ADB:Hauser, Kaspar
v. Pirch widmen ihm die lebhafteste Fürsorge, der König von Baiern setzte eine Belohnung von 10 000 fl. auf die Entdeckung des Ursprungs und der wahren Verhältnisse des jetzt also genannten Kaspar H. Jedoch bleiben alle in dieser Richtung gemachten Bemühungen erfolglos. Am 18. Juli 1828 hatte man H. dem Professor Daumer in Nürnberg zur Erziehung übergeben. Dieser nebst Hauser’s geneigtesten Protectoren klagen über ihres Zöglings und Schützlings schlimme Eigenschaften, besonders über seine Trägheit, seine Verlogenheit, über die Widersprüche, in die er mit seinen Aussagen sich vielfach verwickele. Seine Fortschritte in Geistesbildung und Wissen sind gering. Temperament und Charakter werden reizbar, eitel, es entwickelt sich ein überaus scheues, furchtsames Wesen. Am 16. October 1829 findet man ihn aus einer ungefährlichen Schnittwunde auf der Stirne blutend bewußtlos auf dem Abtritt. Hier habe seiner Aussage gemäß ein Mann mit einem ganz schwarzen Bart ihn überfallen und durch einen Schlag ihm die Wunde beigebracht. Die sofort angestellte Untersuchung, [90] die eifrigsten Nachforschungen entbehrten jeglichen Resultates, ja nicht einmal der geringste Anhaltspunkt bezüglich eines Thäters, eines bei dem Ueberfall gebrauchten Instrumentes oder dgl. wurde aufgefunden. Kurz nach diesem Vorfall nimmt Lord Stanhope den seitdem, eine Zeit lang durch zwei Soldaten unausgesetzt sorgsamst bewachten H. als Pflegesohn an und dieser arbeitet nun mit wenig Fleiß bei dem Appellationsgericht zu Ansbach. Das Interesse an ihm war erkaltet, er selbst fast vergessen. Da plötzlich wird das Gedenken an ihn wieder aufgefrischt. Am 14. December 1833 gegen 5 Uhr Abends kommt H., durch einen tief dringenden Stich in die linke Seite verwundet, nach heftigem Schneegestöber aus dem Schloßgarten nach Hause. Ein Unbekannter, so lautet seine Aussage, habe ihn unter dem Vorgeben, ihm dort Nachrichten über seine Herkunft mitzutheilen, in den Schloßgarten bestellt und ihm dort die Wunde beigebracht, im Schloßgarten habe er einen Beutel verloren. Die sofortige Nachforschung an Ort und Stelle zeigte in dem frischen Schnee nur die Fußstapfen eines Einzigen, der Beutel wurde gefunden und in diesem ein Zettel mit den Worten: „Kaspar H. wird euch ganz genau sagen können, woher ich komme und wer ich bin. Um dem H. die Mühe zu ersparen, will ich es selber sagen: ich komme von der bayer. Grenze, ich will euch auch meinen Namen sagen: M. T. Oe.“ Die Aehnlichkeit dieser Worte mit denen des einst an den Rittmeister v. Wessenig abgegebenen Briefes springt in die Augen. Drei Tage nach dem Vorfall starb H. Wer war H.? Die erste Annahme war die einer an dem Kinde verübten Unthat. Man brachte H. mit dem Geschlechte der Napoleoniden in Verbindung, er sollte der zu Gunsten eines anderen Sohnes verstoßene Sohn eines Grafen Arco sein, sollte aus Ungarn stammen. Es ließ sich nichts ermitteln. Schon anläßlich der Verwundung Hauser’s im J. 1829 neigte man sich entschieden zu der vordem schon mehrfach festgehaltenen Annahme eines planmäßig angelegten Betruges. Diesen noch künstlicher zu wirren, habe H. sich die Verwundung selbst beigebracht. Die ärztliche Untersuchung sodann nach dem Vorfall vom December 1833, der gesammte Thatbestand des Vorganges, das Resultat der Section constatiren, H. habe selbst Hand an sich gelegt, in der aus der krankhaft überreizten Eitelkeit seines Wesens erklärbaren Absicht, das erkaltete allgemeine Interesse auf’s Neue wieder sich zuzuwenden. Ob er den tödtlichen Ausgang habe herbeiführen wollen, bleibe dahingestellt. Dieses Urtheil fand fast ausnahmslos Beifall, namentlich auch von Seiten der nächsten Protectoren Hauser’s, denen besonders die ränkevolle Verlogenheit ihres Schützlings, sein sich Verwickeln in Widersprüche die Annahme eines planmäßig angelegten Betrugs bekräftigt hatten. Da sprach im März 1834 ein badischer Flüchtling, J. H. Garnier, in einer zu Straßburg veröffentlichten Broschüre: „Einige Beiträge zur Geschichte Kaspar Hauser’s, nebst einer dramaturgischen Einleitung“ die Ansicht aus, H. sei der am 29. September 1812 geborene Sohn des Großherzogs Karl von Baden und seiner Gemahlin Stefanie Beauharnais, von der Reichsgräfin Hochberg, der damals verwittweten zweiten Gemahlin des Großherzogs Karl Friedrich, in der Absicht, ihren Söhnen, also in erster Linie dem nachmaligen Großherzog Leopold die Thronfolge zu gewinnen, geraubt und durch ein bereits todkrankes, am 16. October 1812 sodann gestorbenes Kind ersetzt. Die Flüchtlingschaft von 1834 variirte das Thema weiter. Sebastian Seiler spann in seiner 1840 in Zürich (3. Aufl. Paris 1847) erschienenen Schrift: „K. H., der Thronerbe Badens“, den Mythus mit schrankenloser Phantasie ins Detail. Derselbe konnte übrigens insofern auf eine gefeierte Autorität, die Anselm Feuerbach’s, gestützt werden, als dieser scharfsinnige, mit H. in persönlichem Verkehr gestandene Criminalist in seiner Ende 1832 erschienenen Schrift: „K. H., Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben“ (Ansbach), die früher von [91] ihm widersprochene Annahme aufgestellt hatte, H. sei das Opfer eines Verbrechens. Im J. 1852 veröffentlichte L. Feuerbach im II. Bande der von ihm herausgegebenen Schriften seines Vaters („Anselm Ritter v. Feuerbachs Leben und Wirken“, Leipzig) ein „geheimes Memoire über K. H.“, welches, im Februar 1832 auf deren wiederholte Anregung der Königin Caroline von Baiern eingereicht, die Identität Hauser’s mit dem 1812 geborenen badischen Erbprinzen „als eine starke menschliche Vermuthung, wo nicht moralische Gewißheit“ bezeichnete. Im J. 1859 wurde die Prinzentheorie Hauser’s neu aufgefrischt durch eine Schrift von F. K. Broch (Pseudonym des Dr. G. F. Kolb): „K. H., kurze Schilderung seines Erscheinens und seines Todes“ (Zürich). Ihr trat Dr. Jul. Meyer („Authentische Mittheilungen über K. H., aus den Gerichts- und Administrativacten zusammengestellt“, Ansbach 1872), Sohn eines Lehrers Hauser’s, entgegen mit der Thesis, H. sei ein Betrüger gewesen. Für Broch trat Prof. Daumer ein in einem Buch, „verworren und verwaschen, wie sein Titel“: „K. H., sein Wesen, seine Unschuld, seine Erduldungen und sein Ursprung in neuer gründlicher Erörterung und Nachweisung“ (Regensburg 1873). Noch im J. 1859 hatte Daumer in seinen „Enthüllungen über K. H.“ die jetzt von ihm vertretene Ansicht bekämpft. Auch der baierische Appellationsgerichtsrath v. Tucher verfocht die Prinzentheorie (Allg. Zeitg., Beil. vom 12. u. 20. März 1872). Die ultramontane und radicale Tagespresse, allen voran die „Frankf. Zeitg.“ (schon im Juli 1868, sodann Jahrg. 1872, Nr. 46, 47, 51, 54, 55, 61 f.; Feuilleton „Erbprinz oder Betrüger“, und 1875 Nr. 77 f., 82 f., 89) verfochten die Theorie mit großem Eifer, wol hauptsächlich in der Absicht, dem Hause des national und liberal gesinnten Großherzogs Friedrich in der Oeffentlichkeit einen Makel anzuheften. Da brach die badische Regierung ihr Schweigen und die Veröffentlichung der authentischen Urkunden über die Nothtaufe, die Leichenöffnung und die Beisetzung der Leiche des am 29. September 1812 geborenen und am 16. October 1812 gestorbenen badischen Erbprinzen in der Beilage der „Allgem. Zeitg.“ vom 3. Juni 1875 verwies die badische Prinzentheorie Hauser’s für jeden Unbefangenen absolut und auf immer in das Reich der fabulosen Phantasterei. Sodann aber hat der Hamburger Staatsanwalt Mittelstädt auf Grund der eingehendsten Acten- und Urkundenstudien die Theorie mit unerbittlich scharfsinniger Logik radicaliter zerpflückt („K. H. und sein bad. Prinzenthum von Dr. Mittelstädt“, Heidelb. 1876). Wer aber speciell noch und trotz der durch diesen selbst kurz vor seinem Tode erfolgten Zurücknahme seiner Prinzentheorie für diese auf die Autorität A. Feuerbach’s sich berufen wollte, der möge sich sagen lassen, daß das geheime Memoire nicht aus der Lebensperiode des hochgefeierten Mannes stammt, in welcher dieser seine Lorbeeren sich gepflückt hat, sondern aus der Zeit des in Folge überreicher Thätigkeit der Jugend- und Mannesjahre frühe heraufgeführten, den geistig und körperlich Erschöpften und Gebrochenen drückend quälenden Alters, aus einer Zeit, wo er selbst über die gänzliche Abnahme seines Gedächtnisses, über die Unfähigkeit zu abstractem Denken und Reflectiren schmerzlich klagt. Die früher schon als Vermuthung ausgesprochene und neuestens (Grenzboten 1878 Nr. 23, 24 und 25) als gesichertes Resultat proclamirte Annahme, H. sei der illegitime Sohn eines Bamberger Domherrn v. Gutenberg und einer Demoiselle Königsheim, ist in ihrer Unbegründetheit nachgewiesen (vgl. Dr. Jul. Meyer, Zur Geschichte der Herkunft K. H. Würzburg 1878). Auf die Frage: wer K. H. war? gibt es zur Zeit und wol für alle Zeiten nur die eine Antwort Mittelstädt’s: Niemand weiß es und Niemand hat es je erfahren. Die Erklärung aber dafür, wie es kam, daß H. der Mittelpunkt der empfindsamsten Theilnahme, der Neugierde, des Forschens fast einer ganzen Generation werden konnte, muß man mit Mittelstädt [92] suchen und finden „in den Krankheiten und Schwächen, der Verkümmerung und Verzerrung, dem Wunderglauben und Hang zum Unbegreiflichen, kurz in der engen dumpfen Stubenluft, in der der deutsche Geist jenes Zeitalters befangen und eingesperrt war. Nur in einer solchen Periode der Erschlaffung und einer durch romantische Phantastereien überwucherten Thatenlosigkeit konnte ein K. H. auftreten und zum Helden werden. Als ein Räthsel, das sich die Zeit selbst zur eigenen Kurzweil aufgegeben und an dem sie ihr krankes Gemüth abgequält hat, wird Gestalt und Name überliefert werden. In diesem, aber nur in diesem Sinne mag K. H. bleiben, was er gewesen ist und was sein Grabstein sagt: Aenigma sui temporis! ein Räthsel seiner Zeit!“
Hauser: Kaspar H., der wol allzu viel besprochene Nürnberger Findling. Die übereinstimmend bezeugten Hauptthatsachen seines Lebenslaufes sind folgende: Am Pfingstmontag (26. Mai) 1828, Nachmittags, kam ein junger, etwa 16jähriger Mensch in der Kleidung eines Bauernburschen, auffällig durch ungeschickte Körperhaltung, auf dem Unschlittmarkte in Nürnberg an und überreichte einem ihm dort begegnenden Bürger einen an den Rittmeister v. Wessenig adressirten Brief. Der Brief war datirt „von der bayerischen Gränz daß Orte ist unbenannt 1828“. Der Schreiber bezeichnete sich als einen armen Tagelöhner, Vater von 10 Kindern, dem man am 7. October 1812 den jetzigen Nürnberger Findling vor die Thüre gelegt habe; er habe ihn in tiefer Verborgenheit und Isolirtheit auferzogen, ihn aber im Lesen, Schreiben und im Christenthum unterrichtet, bis Neumarkt habe er, stets bei Nacht reisend, ihn selbst gebracht, der junge Mensch wolle „Schwolischeh“ (Chevauxleger) werden. Ein Zettel lag in dem Brief, auf welchem, angeblich von der Mutter des Findlings, geschrieben war, daß der Knabe, welcher Kaspar heiße und dessen Vater gestorben sei – er sei Chevauxleger in Nürnberg gewesen – am 30. April 1812 geboren sei, sie selbst sei „ein armes Mägdlein“. Der junge Mensch zeigte sich unbehülflich in Sprache und Benehmen, durchaus unwissend, wußte über Herkunft und Heimath keinerlei Mittheilung zu machen, ausgenommen die, daß er in einem engen, niederen Raume aufgewachsen sei. Doch konnte er seinen Namen „Kaspar H.“ leserlich schreiben. Sein Körper war wohlgebildet, der Gliederbau zart, Hände und Füße weich, sein Aussehen gesund. Anfangs genoß er blos Wasser und Brod, und wies jede andere Speise zurück. Die gewöhnlichsten Erscheinungen und Vorkommnisse des Lebens schienen ihm unbekannt. Die Stadt Nürnberg nimmt sich des Findlings an. In geradezu sensationeller Weise wendet sich auf ein bezügliches bürgermeisteramtliches Ausschreiben hin dem jungen Menschen das allgemeine Interesse zu. Lord Stanhope und Herr- Vgl. noch: Materialien zur Geschichte K. Hauser’s, gesammelt und herausgegeben vom Grafen Stanhope (Heidelb. 1835); Daumer, Mittheilungen über K. Hauser (Nürnb. 1832).