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„Ein westfälischer Dichter“

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Textdaten
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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: „Ein westfälischer Dichter“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 658,660
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[658] Ein westfälischer Dichter – so wurde Levin Schücking im Jahrgang 1862 der „Gartenlaube“ bezeichnet, als dieselbe ihn dem großen Leserkreis, den er schon damals für sich gewonnen hatte, in Bild und Wort vorstellte. Seit 1858, wo er mit seiner Erzählung „Der gefangene Dichter“ in der „Gartenlaube“ auftrat, ist er derselben ein treuer und stets beliebter und geehrter Mitarbeiter gewesen, ja, er ist es über das Grab hinaus geblieben, denn eine noch ungedruckte Novelle von ihm wird nun, nachdem er uns am 31. August durch den Tod entrissen worden ist, als letzte Gabe seines Geistes sein Gedächtniß bei unseren Lesern neu beleben und dankbar ehren.

Bernhard Levin Schücking kann ein Kind des Glücks unter den deutschen Dichtern genannt werden. Die Poesie in den liebsten und liebenswürdigsten Gestalten stand an seiner Wiege, geleitete ihn durch Kindheit und Jugend, führte ihn, als die Sorglosigkeit, die ihm bisher das Dasein erhellt, plötzlich schwand, in neue freundliche Umgebung, bis der Mann in voller Selbstständigkeit am eigenen Herde ganz und frei dem dankbaren Dienst seiner Beschützerin, Führerin und Göttin leben konnte. So wohl wird es nur selten den „Pflügern mit dem Geist“. Und nachdem er die große Zeit des Vaterlandes, die auch er, der treue Patriot, mit herbei gesehnt und geführt, stolz und froh mit erlebt hatte, starb er in den Armen seiner Lieben, beweint nicht blos von diesen. sondern betrauert von allen Gebildeten seiner Nation. Auf sein Grab kann man mit Recht neben den Eichen- und Lorbeerkranz einen Rosenkranz legen.

Schücking’s Familie hatte sich schon mehrere Generationen aufwärts durch geistvolle Männer und Schriftsteller hervorgethan. Sein Vater war hannöverischer Amtmann, eine jetzt verschwundene Stellung, die an Macht und Ansehen der eines französischen Präfecten gleichkam. Er „residirte“ in dem fürstbischöflichen Schlosse Clemensworth und stand mit dem umwohnenden Adel in geselligem Verkehr und gleichem Ansehen, sodaß sein Sohn in Folge dieser Verbindungen den westfälischen Adelsnamen „Levin“ in der Taufe erhalten konnte. Auch liebte und übte er die schönen Künste und Wissenschaften, und da Levin’s Mutter, Katharina, eine hochgebildete Dame und zu ihrer Zeit sogar eine gefeierte Dichterin war, so wuchs der Knabe und der Jüngling in einer Atmosphäre auf, in welcher das angeborene Talent gedeihen mußte.

Elise von Hohenhausen war es, die uns („Gartenlaube“ 1868, Nr. 43) einen klaren Einblick in das rührend schöne Verhältniß eröffnete, in welchem Levin zu der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff stand. Levin’s Mutter wird von derselben als eine „ausgezeichnete Persönlichkeit voll Schönheit, Anmuth und hoher Weiblichkeit“ geschildert, „eine einsame Blume der Haide“, die mit den reichen Blüthen ihrer Poesie nur ihre Umgebung erfreuen, unter den damaligen Verhältnissen aber nicht zu weiter oder gar allgemeiner Anerkennung gelangen konnte.

Diese auch in ihrer Lebensstellung hervorragende Frau wurde für das junge Dichterherz Annette’s der Gegenstand einer Verehrung, welche zu einem innigen Freundschaftsbunde zwischen Beiden führte. Als Katharinas Sohn, Levin, den sie am 6. September 1814 geboren hatte, zum ersten Mal das Elternhaus verlassen mußte, um in Münster das Gymnasium zu besuchen, gab sie ihm einen Empfehlungsbrief an Annette mit, die damals auf ihrem väterlichen Rittergute Hülshoff wohnte. Das schon herangewachsene Fräulein empfing den jungen Menschen fast mit derselben Befangenheit, mit welcher dieser vor ihr stand, und die landesüblichen gegenseitigen Höflichkeiten waren damals das einzige Ergebniß dieser Sendung. Levin bezog später die Universitäten in Heidelberg und München und lebte von dem stattlichen väterlichen Wechsel ein flottes Studentenleben, in welchem dem Jus, seinem Brodstudium, gerade nicht überviel Zeit gewidmet, dagegen die Pflege der schönen Künste und Literatur fröhlich geübt wurde. Da traf die Familie der schwerste Schlag, der sie treffen konnte: Levin’s Mutter starb, und mit ihr ging der Segen des Hauses zu Grunde. Trotz des gewohnten großen Aufwandes war sie stets im Stande gewesen, durch strenge Ordnung das Gleichgewicht zwischen Einnahme und Ausgabe aufrecht zu erhalten. Diese wirthschaftliche Fähigkeit entbehrte Levin’s Vater, und so ging der Hausstand in kurzer Zeit reißend rückwärts, denn eine zweite Frau konnte weder den Kindern die Mutter ersetzen, noch den Ruin des Hauses aufhalten. Ein Bankerott brachte den Amtmann um Stellung und Vermögen, und der Sohn stand nun verarmt am Ende seiner Studienzeit.

Die allgemeine Theilnahme, welche dieses Mißgeschick der hoch geachteten Familie in ganz Westfalen erregte, erinnerte auch die Dichterin Annette wieder an den empfohlenen Sohn ihrer Freundin, und die Ausübung wahrer Freundespflicht wurde nun ihr Trost bei dem schweren Verlust. Sie machte es ihm möglich, seine Studien zu vollenden, und mit eisernem Fleiß brachte es Levin bald so weit, daß er sich zum Staatsexamen melden konnte. Aber nun trat ihm der ehemalige Reichthum Deutschlands an Vaterländern hemmend in den Weg. Denn da Levin in Hannover, wo man gegen seinen Vater so hart verfahren war und das damals durch das Schicksal der sieben Göttinger Professoren in absonderlichem Rufe stand, kein Staatsamt begehrte, meldete er sich zum Examen in Münster, das ja 1815 wieder an Preußen gekommen war. Dort aber wollte man ihn nicht als Preußen anerkennen und wies ihn zurück.

Und wieder war es die Freundin seiner Mutter, welche dem Zurückgestoßenen die hülfreiche Hand reichte. Ihre Schwester war die (dritte) Gemahlin des alten Freiherrn Joseph von Laßberg auf der Meersburg am Bodensee geworden. Dieser originelle alte Herr, dessen Bildniß den Artikel (1868, S. 685) schmückt, auf den wir uns hier beziehen, hatte auch die poetische Schwester seiner Gattin zu sich genommen, und da er als Gemahl der Fürstin von Fürstenberg in der Lage gewesen war, seinem Sammeleifer nach Herzenslust zu fröhnen, und auf seinem Schlosse Eppishausen [660] ein höchst werthvolles Museum von Manuscripten, darunter der älteste Nibelungen-Codex, Büchern und Kunstschätzen aller Art anzulegen, das er nun nach der Meersburg hatte schaffen lassen, so kann ihm natürlich der Vorschlag seiner Schwägerin, einen jungen gelehrten Dichter zur Ordnung dieser Schätze zu berufen, ganz gelegen. Dieser junge Dichter war Levin Schücking. Die köstliche Zeit, die er in dieser romantisch-poetischen Umgebung in einem Paradiese Deutschlands verlebte, hat er selbst oft warm und farbenreich geschildert, besonders in seinem „Lebensbild der Annette von Droste“.

Wenn man weiß, daß die gastfreie Burg am Bodensee eine Wallfahrtsstätte bevorzugter Geister war, daß Männer wie Uhland, Heinrich von Wessenberg, die Brüder Grimm, Görres, Gustav Schwab, Pfeiffer, Schott, Pertz, Reinh. Köstlin etc., Leute aus dem Rheinland, aus Schwaben, Franken, der Schweiz und Oesterteich dort Stammgäste waren, so kann man sich ein Bild von dem Leben und Treiben auf der Meersburg zusammensetzen, und vor Allem von dem Fleiße im Museum, dessen merkwürdigstes Stück der alte „Meister Sepp von Eppishausen“, wie er sich gern nannte, offenbar selbst gewesen ist.

Schücking schied von der Meersburg im Frühjahre 1842, um zu Ettingen in Franken, der Residenz des Fürsten Wrede, die Studien der Söhne desselben zu leiten. Später begleitete er den Fürsten in seine Sommerresidenz Mondsee in Oesterreich ob der Enns, wo er seinen ersten Roman „Ein Schloß am Meere“ schrieb und die Freiin Louise von Gall kennen lernte, die er im October 1843 als seine Gemahlin heimführte. Auch sie war eine dichterische Natur, nach Geist und Herz ihrem Manne innigst verwandt. Leider starb sie schon im Jahre 1855, und dem trauernden Gatten blieb nur der Trost, ihr mit ihrem eigenen Buche „Frauenleben“ ein dauerndes Denkmal setzen zu können.

Das schriftstellerische Leben Schlücking’s war nur in seinen ersten Ehejahren ein bewegtes, solange noch der Dichter und der Journalist in ihm um den Vorraug stritten. Im Jahre 1844 bewog ihn die Einladung der Redaction der „Allgemeinen Zeitung“ zur Uebersiedelung nach Augsburg. Hier nahm seine Pflichtarbeit ihn nicht so in Anspruch, daß er nicht noch Muße gefunden hätte zur Schöpfung eines neuen Romans „Die Ritterbürtigen“. In diesem Werke offenbart sich bereits eine innere Wandelung durch die Einflüsse des äußeren Lebens: die realistische Auffassung gewinnt über die ehedem vorherrschend romantische Richtung den Sieg. Der Klang seines Namens wurde in immer weiteren Wellenkreisen über Dentschland getragen. Daher geschah es, daß er nach einer Badecur in Ostende und während einer Rheinreise im Sommer 1845 von der damals neu organisirten Redaction der „Kölnischen Zeitung“ den Antrag erhielt, die Leitung des Feuilletons derselben zu übernehmen. Der Rhein und die Nähe Westfalens zogen mit gleichen Kräften an ihm, und so ging er nun nach Köln. Vorher hatte er bei Cotta einen Band „Gedichte“ drucken lassen.

Auch hier theilte sich seine Thätigkeit in die des journalistischen Berufs und des poetischen Schaffens. Je mehr aber die letztere durch die erste beengt und gestört wurde, desto mehr mußte die Sehusucht nach Abschüttelung des Zwangs wachsen.

Und so sehen wir ihn, nachdem er sich auf einer italienischen Reise neue Kräfte und Anschauungen geholt, auch von Köln scheiden. Im Jahre 1852 wärmte er den Herd auf seinem eigenen Boden, indem er sich auf seinem Gute Sassenberg bei Warenborf im Münsterlande für immer niederließ.

Was er von da an geschaffen, gehört zu den besten und gediegensten Werken, von denen nicht wenige sicher sind, von den Sturmfluthen der Romanliteratur nicht hinweggeschwemmt zu werden. Unsere Leser erlassen uns die Aufzählung der einzelnen Zeugnisse seiner rastlosen Thätigkeit, welche sich der Lyrik und dem Drama, vor Allem aber dem Roman widmete; sie haben die Meisterschaft des Erzählers durch dessen Beiträge zu unserer Zeitschrift kennen gelernt und längst sich selbst ihr Urtheil über dieselbe gebildet. Was aber unser alter Mitarbeiter Schmidt-Weißenfels an den Schluß seines Lebensbildes von Levin Schücking setzte, das wollen wir hier wiederholen. „Die Schücking’schen Romane,“ sagt er, „bieten in volksthümlichen Sittenschilderungen, welche selbst mit Hülfe archivalischen Details gegeben werden, das Beste, was wir in dieser Art besitzen. Die ruhige Behaglichkeit der Erzählung, welche an Walter Scott mahnt, die Natürlichkeit der Conflicte und ihrer Auflösungen, die vielfach locale Färbung des Dialogs, der anmuthige Herzenshumor, der oft aus dem Dichter spricht – alle diese Eigenschaften erhöhen in den Romanen Levin Schücking’s die harmonische Grundstimmung. Die Phrase, die Raffinerie der Erfindungen, die künstliche Mache der Mode ist in ihnen nicht vertreten, wohl aber die feine Sinnigkeit, das frische Talent, deutscher Geist und deutsche Herzlichkeit, welche aus der Geschichte des echten, charaktervollen Volkslebens unseres Vaterlandes kostbare Gemälde zu schaffen wissen.“

Das Buch dieses Geistes und Herzens ist geschlossen. Wieder einer der treuen Alten ist heimgegangen. Immer kürzer wird die Reihe jener Zeit-, Kampf- und Strebensgenossen. Und wer dieser kurzen Reihe angehört, dem legt sich, wie Einer um den Anderen von hinnen scheidet, Flor um Flor um’s Herz und im Ohre summt das leise Wort:

„Warte nur, balde
Ruhest du auch.“

Fr. Hfm.