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A. Soyer und die Kochkunst

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Titel: A. Soyer und die Kochkunst
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 320
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[320] A. Soyer und die Kochkunst. Von allen naturwissenschaftlichen und philosophischen Theorien und Ansprüchen, die bisher über die Gattung „Mensch“ veröffentlicht wurden, ist keine Definition so schlagend, als die des Franzosen, der da sagte: „Der Mensch ist ein Thier, das kocht.“ Noch nie und nirgends hat man Thiere gefunden, die ihre Nahrung kochen, geschweige braten, schmoren, einpökeln und räuchern. Diese Definition ist also die richtige. Wie eine eherne Mauer stehen Küche und Keller zwischen dem Menschen und dem Thiere. Hier entwickelt sich seine specifische höhere Abkunft und Bestimmung.

Wenn aber die Kochkunst die specifische Eigenschaft ist, wodurch sich der Mensch vom Thiere unterscheidet, was folgt daraus? Daß der beste Koch an der Spitze der Menschheit steht, respective die Köchin, und daß namentlich A. Soyer, der Franzose, der große kosmopolitische Koch der Industrie-Ausstellung aller Völker zu London im Jahre 1851, der glorreiche Verfasser des Schillingkochbuchs für England und der Heiland englischer Hospitale auf dem Kriegsschauplatze, das Muster aller menschlichen Größe und Würde sein muß.

In allem Ernste hat dieser große Künstler sich in den Hospitälern der englischen Krim-Armee Verdienste erworben, für welche man in den Zeiten Homer’s die erhabenste Sprache der Poesie gefunden haben würde. Wenn Ceres, welche die Menschen den Ackerbau lehrte, in Schiller („Fest der Ceres“) einen würdigen Sänger ihrer Verdienste fand, müßte für Soyer expreß ein Goethe erstehen. Er segelte hinter in die Türkei wie ein Gott, um rohen Barbaren zu zeigen, wie sie es machen müßten, um sich den specifischen Unterschied vom Thiere zu erwerben. Er drückte das göttliche Siegel der Vollendung auf die Wissenschaft, welche einst die Göttin Ceres lehrte, als sie den mordenden Speer in Leben bringende Pflugschaare verwandelte. Von allen den durch Gicht, Geburt und Kopflosigkeit ausgezeichneten Notabilitäten Englands, welche den Kreuzzug gegen den Osten anführten (an die ersten Kreuzzügler erinnernd, die sich bekanntlich von Gänsen den Weg zeigen ließen), ist Soyer der einzige, der nicht nur einen Kopf, sondern auch ein Herz hat für die leidende Menschheit, ist Soyer der einzige Künstler, der Einzige, an welchem der specifische Unterschied des Menschengeschlechts gegen die Thiergattungen deutlich und göttlich hervortritt. In Scutari und Kululi, später auch in Balaklava, erschien er als der wahre Erlöser, als Ritter Georg gegen den grimmigsten Feind der englischen Armee, den Hunger, für täglich sieben bis zehn Thaler pro Mann. Er lud die Häupter der „rothborstigen Barbaren“ (wie die Engländer von den Chinesen genannt werden), die Beamten der Hospitäler und selbst den Commandanten in die von ihm total revolutionirte Küche ein und stellte zwei Schüsseln voll Suppe vor sie hin, die eine nach englischer, die andere nach seiner Manier gekocht und sagte, sie möchten selbst kosten und urtheilen. Beide Suppen waren von gleicher Quali- und Quantität Fleisch zubereitet worden. Man kostete, sah und staunte. Man glaubte an Hexerei und Humbug, aber er hatte seine Zeugen und gab stärkere Proben. Er zeigte den geborenen Notabilitäten und Schrecken der Feinde in Gichtstiefeln fünf Nösel Reis- und fünf Nösel Gerstengrütze zum Getränke für die Kranken und fünf Pfund Reispudding. Diese zehn Nösel und fünf Pfund schmackhafte und für den schwächsten Kranken verdauliche Erquickung, die für sechs bis acht Mann für einen Tag hinreichend sein konnte, kostete nicht mehr als 91/2 Penny, etwa 71/2 Silbergroschen. Im Durchschnitt wurde für jeden Kranken täglich 1/2 Loth Thee verabreicht. Die Engländer, gesunde und kranke, sind in ihrem Egoismus gewohnt, jeder für sich zu kochen, so daß man sich das Walten dieses Egoismus im Lager bei einem nothdürftigen Feuer sich denken kann, diese Zeit-, Nahrungs- und Gesundheitsverschwendung. Soyer kochte eine Portion Thee von einem halben Lothe, dann von sechs Portionen einen viel aromatischeren, erquickenderen Thee für zehn Peronen vollkommen hinreichend. Aehnliche Resultate zeigte er den Weisen des Abendlandes von Gemüse und Fleisch und Kaffee, so daß die Weisen staunten und sehr dumm dazu aussahen.

„Wir fürchten in der That“, sagt die Times in ihrem Soyer-Leiter, „daß wenn wir auch bisher eigentlich nicht blos von Eicheln gelebt haben, wir doch in dieser Beziehung nur sehr geringe Ansprüche auf die Tugend der Civilisation machen können. Die Chinesen schlagen uns total in der Kunst, geringe Materialien nutzbar und nahrhaft zu machen. Zartes Bambusrohr und lustige Ratten und Mäuse bilden bei ihnen gute Hausmannskost, aber sie essen diese nicht halb roh und ohne das Fegfeuer der Kochkunst wie wir. Ihre Köche verwandeln Bambusrohr (in Lebensgröße zur Einbläuung von Unterthanentreue gebraucht) in alle mögliche Arten von Gemüse, die in Farbe und Geschmack eine ganze Gaumen-Tonleiter durchlaufen. In England dagegen stehen wir trotz des besten Fleisches, der besten Fische, des feinsten Geflügels, der gerühmten Ackerbaukunst, in der wir alle Völker zu überstrahlen wähnen, noch auf dem Standpunkte der Helden vor Troja oder der Nibelungenrecken, die ihre rohen Keulen am Wachtfeuer halb brieten (der englische Kamin ist nichts als das in Zimmer versetzte Wachtfeuer nomadischer Völker). Wir verstehen nichts von der Kunst, aus Nahrungsmitteln die möglichst größte Masse von Nahrungsstoff zu ziehen oder ihnen den möglichst würzigsten Geschmack zu geben (Gemüse kommt überall in bloßem Salzwasser gekocht auf den Tisch). Die Kochkunst lehrt, wie man Speisen am nahrhaftesten, verdaulichsten, schmackhaftesten zubereiten kann, daß sie körperliche Kraft und geistige Belebung geben, ist uns fremd.“

Ein Hauptgeheimniß der großen Erfolge Soyer’s und der Kochkunst überhaupt besteht darin, daß man von doppelten Quantitäten eines gekochten Stoffes nicht die doppelte Masse Nahrungsstoff und Schmackhaftigkeit bekommt, sondern viel mehr. Ein Pfund Fleisch zur Suppe verkocht, schmeckt wie ein Pfund Fleisch zu Suppe verkocht, zwei Pfund aber schon wie drei. Wer es daher nicht dazu hat, zwei Pfund für einen Tag zu bestreiten, der koche auf einmal für zwei Tage. Dasselbe gilt von Gemüsen und Getränken. Noch besser wär’s, wenn 3–5–10 Familien sich zu gemeinschaftlichem Kochen und Essen associirten vorausgesetzt, daß die Polizei darin nicht Kommunismus wittert.

Ein weiteres Hauptverdienst besteht darin, aus wohlfeilen, verächtlichen, wohl gar durch Mode und Gewöhnung geächteten Stoffen kostbare Delikatessen zu componiren und zu combiniren. Die jetzt sehr kultivirte organische Chemie lehrt mit mathematischer Bestimmtheit, was für und wie viel Nahrungs- und Erwärmungsstoffe die thierischen und vegetabilischen Produkte um uns enthalten. Darnach richte man Küche und Keller und Tisch ein, nicht nach Großmutter und Tante oder wohl gar nach Art der sogenannten Vornehmen, welche frische Schoten um Weihnachten, frische Weintrauben im Frühjahre und alle Dinge essen, wenn sie gar nicht da sind. Tief im Norden Schwedens ißt man Fichtenrinde als Brot, im Innern Südamerika’s Lehmkugeln, in China Ratten und Mäuse, Ausklopfe- und Spazierstöcke und bei uns, wenn man’s zu etwas Ausgezeichnetem im Leben gebracht hat, indische Vogelnester und Schnepfendreck. Wir wollen diese Delikatessen nicht gerade zum Nachessen empfehlen, wohl aber damit angedeutet haben, daß wir zwischen Lehmkugeln und Ausklopfestöcken an der Hand der organischen Chemie unendlich viel neue Nahrungsmittel ausfindig machen und durch die göttliche Kunst Soyer’s wenn nicht zu Delikatessen, so doch zu gesunden und schmackhaften Gerichten erheben können. Es ist des Menschen würdig, in der Kunst, die ihn speciell über das Thier erhebt und zum Halbgott stempelt, frei und wissenschaftlich Fortschritte und Eroberungen zu machen und nicht zu warten, bis die Bestialität des Hungers ihn zum Kannibalen erniedrigt. Man bedenke, daß der Mensch Mensch und kein Thier ist, weil er kocht und sich eine Köchin hält und demnach Beförderung der Kochkunst Förderung der Humanität und Civilisation genannt werden muß. Man suche deshalb die großen Männer der Menschheit nicht in Schlachten, Kammern und an Höfen, sondern unter den Köchinnen.

Und wer ein Weiser genannt werden will, der schicke diesen Artikel in die Küche und empfehle ihn den Restaurateurs der unverheiratheten Menschheit zu besonderen Studien in goldener Morgenstunde.