ADB:Brandt, Gottlieb
Dr. Wilh. Harnisch’s Leitung blühende Seminar zu Weißenfels, wo ebenso ein methodischer Unterricht wie die persönliche Einwirkung der nach verschiedenen Seiten geistig sehr regsamen Lehrer, auch der Verkehr mit gleichstrebenden Zöglingen und Hülfskräften der Anstalt dem empfänglichen treufleißigen jungen Manne die [180] reichsten Mittel zur Belehrung und zur Entfaltung seiner Anlagen darboten. Was ihm jene Lehrer und Jugendgenossen waren, ist am besten aus dem zu entnehmen, was er in seinen „Erinnerungen“ von ihnen urtheilt. Namentlich weiß er davon zu sagen, wie er zum Selbstarbeiten und Selbstdenken angeleitet wurde. Von Moritz Hill wurde er auch zu einem geschickten Taubstummenlehrer ausgebildet, und er hat schon in Weißenfels „Abendunterhaltungen für Taubstumme“ herausgegeben. Von Ostern 1841 bis Herbst 1842 hatte er den Vorzug, Hülfslehrer an der Musterschule des Seminars zu sein. Durch Harnisch empfohlen wurde er dann an die vom Inspector Becker geleitete Bildungsanstalt für verwahrloste Kinder zu Neuhof bei Straßburg berufen und zu einer Thätigkeit, die seinem Bestreben ganz entsprach. Die mit der Schule verbundene Bildungsanstalt für Armenschullehrer mußte wegen der Ungunst der französischen Regierung aufgegeben werden. Die Neuhofer Jahre, die ihn auch in nahe Beziehungen zu Straßburg brachten und wo er, wie nie vorher, die innerlich umschaffende, das ganze Leben erneuernde Kraft des Evangeliums an ganz verschiedenen Persönlichkeiten kennen lernte, waren für B. von hoher Bedeutung und er sagt, ihm sei hier die Richtung für seinen ganzen späteren Lebenslauf gegeben. Nach einer für seine innere Entwicklung wichtigen Reise durch die Schweiz, wobei er wirkungsvolle christliche Anstalten und deren Vorsteher kennen lernte, verlebte er vom October 1844 an ein Studienjahr in Paris, wo ihm die Mitaufsicht über das Pensionat von J. J. Keller übertragen wurde. Mit aller Macht suchte er die Bildungselemente dieser Weltstadt zu benutzen, trieb fleißig Französisch, hörte auf der Sorbonne über Dante und französische Litteratur bei Génusez, versäumte aber auch nicht in religiös-kirchlicher Beziehung das in seinen Gesichtskreis tretende kennen zu lernen und auf sich wirken zu lassen, soweit ers vermochte. Im August 1845 kehrte er der großen Stadt den Rücken und trat über Belgien und Holland, immer leißig sich umsehend und sammelnd, die Heimreise nach Wernigerode an. Als er dort Eltern, Verwandte und Freunde wiedersah, erhielt er einen Ruf als Director der höheren Töchterschule in Saarbrücken. Er sagte bedingungsweise zu. Als er aber dann erst noch der ihm ans Herz gewachsenen Anstalt zu Neuhof einen Besuch abstattete, bat man ihn dringend, die Leitung derselben zu übernehmen. Dazu konnte er sich nicht entschließen, durfte aber mit Genehmigung des Curatoriums der Saarbrückener Mädchenschule noch bis in den Januar 1846 zur Aushülfe in Neuhof bleiben. Am 15. d. M. wurde er in sein Amt zu Saarbrücken eingeführt, worin er 42 Jahre lang mit ganzer Hingebung und großem Segen gewirkt hat. Die Schule, welche bei seinem Amtsantritt 41 Schülerinnen in drei Classen zählte, war bei seinem Weggang auf 265 in 7 Classen mit zehnjährigem Cursus gestiegen, obwol neben ihr im J. 1858 noch eine „Vereinstöchterschule“ entstanden war. Von Neuhof aus hatte B. in dem bei Kehl auf dem rechten Rheinufer gelegenen Leutesheim eine durch Geist, Bildung und Frömmigkeit ausgezeichnete Frau Wittwe Dr. Jolberg kennen gelernt. Ursprünglich Jüdin und als Julie Regine Zimmern in Heidelberg geboren, hatte sie sich mit tiefster Ueberzeugung dem Christenthum zugewandt und in Leutesheim sich der Erziehung armer Kinder gewidmet, worin ihre beiden Töchter erster Ehe mit Dr. Neustetel sie unterstützten. Die ältere, Mathilde, die auch geistig ihrer Mutter Ebenbild war, wurde am 18. Mai 1847 Brandt’s Gattin und war ihm in Haus und Beruf eine treue Genossin und Stütze. Als Leiter und erster Lehrer seiner Anstalt hat B. den Grundsatz vertreten, daß es bei der Töchtererziehung nicht auf die Masse des Wissens, sondern auf eine höhere Bildung des Herzens und Verstandes und die Erweckung eines geläuterten Geschmacks [181] für das Schöne und Edle ankomme, wodurch dann eine sichere Schutzwehr gegen das Unedle und Gemeine für das ganze Leben gewonnen werde. Vor allem sah er in der religiösen Erziehung ein Mittel für die Lösung seiner Aufgabe. In diesem Sinne wirkte er auch durch den von ihm eingerichteten Wochenschluß in der letzten Samstags-Schulstunde. Die segensreiche, nachhaltige Wirkung dieser Einrichtung geht aus Zeugnissen herangereifter Schülerinnen hervor. Eine wichtige und wesentliche Ergänzung seines Lehr- und Erziehungswerks bildete die Weihe und Würde seiner Persönlichkeit und sein lauterer Wandel. Wohl hatte er in seinem Wesen etwas weiches und schüchternes, wußte aber durch seinen Ernst und seine sittliche Würde bei sonst kindlich-freundlichem Bezeigen das Ansehen als Lehrer stets aufrecht zu erhalten.
Brandt: Martin Gottlieb Wilhelm B., Schulmann und Schriftsteller, geboren zu Wernigerode am 3. October 1818, † zu Lahr in Baden am 10. October 1894. Als Sohn eines frommen und redlichen, kinderreichen aber wenig bemittelten Handschuhmachers hatte B. eine knappe, mühsame Lehrzeit durchzumachen und mußte, sobald dies möglich war, seinen Eltern durch Beaufsichtigung anderer Schüler und ihnen ertheilten Unterricht die Kosten für seine schulmäßige Vorbildung zu erleichtern helfen. Nacheinander besuchte er die große und kleine Pfarrschule in der Neustadt, dann die neueingerichtete Bürgerschule in der Altstadt, von Ostern 1833 bis Juli 1837 aber die Oberschule daselbst. Letztere stand gerade damals nicht auf einer hohen Stufe und förderte nur bis zur Secunda eines Gymnasiums. Da aber B. von Kind auf treu bestrebt war fleißig zu lernen und sich alles zur Schule zu machen, so nahm er viel Gutes für Geist und Gemüth aus dem Unterricht in der Vaterstadt, die er treu liebte, mit hinaus, wie er das selbst bekannt hat. Im Herbst 1837 besuchte er das unterNeben seinem Schulamt widmete er sich auch in ausgedehntem Maaße dem christlichen Vereinsleben und der inneren Mission. So war er von Anfang an Vorstand der infolge der Erschütterungen des Jahres 1848 entstandenen Kleinkinderbewahranstalt Christianenstadt, seit 1870 der Herberge zur Heimath, wie sie Prof. Perthes in Bonn und Prof. Huber in seiner Vaterstadt Wernigerode eingerichtet hatten. Wie am letzteren Orte schloß sich seit 1888 daran ein Vereinshaus für Zusammenkünfte zu christlichen Zwecken. Er nahm auch den Jünglingsverein unter seine Obhut und war Mitvorstand der im Birkenfeldschen gelegenen Erziehungsanstalt zu Niederwörresbach, lange Jahre Mitvorstand der preußisch-pfälzischen Conferenz für innere Mission, Theilnehmer an der freien Lehrerconferenz zu Dudweiler, seit 1890 war er Leiter des Mutterhauses für die Erziehungsschulen armer Mädchen zu Nonnenweier. Seine schriftstellerische Thätigkeit war eine so ausgedehnte als mannichfaltige, fand aber ihre Einheit in dem Ziel, das sie verfolgte, denn alle seine Schriften dienen der Erziehung im weitesten Sinne des Worts, ergänzen also seine amtliche Berufsthätigkeit. In den „Erinnerungen“ sind 36 Schriften aufgezählt mit Ausschluß der nur in Zeitschriften veröffentlichten Arbeiten; es sind nicht gelehrte Studien, sondern Zeugnisse einer evangelisch gläubigen christlichen Persönlichkeit. Schon in der Vaterstadt hatte er bei christlicher Haus- und Schulerziehung dazu den Grund gelegt, war dann, wie er selbst sagt, in Weißenfels noch tiefer von den Wellenschlägen der Erweckungszeit angeregt, dann in Neuhof, Paris und nicht zuletzt in Leutesheim unter dem Einfluß seiner frommen werkthätigen Schwiegermutter noch mehr gefestigt worden. Wir können von seinen Schriften, von denen verschiedene wiederholt und mehrfach aufgelegt, einzelne auch französisch und holländisch bearbeitet wurden, nur einzelne nennen, so die Sammelwerke: „Die Pflanzenwelt, deren Leben, Sinn und Sprache in älteren und neueren Dichtungen“ (Frankfurt 1850, 2. Ausg. 1869). Er betrachtete darin das Leben der Natur in seiner Beziehung zur Menschenseele und suchte daraus Früchte für die irdische und ewige Bestimmung des Menschen zu gewinnen. „Das Pflanzenleben, dessen Wachsthum, Sprache und Deutung“ (Frankf. a. M. 1866); „Gedankenperlen zum Betrachten und Beachten“ (in 5 Aufl., 1853–1886); „Gedankenlese zum Sinnen und Beginnen“ (Frankf. a. M. 1860 u. 1864); „Schriftgedanken zum Rathen und Thaten“ (ebd. 1870); „Unsere Kinder, eine Gabe Gottes, ein Segen des Hauses“ (Basel 1865 und 1881); „Blicke in die Erziehung, Fremdes und Eigenes, Vätern und Müttern gewidmet“ (1875); „Dienende Liebe“ (1867) und „Ehrenzeugnisse“ (1877) behandeln das Verhältniß zwischen Herrschaft und Dienstboten; „Liebesgänge“ (1869), Erlebnisse bei den mannichfachen Bethätigungen christlicher Liebe im Gebiete der inneren und äußeren Mission. Wie diese Schriften und Schriftchen bei ihrer echt christlichen [182] und praktischen Tendenz geeignet waren, als gute Tractate im Volk verbreitet zu werden, so hatten auch seine biographischen Arbeiten einen verwandten Charakter und theilweise das Eigenthümliche, daß sie die Bedeutung niedriger gestellter aber religiös-ethisch hervorragender und wirksamer Persönlichkeiten zu würdigen und ins rechte Licht zu stellen suchten. Dahin gehören die zuerst 1855 und 1858 in einem, Karlsruhe 1864 und Barmen 1863 aber in zwei Bänden erschienenen „Christlichen Lebensbilder für Frauen und Jungfrauen“. Von 1858–1890 in vier Auflagen erschien: „Karoline Perthes, geb. Claudius“ und von 1858–1883 in drei Auflagen: „Das Leben der Luise Reichardt“; in zwei Hälften das seiner Schwiegermutter gesetzte Denkmal: „Mutter Jolberg, Gründerin und Vorsteherin des Mutterhauses für Kinderpflege in Nonnenweier“ (Barmen 1871 u. 1872). Mit Uebergehung weiterer Lebensabrisse gedenken wir noch einiger Schriften, welche unmittelbar dem Erziehungswesen dienen, so: „Ueber Erziehung und Unterricht der weiblichen Jugend“ (Frankf. a. M. 1857); „Pädagogische Beobachtungen“, „Wie erziehen wir unsere Jugend zur Kirche?“ (beide Gütersloh 1877); „Die erziehliche Bedeutung des Gesanges“ (Hannover 1875); „Handreichung für die Pflege und Erziehung der Kleinen“ (Barmen 1879); „Die Kleinkinderpflege und ihre Bedeutung fürs Leben“ (ebd. 1879); „Die häusliche Erziehung, ihre ersten Anfänge und letzten Ausgänge“ (Langenberg 1881). Weitere erzieherische, musikalische und erbauliche Vorträge und Aufsätze müssen wir hier übergehen, ebenso seine sehr lesbaren Reisebeschreibungen, worin seine feinen, sinnigen Beobachtungen auf seinen häufigen Ferienreisen niedergelegt sind. Als er, ins 70. Lebensjahr getreten, sein anstrengendes, verantwortungsreiches Schulamt nicht mehr mit der früheren Kraft und Frische glaubte versehen zu können, auch die Gegenströmungen mehr und mehr empfand, die sich seinen entschieden christlichen Erziehungsgrundsätzen entgegenstemmten, legte er, durch Zeichen hoher Anerkennung und Vertrauens von Mitbürgern und Behörden geehrt, am 1. April 1888 sein Schulamt nieder und zog sich nach Lahr am Fuß des Schwarzwalds zurück, von wo aus er die Leitung über die Nonnenweierer Anstalten für Kinderpflege führte, wobei er einen ausgedehnten Briefwechsel mit den auswärtigen Stationen zu führen, allwöchentlich sich mit der Vorsteherin des Mutterhauses zu besprechen, viele Besichtigungen vorzunehmen, Feste und Zusammenkünfte zu leiten hatte. Am 8. April 1894, ein halbes Jahr vor seinem eigenen Dahinscheiden, war seine treue Gattin gestorben. Sie hatte ihm neun Kinder, sechs Söhne und drei Töchter, geschenkt, die bis auf ein Töchterchen den Eltern erhalten blieben.
- Paul Brandt, Martin Gottlieb Wilhelm Brandt, Erinnerungen von ihm und an ihn. Gütersloh 1895, mit einem lebenswahren Brustbilde. – Zur Erinnerung an unsre treuen Eltern, Herrn Martin Wilhelm Gottlieb Brandt, Schuldirector a. D. 1818–1894 und Frau Auguste Mathilde Brandt geb. Neustetel 1822–1894. Lahr 1894.