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ADB:Graff, Eberhard

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Artikel „Graff, Eberhard Gottlieb“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 566–568, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Graff,_Eberhard&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:19 Uhr UTC)
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Graff: Eberhard Gottlieb G., deutscher Sprachforscher. Sohn eines Arztes, geboren am 10. März 1780 zu Elbing, studirte er seit 1797 in Königsberg, ging 1802 als Lehrer an das Conradische Erziehungsinstitut nach Jenkau, ward 1805 Professor am Gymnasium in Elbing, wo er eine Töchterschule gründete. Im J. 1810 wurde er Regierungs- und Schulrath zu Marienwerder, 1814 zu Arnsberg, nachdem er 1813 Mitglied des Verwaltungsrathes unter dem Freiherrn v. Stein gewesen war und z. B. den Aufruf zu den Waffen an die Mecklenburger verfaßt hatte, worin Aufhebung der Leibeigenschaft versprochen wurde. Enthusiastisch, wohlmeinend, voreilig und unpraktisch, wie er war, veröffentlichte er 1817 eine Schrift über „Die für die Einführung eines erziehenden Unterrichtes nothwendige Umwandlung der Schulen“ (2. Aufl. 1818). Er verlangte nichts geringeres als den gänzlichen Umsturz der bestehenden Schulverfassung: das Classensystem sollte aufgehoben werden, alle in einem Jahre schulfähig werdenden Kinder sollten eine Classe bilden und die ganze Schulzeit durch, sieben Jahre lang, in denselben Händen bleiben, so daß gleichsam sieben neben einander fortgehende Schulen in einer Anstalt vereinigt wären. Da der [567] Vorschlag vollständig mißglückte (selbst eine sehr wohlwollende Recension von Herbart mußte ihn für unpraktisch erklären, und an amtliche Durchführung war nicht zu denken), so gab G. die pädagogischen Bemühungen auf und wandte sich ausschließlich sprachlichen Forschungen zu.

Schon seit vielen Jahren hatte er nach Gelegenheit und ohne bestimmten Plan altdeutsche Wörter gesammelt. Als ihm nun, nach seinem Ausscheiden aus der Verwaltung, ganz freie Muße zu Theil ward; als er gleichzeitig Jacob Grimm’s deutsche Grammatik kennen lernte, welche ein umfassendes Glossar des althochdeutschen Sprachvorrathes für eines der dringendsten Bedürfnisse der deutschen Philologie erklärte; als ihm endlich zu Königsberg ein günstiger Zufall Lachmann’s belehrenden Umgang schenkte: da begann er 1821 seine Lebensarbeit, den „Althochdeutschen Sprachschatz“, auf den sich alle seine sonstigen Publicationen beziehen. Im J. 1824 schickte er auf Lachmann’s Rath, mit Jacob Grimm’s und Beneke’s Unterstützung, „Die althochdeutschen Präpositionen“ als Probearbeit voraus, eine sorgfältige, höchst erfreuliche lexikalisch-syntaktische Abhandlung, welche ihm sofort eine Professur in Königsberg und die Möglichkeit einer dreijährigen wissenschaftlichen Reise durch Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien (1825–27) verschaffte. Aus den gedruckten Materialien war der althochdeutsche Sprachschatz nicht herzustellen: es kam darauf an, von wichtigen Werken correktere Texte zu liefern, Ungedrucktes ans Licht zu fördern, die zahlreichen alten lateinisch-deutschen Wörterbücher und Uebersetzungen einzelner lateinischer Wörter, kurz die Masse der althochdeutschen Glossen, in Abschriften zu erlangen; nebenbei mochte für die mittelhochdeutsche Litteraturgeschichte neuer Stoff beschafft, unbekannte Denkmäler für die erste Neugierde gewonnen werden. Das Sammelwerk „Diutiska“ (3 Bde., 1826–29) – mit seinen Gedichten an der Spitze der Bände, mit seinen Widmungen der einzelnen Stücke an einzelne Gönner, worunter Goethe und Wilhelm v. Humboldt, mit seinem ganzen fragmentarisch-wahllosen Publiciren und Verzeichnen, ein rechtes Spiegelbild werdender Wissenschaft –, die Ausgaben von Otfrid’s Evangelien (unter dem willkürlichen Titel „Krist“, 1831), vom althochdeutschen Isidor (1836), von verschiedenen St. Gallischen Werken (Aristoteles, Boethius, Marcianus Capella 1837), von zwei Psalmübersetzungen des 12. Jahrhunderts (1839) sind Früchte dieser Reisen. Im J. 1834 erschien das erste Heft des Sprachschatzes (6 Bde. 1834–42, Index 1846), dessen letzter Band erst nach dem Tode des Verfassers durch Maßmann ans Licht gefördert wurde. Zeigte das Präpositionenbuch noch die ganze sanguinische Frische einer beginnenden Gelehrtenlaufbahn mit hochgestellten Zielen, so ertönen in der Diutiska schon Klagelaute, die Vorrede zum Otfrid erzählt von Augenschwäche und immer wiederkehrenden Nervenübeln, die Vorrede zum Sprachschatz beschwert sich über aufreibende Schmerzen, Sorgen und Kränkungen, und legt ungescheut Zeugniß ab von der verbitterten Stimmung eines Mannes, der die besten Jahre seines Lebens, seine Gesundheit, das Wohl seiner Familie einem von Anderen zu wenig geförderten Werke zum Opfer gebracht habe. Gleichwol erfreute sich dieses Werk der besonderen Gunst des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelms IV., und der Verfasser konnte als Akademiker zu Berlin von 1830 bis zu seinem Tode am 18. October 1841 seine ganze Kraft darauf concentriren.

Graff’s Bestrebungen, die ausnahmslos dem Althochdeutschen gelten, weisen insofern eine seltene äußere Einheit auf; aber es fehlt die innere Vollendung. Der wohlmeinende weltunkundige Patriotismus seiner Erziehungschrift begleitet ihn durchs Leben. In seinem Otfrid wendet er Verse Walthers von der Vogelweide auf die Julirevolution an; die „Ausschreitung der Göttinger Sieben“, wie sich ein officiöser Artikel ausdrückt, soll er mißbilligt haben; noch kurz vor seinem [568] Tode wollte er ein politisches Disputatorium von ziemlich abenteuerlicher Natur gründen. Den Sprachschatz denkt er sich auf den Tischen der Frauen; der Otfrid soll in den höheren Bürgerschulen gelesen werden; der St. Galler Boethius soll die studirende Jugend zum philosophischen Denken anregen. Der Nutzen des Althochdeutschen für die Auffassung des Neuhochdeutschen wird beständig hervorgehoben, die Forderung eines verbesserten deutschen Unterrichtes daran geknüpft, ohne eine Spur wirklich fruchtbarer pädagogischer Gedanken. Kurz überall die praktischen Tendenzen eines unpraktischen Menschen.

Unpraktisch zeigt er sich denn auch im Sprachschatz, aus welchem leider nicht „ein alle Zeiten hindurch dauerndes Werk“ geworden ist, wie er selbst es hoffte. Einem falschen plattersonnenen Ideal von Wissenschaftlichkeit wurde die Brauchbarkeit aufgeopfert; die Anordnung erfolgte nicht nach dem Alphabet und nach Wörtern, sondern nach Lautclassen und höchst problematischen Wurzeln. In Wahrheit war gerade die Etymologie wenig gefördert, die Methode vergleichender Sprachforschung hatte sich G. nicht genügend aneignen können; außerdem aber waren auch die Bedeutungen nicht entwickelt, schwierige Stellen nicht erklärt; überhaupt die geistige Durchdringung fehlte: das Werk hatte und hat seinen Werth als eine Sammlung von weitschichtigem Material. Auch so aber fehlt die absolute Vollständigkeit, die man verlangen darf, und es fehlt, wie in Graff’s Editionen, jene peinliche buchstäbliche Genauigkeit, die wir uns heute zur Pflicht machen. Für die althochdeutsche Grammatik, für Lautlehre wie Formenlehre, enthält das Werk werthvolle thatsächliche Beiträge; aber in der Theorie ist G. selten glücklich, seine Polemik gegen das Gesetz der Lautverschiebung ist so verfehlt, wie seine Erklärung der schwachen Declination. So hat denn Graff’s großes Lebenswerk nicht gehalten, was ein schöner Anfang versprach. Seine Thätigkeit steht am höchsten, wo er am meisten als Jacob Grimm’s und Lachmann’s Schüler erscheint. Sein Beispiel zeigt, daß für geringere Geister die Hingebung an große Vorbilder besser ist, als das unbedingte Streben nach Selbständigkeit.

Neues Jahrbuch der Berliner Gesellschaft für deutsche Sprache, Bd. V. S. 58–80.