ADB:Boër, Lukas
Maria Theresia sich so weitgreifende Verdienste um die Reform der Medicin erworben, und auch für die Geburtshülfe dadurch neue Bahnen eröffnet worden waren, daß im J. 1754 ein eigener Lehrstuhl für dieses Fach errichtet, und die schon 1752 dem Unterrichte erschlossene Gebäranstalt im St. Marx-Hospitale 1784 in das vom Kaiser Joseph gestiftete allgemeine Krankenhaus übertragen wurde, erstand in B. eine reformatorische Kraft ersten Ranges, von der die Grundpfeiler der heutigen Geburtshülfe erbaut worden sind. Auf der Jesuitenschule in Würzburg erzogen und von seinen Eltern für den geistlichen Stand bestimmt, widmete sich B., dessen Familienname eigentlich Boogers lautete, 1767 auf den Rath des Würzburger Wundarztes Karl Kaspar v. Siebold der Anatomie und Chirurgie, und wurde von diesem 1770 auf das Land entsendet, wo eine bösartige Epidemie ausgebrochen war und es an Aerzten gebrach. Durch höchste Einfachheit in der Behandlung erzielte er dort Erfolge, welche die Aufmerksamkeit des Fürstbischofs von Würzburg Adam Friedrich v. Seinsheim erregten; dieser bot ihm das nöthige Reisegeld an, um seinen Lieblingswunsch, in Wien seine Studien fortzusetzen, in Erfüllung bringen zu können. Im Herbste 1771 langte er dort an, konnte aber den Versuchungen der Hauptstadt nicht widerstehen, und verscherzte durch seinen leichtsinnigen Lebenswandel die Gnade seines Gönners in dem Maße, daß er aller Mittel beraubt seine Existenz mit Abfassung von Dissertationen, Besorgung von Correcturen und Nachtwachen bei gefährlichen Kranken fristen mußte. Im J. 1778 lernte B. den Leibwundarzt der Kaiserin Maria Theresia, Rechberger, kennen, der ihn aufforderte, sich näher mit der Geburtshülfe vertraut zu machen; in Folge dessen beschäftigte er sich unter Lebmacher an der Gebäranstalt des damaligen Bürgerspitals mit diesen Fache, versah dann längere Zeit eine Gehülfenstelle am St. Marx-Hospitale, und wurde 1784 zum Wundarzte beim Waisen- und neu zu errichtenden Findelhause ernannt. In dieser Stellung lernte ihn der Kaiser Joseph kennen, und beschloß, ihn zur besonderen Ausbildung in der Geburtshülfe auf Reisen zu schicken. So kam B. im Anfange des J. 1786 nach Paris, wo er 15 Monate verweilte, und dadurch, daß ihm auf Befehl der Königin Marie Antoinette der Zutritt zu den Männern sonst verschlossenen Gebäranstalten gestattet war, vielfache Gelegenheit hatte, unter Baudelocque und Anderen neues [32] zu sehen. Darauf verweilte er ein Jahr in London, besuchte dort besonders das unter der Leitung von Leake stehende Westminster Lying-in Hospital, lernte auch W. Hunter kennen, hielt sich dann in Edinburgh und Dublin auf und kehrte über Frankreich und Italien nach Wien zurück. wo er im Juli 1788 eintraf. Bald darauf erhielt B. die Stelle eines kaiserlichen Leibwundarztes, und 1789 die Professur der praktischen Geburtshülfe, nebst der Direction der Gratisabtheilung des Gebärhauses, hatte aber kurze Zeit nachher das Unglück, der Erzherzogin Elisabeth, Gemahlin des Neffen des Kaisers, Erzherzogs Franz, nachdem er sie mit der Zange von einem lebenden Mädchen entbunden, und die Nachgeburt wegen Blutflusses künstlich gelöst hatte, einige Stunden darauf durch den Tod zu verlieren, ein Ereigniß, welches von seinen Feinden auf die gehässigste Weise ausgebeutet wurde, indem man ihm die volle Schuld an diesem Ereignisse aufzubürden suchte, und das ihm in Folge dessen viele trübe Stunden bereitete. Bis zum October 1822, also 33 Jahre, stand B. seinem Lehramte vor, und hat in dieser Zeit den Ruf der Wiener Schule auf eine ungewöhnliche Höhe gehoben; durch die große Anzahl Schüler, welche von allen Seiten herbeiströmten, wurden seine geburtshülflichen Grundsätze bis in die entferntesten Gegenden getragen, und sein Name erhielt nach seinem Tode, der am 19. Januar 1835 erfolgte, einen immer größeren Glanz. Um die Verdienste Boër’s gehörig würdigen zu können, muß man erwägen, daß vor ihm die Geburtshülfe in Deutschland sich in einem sehr traurigen Zustande befand: es gab kein höheres Streben unter den Fachmännern, als durch Erfindung neuer Instrumente und neuer Entbindungsmethoden, sich hervorzuthun, und nur in der auf die verschiedenste Weise zu leistenden Kunsthülfe sah man das wahre Heil. Hier war es nun B., der sich das enorme Verdienst erwarb, die gemißhandelte Natur wieder in ihre Rechte einzusetzen, und den an und für sich so selbstverständlichen aber damals gänzlich abhanden gekommenen Grundsatz laut auszusprechen, daß Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett natürliche Vorgänge seien, welche niemals durch voreiliges Einschreiten der Kunst in ihrem Verlaufe gestört werden dürfen. Die Erfahrungen, welche B. auf seinen Reisen gesammelt, hatten wesentlich dazu beigetragen, diese Anschauung bei ihm zur Reife zu bringen, denn während in Frankreich durch den Einfluß von Levret der Kunst der größte Spielraum eingeräumt wurde, sah er in England, wo die Grundsätze von Smellie unter den Geburtshelfern fortlebten, mit Befriedigung, wie das Vertrauen auf die Kräfte der Natur ein viel größeres war. Dazu kam alsdann, daß er in der ihm anvertrauten Anstalt, wo sich jährlich ungefähr 1000 Geburten ereigneten, das Walten der natürlichen Thätigkeit aus dem Grunde zu beobachten Gelegenheit hatte, und hierdurch wurden seine Grundsätze so befestigt, daß er die zuwartende Methode in der Geburtshülfe als die für die meisten Fälle heilsame proclamiren konnte. In der heutigen Zeit ist man kaum mehr recht in der Lage, den eminenten Fortschritt, der durch diese Anschauung begründet wurde, gehörig zu würdigen; die jetzigen Hülfsmittel der Wissenschaft haben uns zu sehr über die zuwartende Methode Boër’s hinausgeführt, wir sind zu sehr gewohnt, nach bestimmten Indicationen zu handeln, als daß wir nicht sagen müßten, daß diese übergroße Passivität vielfach geschadet hat; es ist unter anderen vom heutigem Standpunkte nicht zu begreifen, daß B. unter 4456 Geburten nur 21 mit der Zange beendete, d. h. unter 212 Fällen nur einmal von dem Instrumente Gebrauch machte, während jetzt schon auf ungefähr 45 Fälle eine Zangenoperation kommt, aber man muß bedenken, daß zu jener Zeit der Begriff einer natürlichen Geburt fast ganz abhanden gekommen war, daß beispielsweise der heftige Antagonist Boër’s, Friedrich Benjamin Osiander in Göttingen, von 2540 Geburten nur 1381, also etwas über die Hälfte, spontan verlaufen ließ, dagegen 1159 [33] durch die Kunst beendete, um die Verdienste Boër’s gehörig zu verstehen, der unbedingt zuerst der neueren Zeit die Wege gebahnt hat. Im einzelnen ist zu erwähnen, daß er seinen Grundsätzen gemäß alle die damals und noch viel später gebräuchlichen Vorbereitungskuren mit Aderlaß, Bädern und Abführungsmitteln bekämpfte; er zeigte, daß weder Gesichts-, noch Steiß- und Fußlage künstlicher Hülfe bedürften, und lehrte für die erstere, daß das Kinn, das Gesicht mag im Anfang stehen, wo es wolle, allmählich nach vorn rotirt wird, und Stirn und Scheitel über den Damm treten. Er eiferte ferner gegen die damals allgemein übliche Verwandlung der Steiß- in eine Fußlage, und bestritt für Zwillingsgeburten die Nothwendigkeit, das zweite Kind ohne Unterschied zu wenden, indem er sagte, daß es sehr oft durch die Naturkräfte ausgestoßen werden könne. Ueber das Eintreten des Kopfes in das Becken hatte B. die richtige Ansicht, indem er betonte, daß dies im schrägen Durchmesser des Eingangs geschehe, und daß sich das Hinterhaupt nur allmählich der Schamfuge nähere. In Bezug auf Kaiserschnitt und Perforation huldigte er der Ansicht der Engländer, daß der erstere nur da angezeigt sei, wo das Becken so eng ist, daß selbst die Enthirnung nicht mehr ausgeführt werden kann; sonst sei das Leben der Mutter immer höher zu schätzen, als das des Kindes, und das letztere müsse im gegebenen Falle dem ersteren durch die Perforation geopfert werden. Seine Grundsätze in Bezug auf die Behandlung des Wochenbettes zeichnen sich gleichfalls durch große Einfachheit und das Streben, die Natur walten zu lassen, aus; er trat gegen die Unsitte der damaligen Zeit auf, das neugeborene Kind sofort mit Abführmitteln heimzusuchen, und in seiner Abhandlung über das Puerperalfieber, für welches er übrigens ein Antimonial-Arcanum den Aerzten unentgeltlich verabreichte, stellte er sehr bemerkenswerthe Ansichten auf. B. legte seine Grundsätze in einem Hauptwerke „Abhandlungen und Versuche geburtshülflichen Inhalts zur Begründung einer naturgemäßen Entbindungsmethode“ nieder, welches von 1791–1807 in 2 Bänden und 7 Theilen erschien. Im J. 1812 veranstaltete er eine lateinische Ausgabe unter dem Titel: „Naturalis medicinae obstetriciae libri septem“, Viennae“, und in deutscher Sprache erschien die letzte Auflage 1834 mit der Benennung: „Sieben Bücher über natürliche Geburtshülfe“, mit einer Vorrede von B. vom October 1833. Seine Prophezeihung, daß dieses wohlgemeinte Werk durch unparteiische Nachkommen endlich zur Vollendung gedeihen werde, indem er nur den Grund dazu legen konnte, ist glänzend in Erfüllung gegangen; die heutige Geburtshülfe ruht auf den Fundamenten, die er gelegt hat. – Hussian, Boër’s Leben und Wirken. Wien 1828. Neue Zeitsch. d. Geburtsk. X. S. 115; XII. S. 321.
Boër: Lucas Johann B., kaiserlicher Leibwundarzt und Professor der praktischen Geburtshülfe in Wien, geb. 12. April 1751 zu Uffenheim, gest. 19. Jan. 1835 zu Wien. Nachdem die berühmte erste Wiener Schule unter den Auspicien der Kaiserin