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ADB:Biedermann, Alois Emanuel

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Artikel „Biedermann, Aloys Emanuel“ von Ernst Christian Achelis in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 540–543, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Biedermann,_Alois_Emanuel&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:12 Uhr UTC)
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Biedermann: Aloys Emanuel B., Professor der systematischen Theologie in Zürich, der hervorragendste Dogmatiker aus der Junghegelschen Schule und der wissenschaftliche Führer der schweizerischen Reformer, geboren am 2. März 1819, † am 25. Januar 1885. Sein Geburtsort ist Bendlikon am Züricher See. Der Erziehung seines Vaters, der ehedem im russischen und englischen Dienst als Officier gegen Napoleon gefochten, hatte er begeisterte Vaterlandsliebe, unerschütterliche Wahrhaftigkeit, Gottvertrauen und weitherzige Menschenliebe zu verdanken, außerdem auch eine körperliche Rüstigkeit, die ihn die größten Anstrengungen mit Leichtigkeit überwinden ließ. Dem Andenken seines Vaters ist der Aufsatz im Zürcher Taschenbuch 1834 (vgl. Vorträge und Aufsätze S. 313 f.) „Aus dem Leben meines Vaters“ gewidmet. Im J. 1837 bezog B. die Universität Basel; die Gründlichkeit der geschichtlichen Kritik de Wette’s fesselte ihn, aber dessen Einfluß wurde von vornherein in kritischer und dogmatischer Beziehung von D. Fr. Strauß weit überwogen. Im Herbst 1839 bezog er die Universität Berlin; mit jugendlicher Begeisterung versenkte er sich in die Philosophie Hegel’s, dessen Metaphysik er im Sinne des reinen Monismus auffaßte; indem er jedoch auch für die Philosophie als Ausgangspunkt alles Erkennens die Erfahrung festzustellen suchte, hoffte er die Vermittlung der Speculation und der Religion, des Rationalismus und des Supranaturalismus, gefunden zu haben. In seinen theologischen Studien war ausschließlich J. K. W. Vatke sein Führer. Bereits als Pfarrer von Mönchenstein in Baselland (seit 1843) führte er sich als junghegelscher Kämpe ein durch seine Streitschrift „Die freie Theologie oder Philosophie und Christenthum“ (1844); in nahem Anschluß an Feuerbach „objectivirt sich ihm das menschliche Bewußtsein in der Vorstellung Gottes, was ihm sein allgemeines, ewiges absolutes wahres Wesen ist“, gleichwol aber sucht er die Selbständigkeit der Religion neben der Philosophie dadurch festzuhalten, daß er im Anschluß an Vatke sie als „das praktische Selbstbewußtsein des Absoluten“, als „die praktische Vermittlung des individuellen Subjekts mit seiner Wesensallgemeinheit“ definirt. Der theologische und kirchliche Kampf, den die Schrift hervorrief, führte zur Beseitigung aller rechtlich verbindlichen Bekenntnißgrundlagen in den [541] schweizerischen Kantonalkirchen. Die von B. und einigen seiner Freunde geleitete Zeitschrift „Die Kirche der Gegenwart“ (1845–1850) führte die wissenschaftlichen Anschauungen in die kirchlichen Kreise über; auch hier die entschiedene Tendenz, die Hegel’sche Philosophie und den Straußischen Kriticismus mit der christlichen Religion zu versöhnen; bei aller Anerkennung der Aufstellungen in Strauß’ „Leben Jesu“ bleibt ihm dies doch „der Grundstock des Capitals, aus dessen Zinsen die religiösen Bedürfnisse der Menschheit befriedigt werden“. In der gehaltvollsten Schrift dieser Jahre: „Unsere junghegelsche Weltanschauung oder der sog. neueste Pantheismus“ (1849) wendet sich B. gegen die Angriffe Romang’s; er sucht seine Anschauungen gegen den Pantheismus abzugrenzen und als echt christlich darzuthun; aber gerade in dieser Hinsicht tritt es auch hervor, daß die Begriffe von Gott und dem ewigen Leben, wie die Speculation sie formulirt, durch tiefe Kluft von dem Gottesglauben und dem Begriff des ewigen Lebens, wie das Evangelium sie verkündet, getrennt sind.

Im J. 1850 übernahm B. ein theologisches Extraordinariat an der Universität zu Zürich mit dem Lehrauftrag in Encyklopädie und Einleitung ins Neue Testament, womit er freiwillig Vorlesungen über religionsphilosophische und religionsgeschichtliche Themata verband. Im J. 1860 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt; Dogmatik war fortan sein Hauptfach; aber längere Zeit hindurch leitete er daneben den Religionsunterricht an höheren Schulen. Schriftstellerisch war er bis 1849 nur in kleineren Aufsätzen thätig, die fast ausschließlich in den seit 1859 erschienenen „Zeitstimmen für die reformirte Schweiz“ veröffentlicht wurden. Sie zeichnen sich durch gewandte und volksthümliche Sprache aus; das tief religiöse Gemüth des Verfassers tritt wohlthuend darin hervor, ebenso die unablässige Tendenz, nicht zerstörend, sondern bauend auf das religiöse Leben zu wirken. Im J. 1869 erschien Biedermann’s Hauptwerk, in seiner Art ein vollendeter Versuch, auf der Grundlage Hegel’scher Speculation den christlichen Lehrgehalt geschichtlich und speculativ zu entfalten: „Christliche Dogmatik“. Indem wir für den Inhalt und Formirung der einzelnen Lehren auf die in unten angegebener Litteratur erschienenen Darstellungen verweisen, beschränken wir uns auf eine kurze Charakteristik der Anlage des berühmten Werkes. Es ist immerhin bemerkenswerth, daß B. in der Anlage seiner Dogmatik auf das engste an die Dogmatik von Richard Rothe sich anschließt, wie er sie in seinen Vorlesungen stets vorgetragen hat, und wie sie 1870 von Schenkel aus seinem Nachlaß veröffentlicht ist. Rothe faßt die Dogmatik als historische und zugleich speculative Disciplin auf; die Darstellung der sog. Kirchenlehre als des letzten Stadiums der Dogmengeschichte bildet bei der Erörterung jedes Dogmas den ersten Theil; daran schließt sich eine Darstellung der biblischen Lehre, zugleich als Kritik der Kirchenlehre; den dritten Theil bildet die Aufweisung der religiösen Wurzeln und des religiösen Gehalts des Dogmas, während ein vierter Theil auf speculativem Wege einen Neubau des Dogmas versucht. Ganz ähnlich verfährt B., auch darin sich an Rothe anschließend, daß er, wie Rothe die Lehren über Offenbarung und Heilige Schrift als Einleitung voranstellt, über Religion und Offenbarung, über religiöses Erkennen und evangelisches Erkenntnißprincip in der Einleitung handelt. Daß es sich in dieser Parallelisirung Rothe’s und Biedermann’s lediglich um die Form des Aufbaus und der Methode handelt, ist dem Kundigen nicht verborgen. Die Doppelstellung des Verfassers, die überall bei ihm bemerkbar ist, wir meinen das ernste Bemühen, Hegel’sche Metaphysik und christlichen Glauben zu vereinen, beherrscht auch seine Dogmatik. An manchen Punkten, wie in der Gotteslehre und in der Eschatologie, scheint alles auf eine leere logische Formbestimmung hinauszulaufen, während z. B. in der Erlösungslehre der [542] christliche Glaube das Feld behauptet. Gewiß ist nach B. der wesentliche Inhalt der Soterologie „nicht eine Personalbestimmung der einzigen Person Christi, sondern eine in seiner Person in der Menschheitsgeschichte neu auftretende Idee“, auf Gottes Seite die Idee der Vaterschaft, auf der Menschen Seite die Idee der Gotteskindschaft, aber diese in Christus verwirklichte Idee ist religiös bestimmt, sie ist der Inhalt seines Selbstbewußtseins und die treibende Kraft seiner Wirksamkeit, so daß die geschichtliche Person Jesus Christus „der historische Erlöser für alle Zeiten“, „das für alle Zeit welthistorisch gewährleistende Vorbild für die Wirksamkeit des Erlösungsprincips“, „der Quellpunkt der Wirksamkeit dieses Princips in der Geschichte“ ist.

Die theologische und kirchliche Autorität Biedermann’s bewirkte zuerst 1868 in Zürich, 1870 in St. Gallen, Basel, Bern u. a. die kirchliche Anerkennung der Reformer. Es wurde eine doppelte Liturgie in den Festgebeten, den Formularen für Taufe und Abendmahl eingeführt, was zu den schroffsten kirchlichen Parteifehden und zur Auflösung aller kirchlichen Gemeinschaft führte. Dem theologischen Ernst und dem kirchlichen conciliatorischen Sinn Biedermann’s war diese Entwicklung in hohem Grade peinlich; und als auf litterarischem Gebiet er den Schmerz erleben mußte, daß der von ihm gefeierte Strauß in seinem Alten und Neuen Glauben das Tafeltuch zerschnitt – „ich gäbe“, schreibt B. an Vatke, „einen Finger meiner rechten Hand darum, Strauß hätte das ominöse Buch nicht geschrieben“ –, daß sodann Ed. v. Hartmann in der 7. Auflage seiner ,Philosophie des Unbewußten‘ ihn als den Seinigen begrüßte, da sah er sich genöthigt, mit ernstem Mahnwort sich gegen den radicalen kirchlichen Liberalismus zu wenden. Seine Rectoratsrede (1875) über „Strauß und seine Bedeutung für die Theologie“, seine Biographie des Reformpfarrers Heinrich Lang (1876), sein Vortrag: „Unsere Stellung zu Christus“ (1882) und mehrere andere Abhandlungen, die in den „Ausgewählten Vorträgen und Aufsätzen“, hrsg. von J. Kradolfer, (1885) sich finden, geben Zeugniß davon. Von der 2. Auflage seiner „Dogmatik“ (2 Bde., 1884 f.) hat er nur den ersten Band im Druck vollendet gesehen. Ein heftiges Unterleibsleiden führte unerwartet rasch seinen Tod herbei. Mit ruhiger Fassung im Vertrauen auf Gottes sündenvergebende Gnade sah er sein Ende kommen; Worte der Schrift und Paul Gerhardt’s Lieder waren seine Erquickung; in wiederholten Gesprächen nahm er Abschied von den Seinen und knüpfte seine Worte an die letzten Worte Jesu am Kreuze an, ohne sich dabei eines Zwiespalts mit seiner wissenschaftlichen Ueberzeugung bewußt zu sein.

Außer zahlreichen kleineren Aufsätzen in „Die Kirche der Gegenwart“, in „Zeitstimmen für die reformirte Schweiz“, in „Jahrbücher für protestantische Theologie“ u. s. w., deren wichtigste in den „Ausgewählten Vorträgen und Aufsätzen“ gesammelt sind, wurden folgende Schriften von B. veröffentlicht: „Die freie Theologie oder Philosophie und Christenthum in Streit und Frieden“ (Tübingen 1844); „Stellung und Aufgabe der Philosophie zu der Theologie. Akademische Antrittsrede“ (Zürich 1850); „Unsere junghegelsche Weltanschauung oder der sogenannte neueste Pantheismus. Allen Denkenden J. P. Romangs gewidmet“ (Zürich 1849); „Die Pharisäer und Sadducäer. Akademischer Vortrag“ (Zürich 1854); „Leitfaden für den Religionsunterricht an höheren Gymnasien“ (Zürich 1859); „Die Propheten des Alten Bundes. Akademischer Vortrag“ (Winterthur 1860); „Christliche Dogmatik“ (Zürich 1869, 2. Aufl. 2 Bde., Berlin 1884, 1885); „Heinrich Lang“ (Zürich 1876); „Unsere Stellung zu Christus“ (Berlin 1882); „Eine Ehrenrettung“ (Berlin 1885); „Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Mit einer biographischen Einleitung von J. Kradolfer“ (Berlin 1885).

[543] J. J. Oeri, Persönliche Erinnerungen an Biedermann (K. Bl. f. d. ref. Schweiz 1886). – G. Finsler, Geschichte d. theologisch-kirchlichen Entwicklung in d. deutsch-reformirten Schweiz, 1882. – O. Pfleiderer i. d. Preuß. Jahrbüchern 1886, S. 53 f.; – derselbe, Die Entwicklung d. protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant, 1891, S. 139 f. – Mehlhorn i. d. Jahrbüch. f. protest. Theol. 1880, II, 177 f. – Th. Moosherr, A. E. Biedermann nach seiner allgemeinen philosophischen Stellung, 1893. – R. Stähelin, Aloys Emanuel Biedermann i. Realencyklopädie f. protest. Theologie und Kirche, 3. Aufl. hsg. von A. Hauck, 3. Bd., Leipzig 1897, S. 203 f.