„Nationales Unglück!“
So nennen alle öffentlichen Stimmen, so nennt jeder ehrliche Deutsche Das, was drei Tage des Mai und der entsetzliche zweite Juni über uns verhängt haben. Wohin ist es mit Deutschland gekommen! Welchem Redlichen unter uns zittert jetzt nicht das Herz im überwältigenden Gefühle der soeben vor aller Welt erlebten unermeßlichen Schmach und Schande, wenn er zurückdenkt an die Zeiten unbefleckter Volksehre, wo das ganze Volk noch mit Begeisterung singen konnte:
„O Deutschland, heiliges Vaterland,
Du Vaterland der Treue!“
Am elften Mai richtet ein verkommener und verführter Bube auf deutschem Boden das Mordgewehr gegen das greise Haupt des Reichs; am sechsundzwanzigsten Mai tobt in London eine deutsche Rotte von demselben Menschenwerthe im Vereine mit ebenbürtigen Franzosen und Engländern, das Gastrecht besudelnd, vor der Wohnung des deutschen Kronprinzen, und am zweiten Juni vergießt ein Mensch, den deutsche Wissenschaft genährt, vergiftet von demselben Geiste, das theure Blut des Kaisers. – Wohin wir auch den Blick über unsere Grenzen richten, in Scham und Schande müssen wir ihn senken vor Dem, was bei uns, im Lande der besten Schulen, der höchsten Bildung, möglich geworden ist.
Ja, es ist weit mit uns gekommen! Wir wandeln auf einem Vulcan. Wir leben in einem Reiche, in welchem der greise Mann und Held, der es Millionen zu Dank schuf, nicht mehr seines Lebens sicher ist. Er, der für uns so oft vor dem Tode gestanden, darf sich kaum an das Fenster seines Hauses wagen, so bedrohen ihn die Kugeln deutscher Meuchelmörder. –
Wenn das Furchtbare geschähe, wenn der geplante Mord wirklich der ausgefeimten Bosheit gelänge – keine Sühne wäre groß genug, um den Schandfleck aus der deutschen Geschichte auszutilgen: in Deutschland ist der Kaiser, der erste deutsche Kaiser ermordet worden! Verewigen würden diese Schmach die Weltgeschichtsbücher aller Nationen. Und vor der Gefahr dieser ewigen Schande stehen wir jeden Tag; jeder Tag droht uns mit einer solchen Entehrung unserer Geschichte, der Geschichte unserer Gegenwart.
Und was rettet uns aus diesem Elende? Nicht ein Schutzgesetz, das nur vorübergehend schreckt und von Neuem die Kräfte lähmt, sondern allein die von eisernem Willen unternommene Gegenarbeit Aller, welche ihr Vaterland noch lieben und das Recht und den gerechten Anspruch Aller auf bürgerliche Sicherheit wahren und achten wollen.
Es wäre trostlos, in dieser Zeit zu leben, wenn nicht Eines, eine erhebende Erscheinung, uns das Vertrauen aufrecht hielte auf das deutsche Volk: das ist die allgemeine Entrüstung, die laut aufbrausende Empörung über die Schandthaten und das nationale Unglück dieser Tage. Ja, es giebt noch eine deutsche Nation, die das deutsche Herz rein erhalten und die deutsche Ehre rein waschen will von den Flecken, mit denen sie ein ruchloser Wahn beschmutzt hat. Die Aeußerungen der Liebe wie des Hasses haben abermals bewiesen, daß die Nation zu der Größe, welche sie 1870 gezeigt, noch heute fähig ist. Ihre Liebe und ihr Haß offenbart die edle Natur des Löwen, während die schmutzigen Hyänen in den Winkeln lauern.
Möge uns diese Hoffnung nicht täuschen! Möge der schweren Heimsuchung die Ermannung entsprechen und deutsche Thatkraft aller Welt beweisen, daß sie gegen jede Vergewaltigung, komme sie von unten oder oben, auf der Wacht ist!
Und daß bei uns kein großes Unglück allein stehe, so muß noch ein dritter Maitag ein kaum errungenes nationales Gut und den Frieden und die Freude vieler Familien zugleich mit dem härtesten Schlage treffen. Zur Schlag auf Schlag wachsenden
Schmach kommt die tiefe Trauer über das Schicksal unserer jungen Kriegsflotte am letzten Tage dieses verhängnißvollen Mai: der Untergang unserer Panzerfregatte „Der große Kurfürst“.
Wir brauchen unseren Lesern den Hergang dieses furchtbaren Ereignisses nicht zu erzählen; sie kennen ihn, soweit er überhaupt bekannt geworden, aus den Blättern der Tagespresse. Aber anschließen wollen wir uns an diejenigen Redactionen, welche bereits in ganz Deutschland zu Sammlungen für die Hinterbliebenen der mit dem Schiffe Untergegangenen aufgefordert haben.
Nach dem Berichte des Admirals Batsch sind von vierhunderteinundneunzig Mann Besatzung nur zweihundertsiebenzehn gerettet; vermißt werden zweihundertvierundsiebenzig. Wie viel Wittwen und Waisen, Eltern und Geschwister stürzte der jähe Tod so viel frischesten, blühendsten Lebens in unsäglichen Jammer und in Noth! Da gilt es, daß wir unsrer langen Klage und Sehnsucht nach einer „deutschen Flotte“ gedenken und keinen Augenblick vergessen, daß auch diese unsere Kämpfer zur See im Dienste des Vaterlandes gestorben sind.
Bedarf es, den Lesern der „Gartenlaube“ gegenüber, noch irgend eines Wortes der Bitte? – Nein! Wir sind nach zahlreichen Erfahrungen auf diesem Felde opferfreudigen Gemeinsinns der altbewährten Bethätigung ihrer Vaterlands- und Menschenliebe sicher. Ueber alle Gaben, welche bei uns eingehen, werden wir in unserm Blatte gewissenhaft quittiren.