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ADB:Hartenstein, Gustav

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Artikel „Hartenstein, Gustav“ von Max Heinze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 21–24, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hartenstein,_Gustav&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 07:00 Uhr UTC)
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Hartenstein: Gustav H., Philosoph, geboren am 18. März 1808 zu Plauen im sächsischen Voigtland, zuerst im Hause seines Vaters, eines Kaufmanns, unterrichtet, wurde 1822 auf der Fürstenschule in Grimma aufgenommen, wo er u. a. den bekannten Gräcisten Wunder als Lehrer hatte. Im J. 1826 bezog er die Universität Leipzig und widmete sich hier theologischen, philologischen und philosophischen Studien unter Theile, Tzschirner, Niedner, unter dem Philologen Gottfried Hermann, unter dem Kant nahestehenden Philosophen Krug und dem Historiker Wachsmuth. Am 19. März 1831 wurde er zum Doctor philosophiae in Leipzig promovirt und habilitirte sich daselbst 1833 mit der Abhandlung: „De Archytae Tarentini fragmentis philosophicis“, die treffliche philologische Methode aufzeigt. Schon 1834 wurde er zum außerordentlichen und 1836 zum ordentlichen Professor der Philosophie ernannt. Der Kreis seiner Vorlesungen, die er 1833 mit der encyklopädischen Einleitung in das Studium der Philosophie begann, war ein außerordentlich großer, so weit, wie ihn selten ein Philosoph auf dem akademischen Lehrstuhl ausgedehnt hat. Die Fülle des Wissens, das er beherrschte, geht daraus hervor. Er behandelte fast alle Theile der systematischen Philosophie in seinen Vorträgen: Encyklopädie und Methodologie der Philosophie, Einleitung in die Philosophie und Logik, auch Logik allein über 20 Mal, Allgemeine Metaphysik oder auch nur Metaphysik, einmal nebst Anfängen der Psychologie, Empirische Psychologie oder nur Psychologie, Philosophische Moral oder philosophische Sittenlehre, z. Th. mit Berücksichtigung ihrer Geschichte oder ihrer geschichtlichen Ausbildung besonders im Christenthum, Allgemeine praktische Philosophie mit besonderer Beziehung auf die wissenschaftliche Gestaltung der Sitten- und Rechtslehre, oder Grundzüge der [22] philosophischen Sitten- und Rechtslehre, Philosophie des Staats und Rechts, Naturrecht, Rechtsphilosophie, Aesthetik, Religionsphilosophie, Grundbegriffe der Pädagogik. Neben diesen systematischen Vorlesungen vernachlässigte er als akademischer Lehrer keineswegs die Geschichte der Philosophie, wie sich aus seinen Ankündigungen von Vorlesungen über die wichtigsten philosophischen Systeme alter und neuer Zeit, über Geschichte der griechischen Philosophie bis Aristoteles, über die Philosophie des Platon und Aristoteles, die Geschichte der alten Philosophie bei den Griechen und Römern, Geschichte der neueren Philosophie seit Bacon und Cartesius nach Tennemann, u. a. ergibt. Auch allgemeineren Gegenständen wendete er auf dem Katheder seine Thätigkeit zu, so hat er einmal über die Freiheit des menschlichen Willens mit Beziehung auf Sitten-, Rechts- und Religionslehre gelesen, einmal über den Zweck des akademischen Studiums. Uebungen der psychologischen Abtheilung der Lausitzer homiletischen Gesellschaft (später Lausitzer Prediger-Gesellschaft) hat er eine Reihe von Semestern geleitet.

In seiner etwas nüchternen, verständigen Weise fühlte sich H. von der zu phantasievollen und zu speculativen Art des Philosophirens Schelling’s und Hegel’s, die zur Zeit seiner Habilitation viele Geister beherrschte, abgestoßen und vielmehr angezogen von dem strengeren exacten Denken Herbart’s, das ja die Mathematik und die Psychologie umfaßte. H. war so in seinem philosophischen Denken ganz gleich gerichtet mit seinem etwas älteren Collegen Drobisch, dem er auf das freundschaftlichste verbunden war. Sie beide trugen zum Verständniß und zur Verbreitung des Herbart’schen Realismus auf dem Katheder und durch ihre Schriften wesentlich bei, machten die Universität Leipzig Jahrzehnte lang zu einer Burg eben dieser Lehre und hatten die Genugthuung, eine große Anzahl von Schülern für sie zu gewinnen. Die Vorlesungen Hartenstein’s waren streng sachlich gehalten und mußten durch große Klarheit und die sichere Kunst, die Probleme deutlich hervortreten zu lassen und an ihre Lösung mit Schärfe zu gehen, die Zuhörer gewinnen und anregen. Zu diesen gehörte u. A. der auf pädagogischem, philosophischem und philologischem Gebiete weit bekannte Hermann Bonitz. – Ebensowenig wie H. auf dem Lehrstuhl ein eigentlich selbständig schaffender Geist war, zeigte er Ursprünglichkeit in seinen Schriften, die aber dadurch besondern Werth haben, daß sie aufklären und unterrichten, vor allem über die Philosophie seines verehrten Meisters Herbart, aber auch über neuere philosophische Denker. Man kann sagen, daß sie namentlich historischen Werth haben. Er veröffentlichte nach seiner Habilitationsschrift: „De methodo philosophiae logicis legibus adstringenda finibus non terminanda“, Lpz. 1835: „Die Probleme und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik“, Lpz. 1836, trefflich zur Einführung in die Herbart’schen Principien; „De ethices a Schleiermachero propositae fundamento“, Lpz. 1837; „Ueber die neuesten Darstellungen und Beurtheilungen der Herbart’schen Philosophie“, Lpz. 1838; „De psychologiae vulgaris origine ab Aristotele repetenda“, Lpz. 1840; „Die Grundbegriffe der ethischen Wissenschaft“, Lpz. 1844; „De materiae apud Leibnitium notione at ad monadas relatione“, Lpz. 1846; „Ueber die Bedeutung der empirischen Schule für die Geschichte der metaphysischen Probleme“, Lpz. 1847; „Darstellung der Rechtsphilosophie des Grotius“ (aus Bd. I der Abhandlungen d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch.), Lpz. 1850; „De notionum iuris et civitatis, quas B. Spinoza et Th. Hobbes proponunt, similitudine et dissimilitudine“, Lpz. 1856; „Ueber den wissenschaftlichen Werth der aristotelischen Ethik“, Lpz. 1859; „Ueber Locke’s und Leibnizens Lehre von der menschlichen Erkenntniß“, Lpz. 1861; acht dieser Abhandlungen sind, vermehrt um eine neunte: „Ueber Leibnizens Lehre von dem Verhä1tniß der [23] Monaden zur Körperwelt“ u. d. T.: „Historisch-philosophische Abhandlungen“, Lpz. 1870, zusammen herausgegeben worden. – Große Verdienste hat sich auf wissenschaftlichem Gebiete H. noch erworben um die Werke Kant’s und Herbart’s. Von Kant’s Schriften veranstaltete er als der erste eine verhältnißmäßig correcte Gesammtausgabe: „Imm. Kant’s sämmtliche Werke“, 10 Bde., Lpz. 1838 u. 39, worin eine systematische Ordnung im ganzen innegehalten ist. Vorzuziehen ist die chronologische Ordnung, die H. in einer weiteren Ausgabe innehielt: I. Kant’s sämmtliche Werke in chronologischer Reihenfolge, 8 Bde., Lpz. 1867–69. Die sämmtlichen Werke Herbart’s hat er in 12 Bdn., Lpz. 1850–52 herausgegeben, 2. Abdruck, Hamb. 1883–93, 13. Bd.: Nachträge und Ergänzungen. Vorher hatte er schon Herbart’s kleinere Schriften nebst dessen wissenschaftlichem Nachlaß in 3 Bdn., Lpz. 1882 erscheinen lassen. Die drei Ausgaben zeugen von großer Genauigkeit und gewaltigem Fleiß.

An der Universität Leipzig nahm H. eine äußerst geachtete Stellung ein, wie sich auch darin zeigte, daß er 1848 Rector war, ein Amt, das gerade in dieser Zeit mit Geschick, aber auch mit Entschiedenheit geführt werden mußte. Mit diesem seinem Rectorat wird es auch zusammenhängen, daß er 1848 das Amt eines Ephorus der Leipziger Universitätsbibliothek übernahm. Es war in den Universitätskreisen damals vielfach Unzufriedenheit über die Verhältnisse der Bibliothek, namentlich über die Verwaltung seitens des damaligen Oberbibliothekars laut geworden; als sich dieser nun einmal dahin äußerte, die Klagenden möchten doch die Sache selbst besser machen, wenn sie könnten, meinte H., er getraue sich das wol zu. Das Anerbieten wurde vom Ministerium ernst genommen und so trat er in den Dienst der Bibliothek mit dem erwähnten Titel, und zwar wird er bei dem Personal vor dem Oberbibliothekar Gersdorf aufgeführt. Ueber zehn Jahre war er auf das sorgsamste und fleißigste an der Katalogisirung thätig und hat sich dadurch höchst verdient um die Bibliothek gemacht. Diese Arbeiten mögen ihn auch in einigen Semestern verhindert haben, Vorlesungen zu halten. Jedenfalls steht sein Name hoch auch in der Geschichte der Leipziger Universitätsbibliothek.

Im J. 1859, in voller körperlicher und geistiger Kraft, verließ er Leipzig, ließ sich pensioniren und zog sich nach Jena in das Privatleben zurück, wie es scheint aus Verstimmung über persönliche Verhältnisse. Jena zu wählen, dazu mochte ihn die Freundschaft mit dem dortigen Professor und Pädagogen K. V. Stoy bewegen, der auch der Herbart’schen Schule angehörte. In der Thüringer Universitätsstadt, wo er ein Haus mit einem Garten erworben hatte, wollte er voller wissenschaftlicher Muße leben, seinen Garten besorgen und die Zucht von Rosen, die er besonders liebte, treiben, auch ohne schriftstellerisch thätig zu sein. Auf die Dauer konnte er sich diese Ruhe aber doch nicht wahren. Er wurde veranlaßt sich praktisch zu bethätigen als Stadtverordneter, und als man in Jena nach Weggang des Bibliothekars in Verlegenheit kam, vermochte man ihn, den Erfahrenen, aber doch schon Siebzigjährigen, die Leitung der Bibliothek zu übernehmen, die er bis gegen Ende seines Lebens auch behielt und sich so großen Dank der Universität verdiente. Die Arbeit mochte ihn etwas über die Einsamkeit hinwegtrösten, die er nach dem vorzeitigen Tode seiner vortrefflichen Frau, geb. Schwencker aus Gera, zumal er kinderlos war, bitter empfinden mußte. Er verschied am 2. Februar 1890, von den Schwächen des Alters nicht zu lange bedrückt, und wurde an der Seite seiner Gattin in Jena beigesetzt. – Gewissenhaftigkeit, strenge Pflichterfüllung, Wohlwollen gegen Andere, Treue in der Freundschaft, namentlich in der zu Drobisch, die Gabe, anregende Gespräche zu führen und aus der Fülle seines Wissens mitzutheilen, sind Eigenschaften, die ihn besonders auszeichneten.

[24] Nekrolog in der Jenaischen Zeitung, Nr. 30, 5. Februar 1890. – Schriftl. Mittheilungen des Hrn. Bibliothekars Dr. O. Günther in Leipzig. – Ueberweg-Heinze, Grundr. d. Gesch. d. Philos. IV. – Persönl. Bekanntschaft.