ADB:Haltrich, Josef
W. Wachsmuth’s sich auch persönlicher, tiefgehender Anregung erfreuend. Im Kreise der geistig hochstrebenden, gleichzeitig mit ihm studirenden Landsleute weckte der ältere Genosse Fr. W. Schuster, der noch jetzt lebende feinsinnige Dichter und Forscher, die Freude am eigenen Volksthum, dessen Werth ihm durch die Schriften J. und W. Grimm’s im vollen Lichte aufgegangen war. H. erzählt darüber: „In den wirrvollen und stürmischen Jahren 1848 und 1849, wo wir Gleichstrebenden meist schon in der Heimath waren, konnte natürlich an eine so stille und friedliche Arbeit, als wir vor hatten, nicht gedacht werden. Kaum war aber die Ruhe hergestellt, so nahmen wir nach einem vorher besprochenen Plane mit Lust und Ernst die Sache in Angriff. Jeder der Freunde sollte zwar Alles sammeln, dessen er in seinem Kreise habhaft werden könnte, allein jeder sollte sein Augenmerk vor der Hand nun auch ganz besonders auf einen Gegenstand richten und von den andern durch einschlägige Beiträge unterstützt werden. So übernahm nach freier Wahl Wilhelm Schuster für sich als Hauptaufgabe die Sammlung sächsischer Volkslieder, Räthsel u. s. w., Friedrich Müller die Sammlung sächsischer Sagen und ich die Sammlung sächsischer Märchen, Johann Mätz die Sammlung der Sitten, Gebräuche, herkömmlichen Reden und Redensarten.“ H. fand als Lehrer am evangelischen Gymnasium in Schäßburg, dessen Lehrercollegium damals unter der Leitung G. D. Teutsch’s (A. D. B. XXXVII, 618) durch das rege Ineinandergreifen hochzielenden wissenschaftlichen Strebens und freudiger pädagogischer Kleinarbeit gekennzeichnet war, vollauf Gelegenheit zur Ausführung seiner Forschungspläne. Schon 1855 veröffentlichte er die Abhandlung „Zur deutschen Thiersage“, die eine kurze, leider trügerische Hoffnung erweckte, unter den Deutschen Siebenbürgens die von J. Grimm reconstruirte deutsche Thiersage noch im lebenden Flusse finden zu können. 1856 sodann erschien in Berlin die ebenso durch ihre Reichhaltigkeit wie durch die Treue und den Volkston der Aufzeichnung ausgezeichnete Sammlung der „Deutschen Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen“. Wenn auch das zuerst hochgespannte, auch von Forschern wie J. Grimm, K. Simrock getheilte Urtheil über die germanische Originalität dieser Märchen einer nüchterneren Erwägung der Beeinflussung durch die mitwohnenden Nationalitäten, namentlich die Rumänen, den Platz geräumt hat, so behauptet die Sammlung als treffliches Volksbuch doch den sofort in der Werthschätzung der Volksgenossen errungenen Platz (4. Aufl. Wien 1885). Ein größeres Arbeitsziel [735] wurde H. durch die Betrauung mit der Leitung des schon von Leibniz angeregten siebenbürgisch-sächsischen Idiotikons gesteckt, an dem zuletzt noch J. K. Schuller (A. D. B. XXXII, 682) richtunggebend gearbeitet hatte. Für neuaufzunehmende Sammlungen gab H. 1865 einen umsichtigen „Plan“ heraus und legte selbst reiche Sammlungen an, die durchwegs durch das scharfe Aufmerken auf die kennzeichnenden Sprachwendungen, auf Gebrauch der einzelnen Stichwörter in stehenden Redensarten u. s. w. gekennzeichnet sind. Die von ihm erhobene Einzelforderung, daß zur Charakterisirung des Wortbestandes einer Mundart auch eine Uebersicht über die sonst im allgemeinen Sprachgebiete gebräuchlichen, in der speciellen Mundart aber fehlenden Ausdrücke gehöre („Negative Idiotismen“, 1866) ist von der allgemeinen deutschen Mundartkunde als zu Recht bestehend anerkannt und aufgenommen worden. Zu diesen größeren Arbeiten kam eine Reihe von Specialuntersuchungen, mit denen sich H. über das ganze Gebiet der Volkskunde ausbreitete („Stiefmütter, Stief- und Waisenkinder in der siebenb.-sächs. Volkspoesie“ 1856; „Zur Culturgeschichte der Sachsen in Siebenbürgen“ 1867; „Deutsche Inschriften aus Siebenbürgen“ 1867; „Die Macht und Herrschaft des Aberglaubens“ 1871; „Sächsischer Volkswitz und Volkshumor“ 1881). Außerdem war H. auch an der gerade damals aufblühenden publicistischen Litteratur Siebenbürgens rege betheiligt. Stellten doch die tiefen Umwälzungen des Lebens, die infolge der Union Siebenbürgens mit Ungarn das gesammte wirthschaftliche, politische, culturelle Leben der Siebenbürger Sachsen ergriffen, an jeden Volksfreund die Anforderung, über die eigentliche Berufsarbeit hinaus mit Feder, Wort und Herzblut für das Volk einstehend den Uebergang in neue Lebensformen zu ermöglichen. Und kann als Schlagwort für diesen Uebergang die Zusammenfassung als Cultureinheit gegenüber der bisherigen politisch-municipalen Einheit gelten, so gebührt H. das Verdienst, durch liebevolle Vertiefung in das alte Erbe der Mundart, der Volksdichtung, des Brauchs, der Sitte, diese Schätze des Volksthums gehoben und sie zum bewußten Gesammtbesitz der siebenbürgisch-sächsischen Volkscultur gemacht zu haben. Er hat damit mitgeholfen, ein Bollwerk zu schaffen, das sich zersetzenden Einflüssen gegenüber als stärker bewährt hat, wie Gesetze und verbriefte Rechte.
Haltrich: Josef H., siebenbürgisch-sächsischer Volkskundeforscher, geboren am 22. Juli 1822 in Sächsisch-Reen, † am 17. Mai 1886 als evangelischer Pfarrer in Schaas bei Schäßburg. Nach Absolvirung des evangelischen Gymnasiums in Schäßburg studirte H. 1845–1847 in Leipzig Theologie und Philologie (Geschichte), als FamulusIn dieser volkserhaltenden Wirksamkeit, mit auch durch das Mittel der wissenschaftlichen Forschung liegt das Schwergewicht der Lebensarbeit Haltrich’s. So hat er an der Seite seiner mitstrebenden Freunde den festen Grund zur volkskundlichen Erforschung des siebenbürgisch-sächsischen Volksstammes gelegt (neben J. Haltrich: J. Mätz († 1901), Die siebenb.-sächsische Bauernhochzeit, 1860. G. Schuller, Volksthümlicher Glaube und Brauch bei Tod und Begräbniß im Siebenb. Sachsenlande, 1863–1865. Fr. Müller, Siebenb. Sagen, 1857 (2. Aufl. 1885). Fr. W. Schuster, Siebenb.-sächs. Volkslieder, 1865 [eine 2. Auflage ist in Vorbereitung]. Vgl. ferner: H. Hillner, Volksthümlicher Glaube und Brauch bei Geburt und Taufe im Siebenb. Sachsenlande, 1877. G. A. Heinrich, Agrarische Sitten und Gebräuche unter den Sachsen Siebenbürgens, 1880. O. Wittstock, Volksthümliches der Siebenb. Sachsen, 1895. A. Höhr, Siebenb.-sächs. Kinderreime und Kinderspiele, 1903). Der eigentlich wissenschaftliche Ertrag seiner Bemühungen selbst wurde allerdings durch seine mit der Zeit nicht mehr ausreichende sprachwissenschaftliche Schulung geschmälert. Das hat er denn selbst eingesehen und hat neidlos seine reichen Sammlungen zur weiteren Verarbeitung jüngeren Strebensgenossen überlassen. Ein Zug der Selbstlosigkeit, der wie Bescheidenheit und Güte des Herzens den Mann kennzeichnete, den nicht nur wissenschaftliches Interesse, sondern das verwandte Wesen seines Gemüthes zur Welt der Kinder und Märchen hinzog.
[736] Die kleineren Schriften Haltrich’s hat 1885 zum 100. Geburtstag J. Grimm’s J. Wolff (s. A. B. B. XLIII, 765) mit wissenschaftlich weiterführenden Anmerkungen und Excursen unter dem Titel „Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Wien, K. Graeser“ neu herausgegeben und damit dem verdienten Manne eine letzte, ehrende Lebensfreude gemacht.
- Trausch-Schuller, Schriftstellerlexikon der Siebenbürger Deutschen IV, S. 168–172. – G. D. Teutsch, Denkrede auf J. Haltrich im Archiv d. V. f. sb. Vkde. Bd. XXI, S. 206 ff. – A. Schullerus, Die Vorgeschichte des siebenb.-sächsischen Wörterbuchs, 1895.