sollte. So hätten Minister wie Stein und Bismarck und auch wol noch mancher andere gehandelt. I. aber nahm den kläglich „correcten“ Standpunkt ein, daß er sich nicht in die militärischen Dinge einzumischen habe, auch wo das Vaterland in Gefahr war. Es ist aber hervorzuheben, daß I. nicht ausdrücklich der Capitulation zugestimmt hat, wie noch Lettow-Vorbeck berichtet, sondern dagegen gewesen ist, wenn er auch seiner Meinung nicht Geltung verschafft hat. Er kann also nicht direct mit verantwortlich gemacht werden für die schimpfliche Uebergabe und Granier urtheilt sicher etwas zu scharf über ihn. I. gehörte eben nicht zu den kraftvollen Naturen, die in so schwerer Stunde dem Vaterlande zu wünschen sind.

Einstweilen sollte sein Ruf aufs schwerste unter dem Vorgefallenen leiden. Wie es besonders in so stürmischen Zeiten zu gehen pflegt, wurden ungenaue Angaben über sein Verhalten verbreitet, wozu die schimpfliche Handlungsweise seines Bruders in Küstrin, des einzigen der sieben Festungscommandanten, dessen Todesurtheil Friedrich Wilhelm III. bestätigte, einiges beigetragen haben mag. Selbst Männer, die unterrichtet hätten sein können, wie Gneisenau, lebten noch nach Jahren des Glaubens, daß I. sich der Forderung der Franzosen gefügt und Napoleon einen compromittirenden Eid geschworen hätte, während I. gerade dies Ansinnen entschieden ablehnte, obwol er dadurch in pecuniäre Schwierigkeiten kam. Unter dem Drucke der vielfach gegen ihn erhobenen Anklagen wandte sich I. am 16. August 1807 von Berlin aus, wohin er nach der Stettiner Katastrophe gegangen war, da man ihm französischerseits Pässe nach Preußen verweigert hatte, mit einer ausführlichen Rechtfertigungsschrift an den König, den man auch gegen ihn einzunehmen gesucht hatte, und bat wiederholt, wenn angängig, um Weiterverwendung im Dienste oder um eine Verabschiedung in Gnaden. Friedrich Wilhelm beschied ihn am 27. August sehr kühl: „muß mein Urtheil bis dahin suspendiren, daß dieser Vorgang gründlich und strenge, wie es dessen Wichtigkeit erfordert, untersucht sein wird“. Die veränderte Lage gestatte zur Zeit nicht eine weitere dienstliche Verwendung Ingersleben’s. Diese Inactivirung zwang I. dazu auf der Zurückzahlung eines Darlehens von 5000 Thalern, das er am 29. October der Stadt Stettin bis zum Friedensschluß zinslos gewährt hatte, zu beharren. Am 30. August theilte er der Stadt, die sich anfänglich nicht in der Lage zeigte, ihrer Verpflichtung nachzukommen, mit: „Mehrere Gründe legen mir die eiserne Nothwendigkeit auf, meinen Antrag zu erneuern.“ Nach einigem Hin und Her brachte die Stadt die Summe denn auch auf. Die ganze [674] Haltung der Bürgerschaft dabei zeigt, daß I. bei ihr sehr beliebt war. Später hat die vom Könige angekündigte Untersuchung stattgefunden. Die Acten darüber sind nicht bekannt geworden. Aber kein Geringerer als der Staatskanzler Fürst Hardenberg bezeugt in einem Schreiben an Gneisenau vom 15. März 1816, daß I. „völlig von aller Beschuldigung freigesprochen worden ist“. So wurde ihm die Bahn wieder eröffnet und er konnte bei nächster Gelegenheit aufs neue im Staatsdienste verwendet werden. Auf die Bitte der pommerschen Stände ernannte ihn der König unter dem 25. Juni 1812 an Stelle des Geheimen Oberfinanzraths Hering zum Präsidenten der kurz vorher organisirten pommerschen Regierung mit dem Sitze in Stargard.

In dieser Eigenschaft hat I. im J. 1812 Sammlungen für die während des Feldzuges in Rußland verwundeten Truppen des preußischen Hilfscorps und im J. 1813 mit großem Eifer und Geschick die Bildung der Landwehr und die Ausrüstung und Verpflegung der Truppen organisirt. Vor allem trat er bei der Bildung des pommerschen Nationalcavallerieregiments hervor, in das sein einziger Sohn als Lieutenant trat. Was der Vater am 29. October 1806 durch Schwäche gefehlt hatte, ward überreich dadurch gesühnt, daß ihm dieser Jüngling am 23. August bei Großbeeren fast sechsundzwanzigjährig durch den Tod entrissen wurde. Es war der einzige Officier des Regiments, der in jener Schlacht fiel. Auf den von I. unter dem 21. November 1813 gestellten Antrag wurde die pommersche Regierung im Frühjahr 1814 von Stargard nach Stettin verlegt. Im J. 1814 verlieh der König ihm in Anerkennung seiner Verdienste um die Kriegsrüstungen das eiserne Kreuz am weißen Bande. Im Juli 1815 mit der neugeschaffenen Würde des Oberpräsidenten von Pommern bekleidet, erhielt er bald darauf (19. October) den Auftrag, in des Königs Namen die Uebernahme von Schwedisch-Pommern zu bewerkstelligen, dessen er sich im October und November 1815 mit Tact und Geschick entledigte. Sein König verlieh ihm dafür den Kronenorden 1. Classe, und der König von Schweden sah sich veranlaßt, ihm das Commandeurkreuz des Nordsternordens zu verleihen. Nicht lange darauf (am 10. Januar 1816) wurde er an Stelle des nach Pommern versetzten Generalgouverneurs der Rheinlande Sack, dessen Abberufung Hardenberg für nöthig hielt, zum Oberpräsidenten am Rhein bestellt und zwar erhielt er die Verwaltung des die Regierungsbezirke Coblenz, Trier und Aachen umfassenden Großherzogthums Niederrhein mit dem Sitz in Coblenz. Diese Ernennung verstimmte Gneisenau, den commandirenden General des rheinischen Armeecorps, der mit Sack befreundet war, und er brachte unmuthig die alten Anklagen gegen I. bei Hardenberg an. Der aber vertheidigte I. auf das energischste. Er sagte Gneisenau offen: „Gegen I. haben Sie ein ungerechtes Vorurtheil. Sie wußten gewiß nicht, daß eine Untersuchung seines Benehmens von 1806 verhängt wurde.“ Nach der Mittheilung, daß I. aus dieser Untersuchung schuldlos hervorgegangen sei, empfahl er ihn mit den Worten: „Ich glaube, daß er sich vollkommen in die dortigen Provinzen paßt; er ist ein Mann von angenehmem Aeußern, hat sehr gefällige Formen und hat in seinem bisherigen Posten und bei der Uebernahme von Schwedisch-Pommern sehr gute Geschäftskenntnisse gezeigt, auch sich Liebe und Zutrauen erworben.“ Auch Boyen empfahl I. bei Gneisenau.

Diese Empfehlungen sollten sich rechtfertigen. I., damals schon ein Mann von 64 Jahren, dem man das Alter sehr ansah, fand sich mit großem Geschick in die überaus schwierige Aufgabe, die Rheinlande zu verwalten. Gerade weil er nicht viel regierte, sondern die Dinge sich mehr entwickeln ließ und stets Milde und Freundlichkeit zeigte, hat er hier gute Erfolge erzielt. Hardenberg [675] hatte das mit richtigem Blick vorausgesehen und einen glücklichen Griff mit dieser Ernennung gethan. Auch Stein überzeugte sich bald durch den Augenschein, daß das sanfte und verständnißvolle Scepter des „guten Ingersleben“ treffliche Früchte zeitigte. Am 23. März 1816 übernahm I. die Geschäfte. Wie im Halberstädtischen und in Pommern so erfreute er sich auch am Rheine großer Beliebtheit, und Mißhelligkeiten, die er mit dem Regierungspräsidenten v. Schmitz-Grollenburg hatte, übten hierauf keinen wesentlichen Einfluß. Auch die Unterzeichnung der bekannten ungeschickten Adresse an den König im J. 1817 durch einige seiner besten Freunde, wie den Präsidenten v. Meusebach und den Schulrath Johannes Schulze, brachte keine dauernde Verstimmung. Viel trug das gastlich-heitere Haus, das er mit seiner Gemahlin ausmachte, dazu bei, ihn beliebt zu machen. Er übte die Verwaltung durchaus im Geiste des Liberalismus, nicht ohne daß dabei Unklarheiten und politische Unklugheiten unterliefen, wie die oppositionelle Rolle zeigt, die er, in gewisser Beziehung als Stimmführer, mit den Oberpräsidenten Sack, Schön, Auerswald, Vincke, Solms und Merkel im J. 1817 bei Gelegenheit der Berathung der Entwürfe zur Heeresverfassung spielte. Er befürwortete dabei fast förmlich die Einrichtung eines Milizsystems und zeigte sich wenig einer straffen Centralisation geneigt. Viel Schwierigkeiten erwuchsen ihm bei Einführung der sonntäglichen Landwehrübungen. Dabei wußte er sich mit dem Grafen Solms-Laubach in Köln, dem Oberpräsidenten der die Regierungsbezirke Köln, Düsseldorf und Kleve umfassenden Provinz Jülich-Kleve-Berg, und mit dem commandirenden General v. Hake, dem Nachfolger Gneisenau’s, gut zu verständigen. Als Solms (24. Februar 1822) gestorben war, wurde dessen Oberpräsidialbezirk mit dem Ingersleben’s verschmolzen, sodaß I. seitdem die gesammten preußischen Rheinlande verwaltete. Nach Thielmann’s, des Nachfolgers von Hake, im October 1824 erfolgtem Tode kam Ingersleben’s Neffe Borstell als commandirender General an den Rhein. Besonders günstige Ergebnisse erzielte seine Verwaltung des Schulwesens, bei der er von tüchtigen Männern wie Johannes Schulze, Gerd Eilers und Lange wirksam unterstützt wurde. Im wesentlichen ließ er sie gewähren, nur hier und da freundlich eingreifend. Durch sein väterlich-wohlwollendes Wesen fühlten sich Eilers und Schulze auf das angenehmste berührt. Auch mit der katholischen Geistlichkeit kam I. gut aus. Es waren ja auch glückliche Zeiten. Konnte I. doch im Juli 1817 noch davon berichten, daß die Bibelgesellschaften zu Kreuznach und Neuwied auch von vielen katholischen Geistlichen des Bisthums Trier lebhaft unterstützt wurden. Mit dem Erzbischof Spiegel verband ihn nahe Freundschaft. Unter seiner Verwaltung wurde die Dampfschiffahrt auf dem Rheine eingerichtet. Er interessirte sich lebhaft für die Erneuerung des Kölner Doms. Auch seiner Leitung der landständischen Versammlungen in Düsseldorf wurde Geschicklichkeit nachgerühmt. Hansemann’s Plänen zur Gründung der Aachener Feuerversicherungsgesellschaft bewies er ein verständnißvolles Entgegenkommen. Sowol bei seinem 50-, als bei seinem 60jährigen Jubiläum in den Jahren 1818 und 1828 entzog er sich den persönlichen Huldigungen. Beide Male wurde er durch des Königs Huld ausgezeichnet, das erste Mal durch ein Handschreiben, 1828 durch die Verleihung des Schwarzen Adler-Ordens. Zu Beginn des Jahres 1831 stellte sich bei ihm eine Fußwunde ein und Augenschwäche ließ das Eintreten des schwarzen Stars befürchten. Trotzdem fuhr er fort, sich eingehend den Geschäften zu widmen. Noch am 13. Mai that er dies. In der 12. Abendstunde desselben Tages raffte ihn ein Lungenschlag aus dem Leben. Sein Leichenbegängniß gestaltete sich zu einer großen Huldigung der rheinischen Bevölkerung für ihn. Seine Witwe starb am 28. April 1846 in Berlin. [676] Außer ihr hinterließ er eine Tochter Luise, die an den Oberlandesgerichtspräsidenten v. der Recke verheirathet war. Recke übernahm die pommerschen Güter seines Schwiegervaters.

Nicht gerade eine glänzende Erscheinung in der preußischen Geschichte, hat sich I. doch mannichfache Verdienste erworben, namentlich durch seine Thätigkeit als Bauernbefreier in Pommern, die ihn auf der Höhe seines Schaffens zeigt, und als liebenswürdiger und milder Verwalter der Rheinande.

Nekrologe in der Allgem. preuß. Staatszeitung 1831, Nr. 149, der Vossischen Zeitung 1831, Nr. 124 u. der Spener’schen Zeitung 1831, Nr. 125, im Neuen Nekrolog der Deutschen. 9. Jahrg., I. Theil. Ilmenau 1833, S. 415–418, u. im Neuen Rheinischen Conversationslexikon, Bd. 6, Köln 1833, S. 1050–1052. – Acten des Kgl. Staatsarchivs zu Stettin und der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alterthumskunde daselbst, ferner der Geh. Kriegskanzlei und der Ritterakademie zu Brandenburg. – Pauli, Leben großer Helden. 2. Theil, Halle 1758, S. 91 ff. (der Vater). – Hörschelmann, Stammtafeln. Coburg 1774, S. 36. – Arnold, Geschichte d. Ritterakademie zu Brandenburg. Brandenburg 1805, S. 121. – Göttinger Musenalmanach 1799, S. 235. – Knapp, Bauernbefreiung. – Lehmann, Stein, Bd. 1, S. 310. – Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstenthums Hannover unter der französisch-westfäl. Herrschaft. Hannover u. Leipzig 1893 u. 1895. – Nachlaß Ludwig’s v. Ompteda. Abth. 1, Jena 1869, S. 135. – Granier, Die Kapitulation von Stettin 1806 und der Staatsminister v. Ingersleben, Baltische Studien, Neue Folge, Bd. IV, S. 1–15. – Carl Friedrich Meyer, Aus der Franzosenzeit Stettins. Neue Stettiner Zeitung 1890 December, 1891 Januar. – Stettiner Zeitung 1806, 1812–1815.– Sonnenschmidt, Sammlung der für Neuvorpommern u. Rügen in den Jahren 1802–1817 ergangenen Gesetze etc., Band 2, Stralsund 1847. – Pertz-Delbrück, Gneisenau, Bd. 5, insbesondere S. 31. – Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 2. – Fr. Meinecke, Boyen, Bd. 2. Pertz, Stein, Bd. 5 u. 6. – Varrentrapp, Johannes Schulze. – Rheinischer Antiquarius II, 2, S. 69 ff. – Gerd Eilers, Meine Wanderung durchs Leben, 2. Theil, Leipzig 1857. – Freiherr v. Meusebach, Eintagsschönchen 1818 (auf der Berliner Bibliothek), S. 35. – Gedichte auf Frau v. Ingersleben 1818 u. auf Ingersleben’s Tod 1831 auf der Bibliothek des Coblenzer Staatsarchivs.