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ADB:Hildebrand, Rudolf

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Artikel „Hildebrand, Rudolf“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 322–327, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hildebrand,_Rudolf&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:17 Uhr UTC)
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Hildebrand: Rudolf H., deutscher Philolog und Volkserzieher (1824 bis 1894). Heinrich Rudolf H. wurde am 13. März 1824 in Leipzig als Sohn eines armen Schriftsetzers geboren. In einem fragmentarischen Lebensabriß (bei Berlit S. 555 f.) erzählt er, wie der Tod über dem Hause in der „Bettelgasse“, wie die Johannisgasse im Volksmund hieß, lastete und den Vater, aber dadurch auch ihn selbst zum Hypochonder machte. „Ich habe später die tiefsten Hebel der Philosophie an meine Seele setzen müssen, um mein freies Gemüth aus dem Schutte einer finstern Menschen- und Weltanschauung herauszuholen.“ Jene Abneigung gegen alles Verdüsternde, jene Dankbarkeit selbst für den kleinsten Spaß, die seiner Persönlichkeit eigen ist, beruhte also auf tiefster eigener Erfahrung. – Schon auf der Schule trieb er dilettantische Sprachvergleichung. Der berühmten Thomasschule hat er wiederholt seine dankbare Erinnerung bezeugt, vor allem auch ihrem Rector Stallbaum; nur vermißte er selbst bei den anregendsten Lehrern jede Beziehung zur Welt unserer Classiker, vor allem Goethe’s (vgl. Beiträge S. 109). Er selbst dichtete damals gern und legte vor allem schon damals zu seiner erstaunlichen, von einem bewundernswerthen Gedächtniß gestützten Belesenheit den Grund (Berlit S. 559). – Auf der Universität ging er bald von der Theologie zur Philosophie und Philologie über; die größte Macht auf ihn gewann sein Landsmann Moriz Haupt, dem er auch in gleichmäßigem Studium der classischen und deutschen Philologie nachzufolgen hoffte (Aufsätze S. I; vgl. Berlit S. 562). Dann ward er zwanzig Jahr lang Lehrer derselben Anstalt, der er die eigene Bildung verdankte, und der mit Eifer und Herzenswärme gepflegte Beruf ward ihm die wichtigste Vorschule für seine spätere Pädagogik größeren Stils. Die Lehrerarbeit half ihm auch das feine Gefühl für individuelle Ausdrucksweise entwickeln, das später allerdings öfter neben allgemeineren Gesichtspunkten zurücktreten mußte. 1869 ward er außerordentlicher, 1874 ordentlicher Professor an der Universität, ohne sich der Eigenart des akademischen Lehrvortrags näher anzupassen. Die engere Umgebung Leipzigs hat er kaum verlassen; wie anderen sächsischen Hochschullehrern – ich nenne Fechner und vor allem Drobisch – genügte auch ihm das Spazieren oder allenfalls Reisen innerhalb eines innig vertrauten Bezirks. Hier aber suchte er Verkehr mit aller Art Volk und neben dem Gelehrten und Studenten war ihm die Waschfrau oder der Landmann eine willkommene Quelle der beiden Dinge, die er im Gespräch suchte: Belehrung und Erheiterung. Uebrigens hat er ziemlich einsam gelebt, still im Schooß der Familie und der Schüler, die ihm leicht Vertraute wurden; den früh verstorbenen österreichischen Volksdichter Franz Michael Felder sah er als seinen einzigen eigentlichen Freund an.

Moriz Haupt, der Begründer des Deutschen Wörterbuches, hatte seinen Schüler sofort als Helfer für dies Werk gewonnen, für das er ja auch wie kein Anderer berufen war, und Jakob Grimm zeichnete ihn sofort unter allen Mitarbeitern aus. Nach Wilhelm Grimm’s Tod rückte er zur Hauptarbeit ein; zum Buchstaben D hatte er viel beigesteuert, K und G, soweit dieser umfänglichste Band vollendet wurde, gehören ihm ganz und zwar in einem [323] Sinne, wie keinem zweiten Bearbeiter ein Theil des Riesenwerks gehört. Von jetzt an war Wortkunde und Wortgeschichte sein Lebensberuf. März 1863 erleichterte der Rath der Stadt Leipzig, vor allem auf Franz Pfeiffer’s Bitte, seine Arbeitslast am Gymnasium; bei Uebernahme der Professur fiel sie ganz fort. Er hielt mit lebhaftem Antheil Vorlesungen, doch mindestens später so, daß sie ihn von dem Arbeitskreis des Wörterbuchs nicht entfernen durften. Während der letzten Jahre gab er wegen schwerer Leiden die Collegia auf. Am 13. März 1892 feierte er unter vielseitiger Theilnahme seinen 70. Geburtstag, den insbesondere auch Genossen und Schüler mit einer inhaltreichen Festgabe (Forschungen zur deutschen Philologie. Leipzig Veit & Co.) ehrten. Bald darauf, am 28. October, ist er sanft entschlafen.

Rudolf H. nimmt unter den Meistern der deutschen Philologie eine durchaus eigenartige Stellung ein – eigenartig durch sein Arbeitsgebiet und durch seine Arbeitsweise. Beides aber hatte in seiner Lebens- und Berufsauffassung die individuellen zwingendsten Bedingungen.

In der „Wortkunde“ hat man mit vollem Recht seine eigenthümliche Bedeutung gesucht (Laube S. 96 f.). Das Wort spielt für H. eine ganz andere Rolle als für unsere anderen bedeutenden Lexikographen, unter denen er nach Benecke und Schmeller neben Schade der letzte war; er überragt sie aber hierdurch alle. Für die andern war die Kenntniß der Worte eine rein grammatische Disciplin, mochte nun Benecke der Synonymik, Schmeller der mundartlichen Deutung oder Schade der Etymologie das Hauptaugenmerk zuwenden. H. hingegen nimmt die Wortkunde als litterarhistorische, fast als culturhistorische Disciplin. Die Sprache ist ihm vor allem Kunst – eine Kunst allerdings, die dem Aermsten im Volk mit den vornehmsten Geistern gemein ist, ja an der die Kleinen auch schaffend mehr Antheil haben als die Großen und fast so viel wie die Höchsten. Ja gerade diese Frage: wie der einzelne moderne Deutsche in seinem Denken und Empfinden mit dem Volke zusammenhänge, erklärt Burdach (S. 6) für den Mittelpunkt seiner Forschung und Lehre. Das einzelne Wort nun ist ihm ein greifbares Stück aus diesem von Jahrhunderten geschmiedeten und aufgeschmückten Schatz und es hat ihm Bedeutung vor allem insoweit, als es ein Kunstwerk ist. Wie ihm der Sprachunterricht wesentlich Denkübung ist, so ist ihm auch die Sprache eigentlich nur die Kunst, Gedanken zu formen, und das Wort ist ihm Concentration eines bestimmten Gedankens oder noch lieber Anschauungsinhalts. Daher kommt es, daß seine Sprachforschung, wo sie sich zwanglos bewegt, fast völlig eine Philologie der Substantiva ist, während J. Grimm, der mehr das Fließen und die Entwicklung selbst als ihre Ergebnisse im Auge hat, die Verba stärker betont. Das Wort ist für H. vor allem ein lebendiger Geschichtschreiber, der von nationalen Erfahrungen, historischen Eindrücken, individuellen Anschauungen erzählt; H. prüft diesen Bericht mit allen Hülfsmitteln: Etymologie, Vergleichung, in erster Linie aber durch das Verhör classischer Zeugen. Aber was das Wort erzählt, bleibt ihm Hauptsache; oder vielmehr auch dies nicht, sondern was aus dem Inhalt der Wortgeschichte sich für die Geschichte des nationalen Empfindens, der Volksseele ergibt. Ich habe deshalb H. einmal dahin charakterisirt, er sei im Sinn der gewöhnlichen Terminologie weder ein „Wortphilolog“, noch ein „Sachphilolog“; ein „Gemüthsphilolog“ müsse er heißen.

Diese Freude an dem geistigen und gemüthlichen Ertrag der Wortforschung ließ H. an andern Seiten der Grammatik immer gleichgültiger vorbeigehen. Der Metrik zwar hat er gerade auch in den letzten Jahren werthvolle Untersuchungen gewidmet; aber doch auch dies hauptsächlich im Interesse jener Grundanschauung, [324] daß die Kunst des nationalen Ausdrucks vom Kindervers bis zu Goethe’s Rhythmen innerlich gleichartig sei. Gerade hier ist er dann auch in der Ueberschätzung des Goldes, das auf der Straße liegt, mit seinem gewissen freudigen Trotz zu weit gegangen und hat in dem Ausruf der Leipziger „Gebackenesausträger“ (Beiträge S. 223) wichtige rhythmische Aufschlüsse, wie in Kinderliedchen und Zaubersprüchen (Aufsätze S. 174 f., 209; Vorrede zu Albrecht S. IV–V) mythologische oder historische Hintergründe wol auch da gesucht, wo vielleicht nur eine spielende Willkür vorlag.

Im allgemeinen ging er aber gern entfernt von den rein formalen Gebieten der Grammatik einher und verfolgte die Kunst der Sprache da nicht, wo sie am staunenswürdigsten ist und die breiteste volksthümlichste Grundlage benutzt: im Sprachbau selbst, im Aufbau der Flexionen; wie er denn Systeme überhaupt nicht liebte (Beiträge S. V). Er entfernte sich dadurch auch von der Art seines verehrten Meisters Jacob Grimm und seine Neigung, das Wort gewissermaßen als Frucht vom Baum zu pflücken, diesen aber nur als Fruchtträger zu würdigen, hat bei geringeren Nachfolgern zu schädlicher Isolirung der Worte geführt. Freilich aber ward sie bei ihm durch glänzende Versuche vergütet. H. Grimm konnte selbst von den älteren Theilen des Deutschen Wörterbuchs urtheilen, daß seine Beiträge „wie köstliches Gestein inmitten des übrigen schlichten Mauerwerks hervorglänzen“. Man lese nicht nur die berühmten Artikel „Geist“ und „Gemüth“, sondern auch kleinere wie etwa „Geld“, „kehren“, „Kraut“, um zu begreifen, daß J. Grimm sich das Wörterbuch als Familienlesebuch dachte. Noch reicher sind seine freieren Aufsätze, in denen etwa plötzlich die Erklärung des Wortes „original“ (Beiträge S. 151) oder die culturhistorischen Deutungen von „Geselle“, „der Beste“, „helfen“, „dringen“ (Aufsätze S. 40 f.) neues Licht über scheinbar bekannte Dinge ergießen, oder die Wortgeschichten vom „Geschmack“ (Beiträge S. 314) und „Charakter“ (ebd. S. 289) großartige Zusammenhänge eröffnen.

Er plante ein umfassendes Handbuch (Sprachunterricht, 2. Aufl., S. IV); aber seine Abneigung gegen System und Definition (Materialien S. 1) hätte wol auch hier jene scharfe Eintheilung vermissen lassen, die den reichsten Artikeln Hildebrand’s eine sicherere und leichtere Benutzung verschafft hätte. Sehr hübsch hat man seine Methode als die des „angelehnten Sprachunterrichts“ (Laube S. 108) bezeichnet. Denn er, dem nach seinem eignen Zeugniß Herder’s Weltanschauung angeboten war, scheute wie dieser große Prophet des historischen Sinns alles Mechanische und wollte die Erkenntniß wie die Dichtung nur unter dem Drang einer besondern Gelegenheit reifen lassen. An Worterklärungen in der Schule, wie sein „Sprachunterricht“ und spätere Aufsätze sie reichlich darbieten, hat seine ganze Art sich herangebildet und seine vier Leitsätze (Sprachunterricht S. 5) haben in dieser Anknüpfung an den bestimmenden Anlaß ihre gemeinsame Wurzel. Der Unterricht soll mit der Sprache ihren Inhalt erfassen; soll nichts lehren, was der Schüler aus sich finden kann; soll auf die gesprochene Sprache das Hauptgewicht legen; soll das Hochdeutsch an die Volkssprache anschließen.

Diese Hauptsätze lassen Hildebrand’s Lebensanschauung und Berufsauffassung klar erkennen. Abgesehen ist es vor allem auf eine Ausbildung des Empfindungsvermögens (Beiträge S. 156) und zwar bei Lehrer und Schüler. Vor allem das Lautlesen, die Ausbildung des Gehörs ist H. (wie nach ihm sein Verehrer Otto Schroeder) nicht müde geworden zu predigen. Dieser Ausbildung wird nun aber doch nicht, wie zu erwarten wäre, völlige Freiheit der individuellen Entwicklung gelassen; vielmehr wird vorausgesetzt, daß sie zu bestimmten Idealen führe, die H. als Wiedergewinnen der eigenen Natur [325] (Materialien S. 3), als Rückkehr zur echt deutschen Art auffaßt. Dem unbedingten Individualismus war er durchaus abhold; er sah mit Altersgenossen wie Karl Goedeke auch in der Kunst das Volksthümliche als Gipfel an und stellte (Materialien S. V) das Volkslied unmittelbar neben Shakespeare. Dabei blieb nun aber (vgl. Materialien S. 1 f.) das Wesen des Volksthümlichen ziemlich unbestimmt und wurde oft lediglich im Gegensatz zur „Ueberbildung“ aufgefaßt; wie denn dem Großstädter H. doch der Arbeiter und die städtische „Frau aus dem Volk“ mehr als der Bauer den Begriff des „Volkes“ nahebrachten. Es kam dazu, daß diese einfache Scheidung in Volksthümliches und Modern-Verbildetes auch auf der Seite der Kunstdichtung eine schärfere Zeichnung immer entschiedener ausschloß: wie der ihm vielfach verwandte Ludwig Richter aus Dresden ließ er es sich in liebenswürdig-unbestimmten Umrissen allgemeiner Typen gern genügen und fügte individuellere Beobachtungen lieber anhangsweise („dabei von einer bedeutsamen Eigenheit in Goethe’s Denk- und Sprachweise“ Beiträge S. 149) als in selbständiger Untersuchung hinzu. Daher auch sein oft, übrigens in freundlichem Ton, hervorgehobener Gegensatz zu dem scharf individualisirenden Scherer, dessen Schlagwort „physiologisch“ (Aufsätze S. 127 u. ö.) ihm einen Abweg der neueren Forschung überhaupt zu bezeichnen schien. – Diese Verwischung der persönlichen Eigenheiten, diese von seiner versöhnlichen Natur dictirte Ausgleichung von Volks- und Kunstdichtung, von volksthümlicher und Goethe-Schillerischer Weltanschauung also ließ ihn auf die Entwicklung des Schülers und des Volkes fest vertrauen; er sah in seinen Fehlern, oft selbst in den Abwegen der Sprache (Beiträge S. 311) nur Schuld falscher Leitung! War er doch geneigt, überhaupt zu bestreiten, daß es da etwas völlig Falsches oder Verkehrtes gebe (Aufsätze S. 133). Wenn man nur in der Schule Empfindung und Gefühl wecke und das Denken übe, so werde die Jugend schon auf den rechten Weg kommen oder wieder kommen. Denn darin stimmte der freisinnige Pädagog doch mit Leipziger Schulhäuptern wie Gottsched und Adelung überein, daß er die sonst abgelehnte Regelung des Sprachgebrauchs (Beiträge S. 64) und der litterarischen Entwicklung gegenüber „modernen Auswüchsen“ für durchaus geboten hielt; insbesondere zur Abwehr der Fremdwörterei (Sprachunterricht S. 113 f. u. o.). Von neuerer Litteratur erkannte er überhaupt, trotz seiner Verehrung ihres Vorfechters Wienbarg (Aufsätze S. 309) wenig an, verlor wol auch die Fühlung mit ihr und beurtheilte sie (wie sein Schüler Wustmann) zu ausschließlich auf Grund der eifrig studirten Zeitungen. Auf diese Weise kam er, der freie Ausbildung zu lehren glaubte, durch den Gegensatz zu dem herrschenden Ton doch zu einem stark gesetzgeberischen Auftreten. Freilich unterschied sich seine Art in ihrem herzlichen Klang und ihrer geistvollen Ausführung stark von der engherzigen Pedanterie seiner Vorgänger. Man hat für seine Warnungen und Empfehlungen das schöne und treffende Wort von der „nationalen Seelsorge“ (Berlit S. 574) geprägt. H. gehört in diesem Sinn mit Männern wie P. de Lagarde, Fr. Th. Vischer, Treitschke eng zusammen, wie er denn auch eifriger Politiker war und jubelte, von der Sprachgeschichte als der „fast noch einzig reinen und schmerzlosen Darstellung unseres armen großen Vaterlandes“ (Berlit S. 571) zur Verehrung Bismarck’s (ebd. S. 568) fortschreiten zu dürfen. Wie aber seine Art der nationalen Seelsorge nicht bloß durch seine Person, sondern auch durch den Stoff besonders individuell bedingt war – wo er sich von diesem loslöste, wie in den schönen „Tagebuchblättern“, hat er viel geringere Erfolge erzielt – so war auch die Nachahmung bei manchen Schülern mit allen Gefahren verbunden, die beim „Verfliegen des Spiritus“ sich zu ergeben pflegen.

[326] Bei H. selbst aber wirkte alles harmonisch zusammen. Selbst daß er zu einer Zusammenfassung so wenig kam, wie sein gleich ihm im Sammeln und gelegentlichen Mittheilen glücklicher Landsmann Reinhold Köhler, hatte das Gute, ihm jederzeit die Frische unmittelbarer Gelegenheitsdeutung zu bewahren. Immer auf ein geistiges Nachschaffen (Aufsätze S. 133) bedacht, immer voll Liebe zum Großen bei aller „Andacht zum Unbedeutenden“ ward er eine vorbildliche Gestalt und aus seiner Lehrthätigkeit wie aus seinen Schriften erwuchs die „stille Macht seiner Person“ (vgl. Burdach, Festgabe S. 323). Mehr noch als auf die Forschung hat er auf die Schule gewirkt, wie R. Laube (freilich seinem Einfluß wol auch davon Unabhängiges zuschreibend) ausführlich dargethan hat. Aber auch die Schriftsteller- und nicht zum wenigsten die Lesewelt ist von ihm zu feinerem Aufmerken, zu sorgfältigerem Sprachgebrauch, vor allem zur Freude an der deutschen Sprache selbst unmittelbar und auch durch seine Nachfolger erzogen worden. Deshalb durfte Sievers ihn im Nachruf einen „praeceptor Germaniae“ nennen. Das Deutsche Wörterbuch konnte in seinem großen Sinn nicht fortgeführt werden; aber sein anderes Lebenswerk, der Sprachunterricht im höchsten Sinne des Wortes wird von Rudolf H. für immer eine neue Epoche datiren.

Zusammenfassend charakterisiren wir den Nachfolger Ludwig Uhland’s (dem man auch in Nachbildung der Widmung von Lachmann’s „Walther“ an den Dichter auf sein Grabmal schrieb: „Zum Dank für deutsche Gesinnung, Forschung und Lehre“) und J. Grimm’s mit Burdach’s schönen Worten: „Durch eine lichtarme enge Jugend, durch Druck und Sorge hat er sich seinen Weg bahnen müssen, aber im täglichen Kampf um die materielle Sicherung des Daseins, den er bis ins Mannesalter führen mußte, verließ ihn keinen Augenblick der angeborene Idealismus, der grenzenlose Enthusiasmus seiner innersten Natur, der unverwüstliche naive Optimismus seines gütigen Herzens. Das Kind des Volkes ist ein Gelehrter geworden, aber immer behielt er die Fühlung mit dem Volke, fortwährend war er bemüht, mit liebevollem Verständniß seiner Eigenart in Rede, Sang und Brauch nachzugehen. Halb unbewußt, durch eine unwiderstehliche Macht kam er zu dem Beruf seines Lebens. Früh von den großen Meistern der Philosophie tief ergriffen, warf er sich dann der jungen Wissenschaft vom deutschen Alterthum in die Arme, die Jacob Grimm und Lachmann begründet hatten. Als ein begeisterter persönlicher Schüler Moriz Haupts gedachte er eine Zeit lang, die antike und die moderne Welt zu umfassen. Gereift und selbständig geworden, hat er später wie kein Zweiter geschichtliches Denken geübt und gelehrt auf dem Gebiet der Sprache wie auf dem der Litteratur. Und im Gegensatz zu Jacob Grimm beherrschte er auch die neuere Zeit gleich der alten. Aber er war und blieb, treu seinen philosophischen Jugendneigungen, der einsam spekulirende Weltweise, der Freund und Kenner von Spinoza, Leibniz, Meister Eckhard. In einziger Weise verband er historische und ethische Betrachtung. Er übertrug etwas von dem reformatorischen Idealismus Schillers und Fichtes in die Deutsche Philologie. Der Erbe und Mitarbeiter der Brüder Grimm, der Schüler Haupts wollte zugleich die sittlichen Schätze, den Ertrag der Gedankenarbeit des 18. Jahrhds. in Umlauf bringen. Denn ihn leitete bei jedem Wort, das er lehrend schrieb und sprach, der tief eingewurzelte Trieb zur nationalen Pädagogik, der ihm in seiner Jugend einst nahe gelegt hatte, Journalist zu werden. Auch das Studium Goethes, den er kannte gleich wenigen, trieb er nur in diesem Sinne. Die Wissenschaft, wie er sie verstand, sollte dem nationalen Leben dienen, und dieses wiederum dachte er sich immer als reinen Accord in den Harmonien der Menschheit“.

[327] Schriften: „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“, Leipzig 1867, 4. Aufl. 1890; „Soltaus Historische Volkslieder, Zweites Hundert“, Leipzig 1856; „Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur deutschen Philologie und zum deutschen Unterricht“, Leipzig 1890; „Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen“, Gesammelte „Grenzboten“-Aufsätze, Leipzig 1896; „Beiträge zum deutschen Unterricht“, Leipzig 1897 (enthält auch verschiedene schon in den „Aufsätzen“ abgedruckte Artikel aus der Zeitschrift für deutschen Unterricht). Aus dem Nachlaß noch: „Materialien zur Geschichte des deutschen Volkslieds“ herausg. von Berlit I (nicht mehr erschienen), Leipzig 1900; „Ueber Walther von der Vogelweide.“ Eine Jugendarbeit (1848) hrsg. von G. Berlit, ebd. 1900. Ferner gab H. 1853 J. Weiske’s „Sachsenspiegel“ mit Glossar heraus und leitete 1881 K. Albrecht’s „Leipziger Mundart“ ein (vgl. Aufsätze S. 122 f.).

G. Berlit, R. H. Ein Erinnerungsbild. Leipzig 1895. – K. Burdach, Zum Gedächtniß R. Hildebrand’s. Rede. Bamberg 1895 (Sonderabdruck aus der Zeitschrift „Euphorion“ III). – R. M. Meyer, Die Literatur des 19. Jhs., S. 887. – R. Laube, R. H. und seine Schule. Leipzig 1903.