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ADB:Grädener, Karl

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Artikel „Grädener, Karl“ von Hermann Grädener in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 500–504, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gr%C3%A4dener,_Karl&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:42 Uhr UTC)
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Grädener: Karl Georg Peter G. wurde am 14. Januar 1812 in Rostock geboren.[1] Sein Vater war dort Gerichtssecretär; die Mutter zeichnete sich durch geistige Gewandtheit und rasche Feder aus, so daß sie in Ausnahmefällen die Arbeiten ihres Mannes übernehmen konnte. Beide starben sehr früh; für den erst wenige Jahre alten Karl und seine beiden Schwestern Henriette und Caroline sorgte die Tante der Kinder, Frau Betty Hennings in Altona, indem sie dieselben zu sich nahm. Wer Grädener’s ungemein energisches Wesen gekannt, wird mit Verwunderung hören, daß er als Knabe nun durch eine Reihe von Jahren (bis zu seinem 14.) in dem von Frau Hennings geleiteten Mädcheninstitut erzogen wurde. Als der kleine Karl nach einiger Zeit an der üblichen Musikpflege theilnehmen sollte, und zu diesem Zwecke zu einem Clavier geführt wurde, weigerte er sich, dasselbe Instrument zu spielen wie die Mädchen; er verlangte jenes, auf welchem der Herr spielte, welcher öfters kam, ein Violoncell. Es blieb daher nichts anderes übrig, als den mit dem Hause befreundeten Cellisten Mattstädt zu veranlassen, für ein kleines Violoncell zu sorgen, und den für ein solches Instrument fast noch zu kleinen Schüler muthig zu übernehmen. Karl gewann seinen Lehrer Mattstädt ganz ungemein lieb; machte ihm doch derselbe die Musikstunden zu Stunden höchster Anregung, von denen später der Künstler G. mit Begeisterung und Wärme sprach. Sein Talent zur Musik wurde hier erkannt, seine nun wachsende Liebe zu derselben mitempfunden und unterstützt. Zu seinem Leidwesen aber wollten seine Verwandten von einer eigentlichen Ausbildung für diese Kunst nichts wissen, Karl wurde eines Tages von seinem geliebten Lehrer getrennt und nach Lübeck auf das Gymnasium geschickt, wo er sein liebgewonnenes Cellospiel nur in beschränktem Maaße und allein betreiben konnte; er hatte, wenn er sich dem Spiel länger widmete als die Verwandten, bei denen er wohnte, zulassen wollten, manchen Kampf zu bestehen. Als endlich der Jüngling die Universität Halle (wo er bei seinem Onkel, dem Universitätsprofessor Mühlenbruch, liebevolle Aufnahme fand) und später Göttingen bezog, hofften seine Verwandten, seine allzustarke Liebe zur Musik werde durch die juristischen Studien erstickt werden; aber trieb der Student auch recht fleißig jus, so spielte er doch noch fleißiger sein Instrument – ja dies genügte ihm nicht mehr, er componirte kleine Solostücke, spielte in Gesellschaften und Concerten und war zum Erstaunen seiner Freunde eines Tages verschwunden – außer Stande, die Musik nur nebenbei zu betreiben, hatte er der Wissenschaft Lebewohl gesagt, um mit Hülfe seines Freundes Patius, eines Schülers von Spohr und Concertmeisters in [501] Helsingfors, daselbst die Stelle eines Solocellisten zu erlangen. Hier trat G. zugleich als Quartettist auf, unternahm Concertreisen und componirte emsig – vorderhand allerdings fast ausschließlich Cello-Soli mit Orchesterbegleitung, Fantasien, Variationen und „alla Polacca“ mit sehr vielen Flageoletttönen, den nöthigen Arpeggios und Sechstenpassagen, aber vorsichtiger Weise ohne seinen Namen, an dessen Stelle „Carl Felix“ angenommen ward.

Nach dreijähriger Thätigkeit verließ G. Helsingfors, um einem Rufe nach Kiel als Universitäts-Musikdirector Folge zu leisten. Wenn er schon in der letzten Zeit seines früheren Aufenthaltes auf ernstere, schöpferische Bahnen gerieth und auch für Singstimme, ja für Chor schrieb, so gewann in Kiel der Boden auf dem er sich bewegte noch mehr an Breite und seine Schaffensweise an Ernst und Selbständigkeit. Die Polacca wurde mit der viel originelleren Sonate für Clavier und Violine „à la Dompfaff“, in welcher die Weise dieses Vogels den Mittelpunkt bildet, vertauscht. Manches Chorwerk aus dieser Zeit, z. B. das Oratorium „Johannes der Täufer“, verräth schon den bedeutenden Contrapunctisten. Die ersten Lieder entstanden und die Freude, mit der dieselben begrüßt wurden, befestigten seinen Glauben an sein Talent. Seine Stellung veranlaßte den Verkehr mit bedeutenden Männern und somit eminente geistige Anregung. Besonders trat er Otto Jahn, dem nachmaligen Mozartbiographen nahe, den er als Privatdocenten an der Universität fand; bald auch dem Historiker Droysen, dem persönlichen Freunde Mendelssohn’s; auch zu dem jetzigen Leiter der Allgemeinen Deutschen Biographie Rochus v. Liliencron, der 1840 seine Universitätsstudien in Kiel begann, bildeten sich enge Beziehungen, zuerst nur durch Clavierunterricht, bald aber in herzlicher Freundschaft, die bis zu Grädener’s Tode in beiden Männern nachklang. Das sehr alt und altmodisch gewordene Musiktreiben in Kiel hatte Grädener’s jugendlicher Feuereifer schnell in neue bessere Bahnen fortgerissen, Vereine wurden gebildet, in denen sich die musikalische Jugend mit Begeisterung um den originellen Führer scharte. G. wurde in dieser Arbeit vor allem in verständnißvoller und energischer Mitthätigkeit durch Otto Jahn’s Schwester, die Gattin des Gynäkologen Michaelis, unterstützt. Zuerst wurde Beethoven und die älteren Meister innerhalb des Musiklebens und der Concerte an den ihnen gebührenden Ehrenplatz gehoben, dann eine glühende Begeisterung, hauptsächlich auch unter Droysen’s Einfluß für Mendelssohn angefacht, der soeben in den Höhepunkt seines Ruhmes stieg; neben ihm erschien dann auch Robert Schumann, so war bald alles anders und neu geworden und es verbreitete sich von Kiel aus ein frisches musikalisches Leben durch die Herzogthümer. Inzwischen holte sich G. aus dem häufig aufgesuchten Hamburg seine hervorragend musikalische Gattin, Wilhelmine Sack, welche in seinem Schaffen ganz mitleben konnte, und deren Kunstsinn und feine Empfindung nicht ohne Einfluß auf seine Werke blieb. Seltsamer Weise errichtete G. nun, um seine äußeren Verhältnisse günstiger zu gestalten, eine kleine Musikalienhandlung und ein Leihinstitut; wer den „Geschäftsmann“ G. zu beobachten Gelegenheit hatte, wird mit Recht voraussetzen, daß diese Unternehmung nicht von langer Dauer sein konnte. Die vorhandenen Musikalien wurden Freunden in freundschaftlicher Weise überlassen und hin und wieder sogar geschenkt. Mit dem Schaffen aber ging es nun jenen frischen Gang, den Talent, Begeisterung und Kunstfleiß in ihrer Vereinigung hervorzubringen pflegen, und es ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit der Autodidakt sich in jeder Weise vervollkommnete; ein Werk folgte dem andern, eines wurde besser als das andere, und als G. endlich, sich nach einem bedeutenderen musikalischen Boden sehnend, nach Hamburg übersiedelte, konnte er, außer dem [502] g-moll Clavierquintett, der Clavier-Violinsonate in d-moll und den ersten „Fliegenden Blättern“ für Clavier, schon eines der drei später bekannt und beliebt gewordenen Streichquartette mitbringen, das erste in B-dur. Wenn wir von diesen Werken auf die in Helsingfors entstandenen zurückblicken, welche, in dem damals üblichen Virtuosenstil gehalten, individuellen Gepräges fast gänzlich entbehren, so staunen wir, daß sie von derselben Hand sind, welche später charakteristische, scharf gezeichnete Züge aufweist, die die persönlichen Eigenthümlichkeiten des Autors oft so sehr wiederspiegeln, daß wir beim Anhören seiner Werke fast zu lebhaft an ihn selbst gemahnt werden. Und doch ist uns diese so recht aus dem eignen Born quellende Schaffensweise einer temperamentvollen und warmen Natur so lieb geworden, daß wir dieses Moment in seinen Werken nicht entbehren, oder manche schneidige Kante mit größerer Glätte vertauschen möchten. Bei der ersten Bekanntschaft mit manchem dieser Werke fand man dieselben allerdings bizarr und unverständlich und stand ihnen fremd gegenüber; nachdem man sich aber in dieselben hineinzufinden gesucht hatte, empfand man mehr und mehr wie doch alles nicht nur ganz natürlich erfunden sei, sondern sich auch ganz außerordentlich logisch entwickle; das „Bizarre“ hatte sich für den Hörer in jenen ungemein frischen Zug verwandelt, in jenes kecke und doch so warm pulsirende Leben, welches die Tongebilde Grädener’s durchströmt und sie ganz besonders auszeichnet.

In Hamburg trat G. in hervorragender Weise als Dirigent auf. Er gab mehrere große Compositionsconcerte und leitete von 1851–1861 die von ihm selbst ins Leben gerufene „Singakademie von 1851“. Bis zum Jahre 1855 leitete er auch die Singakademie in Altona. Als bedeutendste Leistung auf diesem Gebiete ist die Aufführung der J. S. Bach’schen Matthäuspassion in der St. Catharinenkirche in Hamburg zu nennen. Diese Aufführung, überhaupt die erste dieses Werkes zu Hamburg, mit einem bedeutend großen Chor, einem enormen Knabenchor für den eingeflochtenen Choral, einem entsprechend großen Orchester mit Hinzuziehung vorzüglicher auswärtiger Solokräfte für die Bläserpartien und Joachim’s[WS 1] Sologeige, machten einen so tiefen Eindruck, daß bald darauf, auf allseitigen Wunsch, eine Wiederholung der Aufführung stattfand.

G. verstand es auch, die Feder zu führen; gewandt im Stil, gelang es ihm des öfteren, seine fast unbesiegbare Logik als Waffe schwingend, einen Gegner niederzustrecken. Sein Wort ist geistreich und voll sprühenden Witzes. Viele seiner Schriften sind in den „Gesammelten Aufsätzen“ zusammengestellt; ein Lehrbuch der Harmonie enthält seine theoretischen Grundsätze. Auch als Redner trat G. wiederholt vor die Oeffentlichkeit; anfangs ruhig, konnte er, durch sein wachsendes Feuer und seine Begeisterung zündend, den Zuhörer bald mitreißen. Das, was ihm erhaben dünkte, vertheidigte er mit wahrem Feuereifer und suchte es künstlerisch zur Geltung zu bringen wo und wie er konnte. Das aber, was mit der Höhe der Kunst in Widerspruch zu stehen schien, bekämpfte er auf das allerenergischeste. Ihm handelte es sich hier einzig und allein um die Sache und nie konnte ihn Mißverstehen von Seite Anderer oder eigener persönlicher Vortheil von den Wegen, die er für die richtigen hielt, abbringen. So konnte es denn freilich nicht ausbleiben, daß seine unbeugsame Ehrlichkeit sich seiner Laufbahn nur zu oft hindernd in den Weg stellte. Infolge seiner Freundschaft mit dem ihm in so mancher Hinsicht sinnes- und geistesverwandten Hans v. Bülow waren in Weimar Aufführungen einiger seiner Werke geplant; zur Ausführung dieses Planes aber wäre bedingungslose Anerkennung der damals dort herrschenden Mächte unerläßlich gewesen – G. jedoch konnte und wollte nicht, eigenen Vortheils halber seine [503] Ueberzeugung verleugnend, sich beugen –, die Folge war, daß man ihn dort für immer fallen ließ. Mit der durch den Namen „Zukunftsmusik“ bezeichneten Richtung war G. nun einmal nicht einverstanden – desto eifriger trat er für den jungen Brahms ein, welchem damals allgemeine Anerkennung noch versagt war; immer von neuem hob er in Musik- und anderen Blättern dessen Bedeutung und Größe hervor, Lanze auf Lanze für ihn brechend. Brahms fand zu jener Zeit Worte wärmsten Dankes dafür. Und so hat G. durch eine Reihe von Jahren auf verschiedene Weise in das Musikleben, namentlich Hamburgs, bedeutend mit eingegriffen. Die während dieser Zeit entstandenen Werke sind: König Harald, heroisch-romantische Oper, später mit „non edendum“ bezeichnet, ein Beweis seiner Strenge gegen sich selbst – Lieder in großer Anzahl, Duette, gemischte Chöre a capella, unter denen der Irrwischsang Furore machte, der zaubervolle „Zwiegesang der Elfen“ für gemischten Chor und kleines Orchester, zwei weitere Streichquartette und zwei Claviertrios, weitere „Fliegende Blätter“ und „Fliegende Blättchen“ für Clavier, die Ouvertüren zu „Fiesco“ und dem „Raub der Sabinerinnen“, Symphonie in C-moll, ein figurirter Choral für Chor und Orchester (den Manen Joh. Sebastian’s), hervorragend wegen seiner bedeutenden Contrapunctik, und eine komische Oper „Der Müllerin Hochzeit“, ebenfalls non edendum.

Plötzlich trieb ihn sein unruhiger Geist nach Wien: am Conservatorium daselbst wirkte er einige Jahre hindurch als Professor des Gesanges und der Composition. Grädener’s eigenartige Natur machte es ihm schwer, sich in ungewohnte Sitten zu fügen; sein für Fremde verblüffendes, kurzes und rasches Wesen wurde oft für Schroffheit genommen und ehe man noch dazu hatte kommen können seine Gutmüthigkeit und Liebenswürdigkeit oder seinen sprudelnden Humor zu erkennen, war der bewegliche Mann längst fortgesaust, um wieder in etwas anderes sich nicht hineinfinden zu können, oder von anderen wieder nicht begriffen und als ein sehr sonderliches Wesen mit Verwunderung betrachtet zu werden. Seine Offenheit erregte fast allgemein Anstoß. Zu den wenigen die ihn verstanden und mit denen er daher hier in näheren, ja innigen Verkehr treten konnte, gehörten Gustav Nottebohm, der Musikforscher, der Pianist Julius Epstein[WS 2], dessen warmer Freundschaft er stets mit Liebe gedachte und Franz Flatz, in dessen Hause G. durch Frau Ida Flatz seine Lieder prächtig hören konnte. Leider mußte dieser anregende Verkehr abgebrochen werden, weil es G. nicht glückte, in Wien festen Fuß zu fassen, wenngleich Professor Dr. Eduard Hanslick ihn in liebenswürdigster Weise in seinen Bestrebungen unterstützte; er beschloß nach Hamburg zurückzukehren. Hier wußte man ihn zu würdigen; die Hamburger, vor allem der prächtige Theodor Avé Lallemant[WS 3], hatten ihren Freund nicht vergessen, und er war gerührt und bewegt über die ungemein liebevolle Aufnahme, welche er bei seinen zahlreichen Freunden fand. Von nun an wollte er Hamburg nicht mehr verlassen. Er erhielt die Professur für die Composition am Conservatorium und man wählte ihn zum Präsidenten des Tonkünstlervereins.

Seinen aus Wien mitgebrachten „Reise- und Wanderliedern“, einem Männerchor mit Orchester (Kampf der Geister und Bergknappen nach Körner), dem Streich-Trio und -Octett folgte nun die h-moll-Symphonie mit ihrer rhythmischen Frische, das zweite Clavier-Quintett (cis-moll) und zwei weitere Streichquartette in F und D. Daß G. in seiner künstlerischen Entwicklung nicht stehen blieb, beweist der Umstand, daß er ein bisher von ihm nicht benütztes Instrument, die Orgel, nun mit Glück aufsuchte; die Sonate für Clavier und Violoncell, von seiner Liebe zu seinem Jugendinstrument getragen, gehört wol zu seinen allerbesten und reichsten Schöpfungen.

[504] Schließlich näherte sich dem freilich immer noch jugendlich Frischen der siebzigste Geburtstag. Derselbe war ein Festtag für ihn, da das ganze musikalische Hamburg ihn durch eine öffentliche Feier auszeichnete und er von Nah und Fern mit allen erdenklichen Liebesbeweisen überschüttet wurde. Nur kurze Zeit noch war es ihm vergönnt, an der Seite seiner Gattin, die Freud und Leid getreulich mit ihm getheilt, und die er sozusagen auf Händen trug, unter seinen Freunden zu weilen. Nach zwei Jahren erkältete er sich durch plötzliche Abkühlung nach einer von ihm geleiteten erhitzenden Musikprobe und erlag einer Lungenentzündung ebenso schnell wie bei ihm alles schnell und ungesäumt geschah. In seinen allerletzten Lebensjahren war G. ruhiger und sanfter geworden; wer aber unter denjenigen, die ihn gekannt haben, erinnerte sich nicht des Feuergeistes, der nichts ohne Temperament und Leben erfaßte, wer nicht seines elektrisirenden Humors, seines geistreichen Witzes und seiner oft wunderlichen Originalität, welche in vielen Anekdoten manchem in Erinnerung sein mag.

Als er z. B. einst in früher Morgenstunde seinem Sohne Hermann Harmonieunterricht ertheilte, erklangen plötzlich von der Straße her Drehorgeltöne; G. schoß sofort ans Fenster, öffnete es und befahl dem Musensohne, aufzuhören, was demselben aber gar nicht einfiel. G., angethan mit langem Schlafrock, Morgenschuhen und einer Morgenhaube, stürzt entrüstet die Treppe hinab, fliegt bei der Hausthüre hinaus, packt mit grimmer Geberde die Deichsel des Musikwagens und zieht denselben weit fort. „So, hier können Sie orgeln“, ruft er dem verdutzten Werkelmann zu, „übrigens ist das Ding da ja ganz verstimmt“. Der alte Werkelmann drauf gutmüthig: „Ach Herr, ich glaube Sie sind verstimmt“. Ueber diesen mit Sanftmuth gepaarten Humor ward der Zürnende so gerührt, daß er dem Manne lächelnd auf die Schulter klopfte und mit einem: „Da haben Sie allerdings vielleicht nicht so ganz Unrecht“ ihn für die ihm angethane Kränkung reichlich entschädigte. Ueber seinem Schreibtische hing unter anderen Bildern eines, dessen Rückseite nach außen gekehrt war. Ein ihn besuchender Freund, seine Verwunderung über diese Anordnung ausdrückend, machte zugleich eine unwillkürliche Armbewegung, wol um das Bild auf die richtige Seite zu wenden. Aber dieser in die Hausordnung störend eingreifende Arm wurde sofort fest gepackt und es ertönte: „Halt, laß das, ich will mit dem Menschen da auf dem Bilde nichts mehr zu thun haben, ich will ihn nicht sehen“. Der Freund: „Aber Grädener, so entferne doch das Bild von der Wand.“ G.: „Entfernen? Entfernen? I bewahre! Ich will ja sehen daß ich den Mann nicht sehen will“.

Denen, die G. näher standen, offenbarte sich die Wärme und Tiefe seines Gemüthes, welche ja auch aus seinen Werken, seinen seelenvollen Adagios, aus so vielen seiner Lieder zu uns spricht.

Seine Schüler betrachteten ihn als ihren Freund; seine Kinder vergötterten ihn und fanden in ihm den stets sorgenden, liebevollsten Vater. Seine Freunde schätzten seine Treue und seinen unbeugsam ehrlichen Charakter und um diesen und seine Künstlerschaft, für die er sein ganzes Leben eingesetzt, zu ehren, schmückten sie sein Grab mit einem Denkmal.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. Grädener, Karl XLIX 500 Z. 18 v. o. l.: † am 10. Juni 1883 in Hamburg. [Bd. 56, S. 397]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joseph Joachim (1831–1907), Violinist und Komponist; s. NDB.
  2. Julius Epstein (1832–1926); österreichischer jüdischer Pianist
  3. Theodor Avé-Lallemant (1806–1890), Musikkritiker, Musikschriftsteller.