Zwischen Gräbern
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Zwischen Gräbern.
So wären denn in so kurzer Zeit die Kränze verwelkt! Auch die Gießkanne voll Wasser, die ich gestern abend dem Gärtner abbettelte, konnte sie nicht mehr erfrischen. Tot – tot! alle die schönen Blumen, die so tröstlich den schwarzen Sarg überfluteten, und dann den grauen, rasch zusammengeschaufelten Hügel. Alle die schönen Blumen! Sie mußten ihm nachsterben. Sie sind das Totenopfer von Lebendigem, das sichtlich vergehen muß – gleichsam zur Vergeltung für den Schmerz um den geliebten Menschen, der uns grausam entrissen wurde. Je größer das Totenopfer, um so mehr war er geliebt, geehrt worden im Leben.
Ich fürchte, das ist eine recht heidnische Vorstellung. Und wer denkt denn auch, wenn er Blumen spendet, an ihr Verwelken? Eine Liebesgabe sind sie, erfreuen sollen sie mit ihrer duftigen Schöne das bekümmerte Herz der Leidtragenden, verdecken sollen sie ihnen in der schwersten Stunde des Abschiedes alles Grauen des Todes, schmücken die Stätte traurigster Erinnerung. Was können sie dafür, daß sie so bald erst recht traurig an die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnen? Verwelkte Blumen auf einem neuen Grabe – es kann für sie kein passenderes Symbol geben.
Aber der Lorbeer der Kränze hält sich grün. Sie bedecken dicht den ganzen Hügel, zwei, drei übereinander. Und die vielen weißen Schleifen mit Goldaufschrift! Ich habe sie so geordnet, daß sie alle gut zu sehen und zu lesen sind. Nicht aus Eitelkeit, aber aus Dankgefühl für die freundlichen Spender. Und diese Zeichen der Teilnahme thun auch so wohl!
Der gute, alte Papa – ja, er hat viel Liebe gehabt! In seinem Ministerium, dem er ja länger als zwanzig Jahre in treuester Arbeit diente, bei Vorgesetzten und Untergebenen, in den Wohlfahrtsanstalten, die er beaufsichtigte, in den Familien, die in seinem gastlichen Hause verkehrten, in dem Kreise der Landsleute und Studiengenossen, die er beim Glase Wein zusammenhielt. Ich bilde mir nicht ein, daß alle, die ihm den letzten Liebeszoll entrichteten, Freunde waren, aber einem herzlichen Bedürfnis folgten sie gewiß. Und ganz vergessen wird ihn keiner, der ihn gekannt hat.
Uns, die wir ihn liebten, müßte der Verlust um so schmerzlicher scheinen. Es ist doch nicht so. Etwas Freudiges mischt sich besänftigend ein: wie gut ist er den Menschen gewesen und wie viel Dank hat er geerntet!
Wir besuchen den Friedhof täglich, die alte Mutter und ich. Der späte September hat noch so schöne Tage gebracht, man könnte stundenlang im Freien verweilen. Besonders zur Zeit gegen den Sonnenuntergang hin ist’s herrlich da, wenn die goldigen Strahlen über den bekränzten Hügel flimmern und das schon rötliche Laub der Sträucher und Bäume in der Nähe die eisernen Gitter und Gedenksteine purpurn färben.
Unser Plätzchen ist so hübsch, so ausgesucht hübsch. Der Friedhof zieht sich an der sanften Schwellung des Erdbodens hinauf, und seitlich, nicht fern von der niedrigen Mauer und doch in nicht beengendem Abstande von ihr, fast schon oben, liegt die Grabstätte. Alte Gräber grenzen an, epheuumsponnene kleine Blumengärtchen, umgeben von Taxus, Trauereschen und Weiden; die Linden im Hintergrunde am Wege überragen sie. Nur nach der Mauer hin ist der Raum frei, sich leise abdachend. Man sieht über sie weit hinaus auf die große Stadt mit ihren Kirchtürmen und Kuppeln, wie sie überall aus dem Häusermeer auftauchen, und ein wenig an ihm vorbei in die weite, noch nicht bebaute Ebene, mit den Kieferwaldungen in der Ferne. Wir werden uns ein Bänkchen aufstellen lassen, um im Sommer da mit unserer Handarbeit oder einem Buch sitzen zu können. Kein Abend soll ohne unseren Besuch vergehen.
Wir stehen wohl eine Weile schweigsam. Aber unsere stillen Gedanken suchen bald den Austausch. Wir wollen einander nicht trauriger stimmen. Gewiß nicht. Aber auch die heiteren Erinnerungen treiben uns gleich die Thränen aus den Augen. Und wie heiter konnte er sein, der liebe, alte Papa! Er gehörte zu denen, die sich im Alter verschönen. Diese freundlichen Augen, dieser lachende Mund! Der Ausdruck ganz Güte und Wohlwollen. Er konnte nichts schwer nehmen, wenn auch das Ernste ernst. Es war immer, als ob er mahnte: laßt doch nur den Tag darüber hingehen, wartet doch nur bis morgen, dann schiebt sich alles von selbst wieder zurecht und die Welt sieht freundlich aus.
Und wenn er eine Geschichte erzählte! Man merkte ihm das Behagen an. Freilich mußte man Geduld haben, ihn erst auf allerhand Umschweifen zu begleiten. Aber wenn dann alle Fäden geschlagen waren und noch immer niemand ahnte, worauf er eigentlich hinauswollte, kam überraschend die Pointe mit voller Siegessicherheit. Er erzählte wohl auch Anekdoten, aber am liebsten doch kleine eigene Erlebnisse, die an sich ganz unbedeutend waren, aber durch den Vortrag wahre Kabinettstückchen guter Laune wurden. Merkwürdig! Er hatte immer etwas erlebt. Uns liebte er zu necken, auch manchmal weit ausholend. Man konnte sich darauf üben, wie aufs Rätselraten, und mißverstand ihn dann nicht leicht. Ich wußte schon immer voraus, daß ich ihm würde stillhalten müssen, wenn er mich listig anblinzelte, die Nasenspitze rieb und mit den Lippen zuckte. Wie gern ließ ich seinen harmlosen Spott über mich ergehen! Mir fehlte etwas, wenn ich bei einem Mittags- oder Abendessen nicht gehänselt war. Und wie liebte er „seine Jüngste“!
Es war so rührend, wie er sein Leiden zu verstecken wußte oder es vor uns fortzuscherzen bemüht war. Als ob er sich gar nicht genug über seine Schwäche lustig machen könnte! Und als die böse Krankheit ihn dann doch niederwarf und der Arzt sich auf keine Zeichensprache einlassen wollte, uns die Wahrheit vorzuenthalten, und wir weinend an seinem Bett standen – nein, das kann ich mein Leben lang nicht vergessen, wie er sich da lächelnd zu uns wandte und mit leiser Stimme sagte: „Warum weint ihr denn? Es geschieht doch nichts, als was lange vorhergesehen werden mußte, das Allermenschlichste. Ihr solltet froh darüber sein, daß wir eine so schöne Zeit miteinander verlebt haben und uns so gut geworden sind, daß ein Verlieren gar nicht möglich ist. Habt ihr mich lieb, so vergönnt doch diesem Restchen Dasein noch so viel Heiterkeit, als es irgend ertragen kann. Wollt ihr? Wir verkehren miteinander wie immer.“
Noch ganz kurz vor seinem Tode erzählte er, daß er soeben einen recht drolligen Traum gehabt hätte. Es wäre ihm angeboten, ein steinreicher Mann zu werden, wenn er bis zu seinem Lebensende nicht mehr lachen wolle; denn das Reichwerden sei eine sehr ernste Sache für Leute, die nur stets ungefähr so gerade ausgekommen wären. „Ich dachte an euch,“ fuhr er fort, „und hatte schon nicht übel Lust zuzugreifen, denn lange konnte ja die Prüfung nicht dauern. Da fiel mir aber noch zu rechter Zeit ein, doch erst mal in den Spiegel zu sehen, ob ich auch so ein Gesicht machen könne, als von mir gefordert wurde. Und denkt euch, da sah ich so furchtbar komisch aus, daß ich hell auflachen mußte. Darüber erwachte ich. Nun thut mir’s doch recht leid, daß ich mich nicht ein bißchen besser zusammengenommen habe.“
Der gute, alte Papa! Er ist so hinübergeschlummert, gewiß mit noch lustigeren Träumen. Auf seinem Gesicht lag’s, als ob er sagen wollte: wartet nur, bis ich aufwache; ich hab’ euch noch etwas zu erzählen.
Ob ich aber jemals wieder werde lachen können? Lachen, wie früher? Wenn man einen so lieben Menschen hat sterben sehen –! Der nimmt allzu viel mit. Nein, nein! Das Leben ist mir plötzlich ernst geworden, sehr ernst.
Wir haben nun beschlossen, den Hügel sogleich mit Rasen belegen zu lassen, mag sich auch die Erde noch nicht genügend gesenkt haben. Er wird bei dem fortgesetzt sonnigen Wetter gut eingrünen und dann im Herbst und Winter dem Grabe ein [791] freundlicheres Aussehen geben. Ich habe heute schon mit dem Gärtner gesprochen.
Dazu ist aber nötig, daß die Kränze fortgeräumt werden. Wohin damit? Aufbewahren lassen sie sich nicht; es sind ihrer zu viele. Ich will aus jedem ein paar Blättchen zupfen oder einen kleinen Büschel, wie er in der Drahtschlinge befestigt ist. Daraus läßt sich dann ein einziger Kranz winden, der Papachens Jubiläumsbild dauernd schmücken soll. Von den Bandschleifen lassen sich aber nicht ebenso gut einzelne Fäden ausziehen und zu einem Gewebe zusammenbringen. Ich wähle die schönste, die ihm das Ministerium gestiftet hat, und winde sie durch die Lorbeerblätter. Sie lang hängen zu lassen und gar die anderen auch daneben, wäre gar nicht nach seinem Sinn.
Er selbst war der Bescheidensten einer. Er that immer und immer nur „seine Schuldigkeit“. Könnte er selbst Anordnungen nach seinem Begräbnis treffen, er würde uns lächelnd zurufen: Es war alles so gut gemeint; ein großer Mann hätte nicht pomphafter begraben werden können. Aber nun räumt auf, räumt auf! Es war nur so ein ganz kleiner Wirklicher-Geheimer-Ober, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen, und morgen ist wieder Werktag.
Ich will aufräumen.
Die Mutter ist sehr angegriffen. Gestern fiel sie mir in Ohnmacht und heute lasse ich sie nicht aus dem Bett. Sie hat sich in der Leidenszeit das Uebermenschliche zugemutet, nicht schwach zu erscheinen. Da sinkt sie nun zusammen.
Ich fürchte, zu ihrem Kummer treten auch noch Sorgen, hauptsächlich meinetwegen. Sie sprach eines Abends recht freundschaftlich und liebevoll mit mir. Der Vater habe nichts erspart. Die Söhne hätten viel gekostet. Nun seien sie freilich in angesehenen Stellungen und auf dem besten Wege zu noch angeseheneren. Aber ohne Vermögen hätten sie vorläufig doch nur gerade das Durchkommen und würden schon den gewohnten Zuschuß schwer vermissen. An Stelle des ganz namhaften Gehalts sei eine recht kleine Witwenpension getreten. Wir würden uns sehr einrichten müssen, alles Ueberflüssige von Hausrat zu verkaufen und uns eine passende Wohnung zu mieten haben. Unseren Umgang hätten wir auf das geringste Maß einzuschränken. Sie überlege schon, ob sie unsere etwas verwöhnte Marie würde behalten können, so ungern sie sich auch von der treuen Person trennen würde. Vielleicht sei es das Verständigste, nach einer kleinen Stadt zu ziehen, wo wir ganz unbekannt wären und uns einrichten könnten wie wir wollten. Aber sie denke an mich und wie wenig ich da vom Leben haben würde, und wie unwahrscheinlich da …
An mich! Als ob ich nicht längst wüßte, daß ich keine Ansprüche erheben dürfe. Wenn eine Geheimratstochter dreiundzwanzig Jahre alt geworden ist, muß sie doch über sich Bescheid wissen. Sie lernt’s früher schon, wenn sie halbwegs verständig um sich schaut. Tanzt sie gern – an Tänzern wird ihr’s nicht fehlen; aber die thörichte Hoffnung, in der Gesellschaft, die sie pflichtschuldigst auszeichnet, den Erwählten ihres Herzens zu treffen, nährt sie nicht lange. Die guten Mütter können nur so schwer von dem Gedanken los, daß ihre Töchter, wenn sie leidlich gut aussehen und die beste Erziehung genossen haben, in der Ehe ihr Glück finden müssen. Und nun die einzige Tochter und das jüngste Kind und das ersehnte Mädel, das etwas verspätete und um so zärtlicher verhätschelte Nesthäkchen!
Nein, ich habe abgeschlossen, und es ist mir nicht einmal schwer geworden. Ich habe etwas von des Vaters heiterem Sinn geerbt und immer die Dinge ruhig an mich kommen lassen. Ist’s nicht, so ist’s nicht! Ich habe auch das Glück gehabt – in meiner Lage muß ich’s wohl so nennen – nie einem Manne zu begegnen, für den ich mich leidenschaftlich hätte erwärmen können. Es ist möglich, daß ich einmal warm geworden wäre, wenn jemand sich recht ernstlich um mich bemüht hätte. Aber diese Erfahrung habe ich nicht gemacht, denn ein paar verliebte Jünglinge, für die ich verständig sein mußte, rechnen nicht mit. Nun habe ich nicht einmal mehr einen Vater, von dessen Einfluß sich etwas für die Carriere erhoffen ließe! Es ist gut so, ich bin vor allen Illusionen bewahrt und kann mich darauf einrichten, ein altes Jüngferchen zu werden. Hoffentlich behalte ich noch lange die schöne Aufgabe, die alte Mutter zu pflegen und zu stützen. Ganz unnütz auf der Welt werde ich auch später nicht sein.
Das Grab ist in bester Ordnung. Ich lege nun täglich ein frisches Blumensträußchen auf den grünen Rasen. Nur ein ganz kleines. Wir müssen sparsam sein.
Heute wurde ich zum erstenmal unliebsam in meiner Andacht gestört.
Ein langer Mensch strich zwischen den Gräbern herum, als ob er etwas suchte, und kam auch wiederholt über den freien Platz vor dem unsern, blieb stehen und ging weiter. Er sprach vor sich hin, so daß ich anfangs glaubte, er wollte von mir eine Auskunft haben. Ich merkte aber bald, daß er mich gar nicht beachtete.
Nach einer Weile kam auch der Friedhofsinspektor und schloß sich ihm an. Ich hatte mich abgewendet, hörte aber, daß sie in kurzen Sätzen miteinander sprachen.
„Hier also?“
„Ja, das ist die Reihe.“
„Eine andere Stelle ist nicht frei?“
„Was haben Sie gegen diese auszusetzen, Herr Professor?“
„O nichts, nichts.“
„Ich denke, sie ist sehr schön.“
„Jawohl – nur ein wenig beengt.“
„Ach – da ist noch viel Raum, Herr Professor.“
„Also gut!“
Sie entfernten sich hügelab dem Ausgang zu.
Das Gespräch war kaum falsch zu deuten. Der Lange sah sich nach einer Stelle für ein neues Grab um, und der Inspektor wies sie ihm hier in der Nähe an. Ich weiß nicht, wie es kam, daß mich dies beunruhigte und geradezu verdrießlich stimmte. Was kümmerte es mich?
Als ich bald darauf durch das große Portal den Friedhof verlassen wollte, stand der Herr Inspektor vor seinem Hause und grüßte mich. Ich konnte mich nicht enthalten, ihn zu fragen, ob wirklich ein Begräbnis angemeldet sei. „Ja,“ antwortete er, „zu übermorgen. Das Grab kommt ganz in die Nähe des Ihren.“ – „Ganz in die Nähe –?“ wiederholte ich wie erschreckt. Es mochte ihm wenigstens so klingen, denn er sah mich lächelnd an und sagte: „Gewiß, wir bleiben immer in der Reihe.“ – „Aber doch nicht nebenan?“ – „Freilich nebenan.“ – „Aber“ … Da half kein Einreden. „Es kann Ihnen ja gleichgültig sein, liebes Fräulein, wer neben Ihrem Herrn Papa schläft,“ meinte er. „Jst’s nicht der, so ist’s ein anderer, irgend einer gewiß. Und Wenn’s Ihnen auf gute Gesellschaft ankommt – ich denke, Sie können zufrieden sein. Es ist ein Professor, der seine Mutter begräbt.“
Ich erkundigte mich nicht weiter, um nicht neugierig zu erscheinen, was ich gewiß nicht war. Irgend einer gewiß! Ganz richtig. Es konnte und mußte mir gleichgültig sein, an wen der nächste Platz abgegeben wurde. Die Mama hatte ja vorsichtig eine Doppelstelle erworben, um sich die Ruhestätte neben ihrem lieben Alten zu sichern. Weitere Ansprüche hatten wir nicht zu erheben. Und doch –! daß überhaupt einer … Es war mir bisher gar nicht eingefallen, daß der offene Raum, über den ich mich so gefreut hatte, noch weiter benutzt werden könnte. Und nun überkam mich ein Gefühl der Abgunst – ich kann’s gar nicht anders nennen. Ich wollte für mich allein behalten, was ich mir rund herum gleichsam dadurch zugeeignet hatte, daß ich es in einem gewissen Zustande sah, den ich mir unverändert wünschte. Wär’ ich reich gewesen, ich hätte alle die Grabstellen bis zur Mauer hin kaufen mögen, nur damit niemand weiter dort begraben werden könnte.
Ich kam ganz aufgeregt nach Hause, und die Mama hatte Mühe, mein Gefühl zu beruhigen, nachdem der Verstand längst eingesehen hatte, daß mein Verdruß grundlos sei.
Wie selbstsüchtig wir sind!
[826] Das ist aber doch zu arg!
Als ich heute auf den Friedhof kam, fand ich das neue Grab ausgehoben und die Erde zum Teil auf unsern jungen Rasenbelag geworfen. Er sah abscheulich aus. Die eine Seite war ganz verschüttet. Das braucht man sich doch nicht gefallen zu lassen! Ich beschwerte mich beim Inspektor. Es lasse sich nicht vorsichtiger verfahren, entschuldigte er achselzuckend. Der Raum zwischen den Gräbern sei zu enge, um die ausgehobene Erde aufnehmen zu können; da bleibe bei aller Sorglichkeit nichts übrig, als vorläufig die Nachbarhügel zu belasten. Morgen früh werde die Erde schon wieder zur Füllung der Grube gebraucht. Der Aufwurf sei auch so leicht, daß eine Beschädigung nicht gefürchtet werden dürfe. Und wenn sie doch unvermeidlich gewesen sei, so müsse eben der Gärtner nachbessern.
Hätte ich’s nur vorher gewußt! Ich würde wenigstens den Rasen mit einer Leinwand bedeckt haben. Der Anblick war so traurig, daß ich mich diesmal nur wenige Minuten aufhalten mochte.
Es hatte in der Nacht geregnet, und es regnete noch immer. Das gute Wetter scheint ein Ende haben zu sollen, der Herbst plötzlich hereinzubrechen.
Ach, diese Zerstörung! Da lag nun seitwärts der neue Grabhügel wie ein wüster Erdhaufen, ein einziger Palmenwedel darauf, und der schmale Gang zwischen den beiden Gedenkstätten war schmutzig von zertretenem Lehm, und nasse gelbe Lehmkluten oder Reste davon verunzierten den Rasen. Ich versuchte ihn zu reinigen, aber das gelang nur sehr unvollkommen. Die Spuren wird auch der Herbstregen nicht ganz abwaschen. Die Leute hätten wohl rücksichtsvoller verfahren können!
Ein einziger Palmenwedel mit Blumenagraffe auf dem Grabe. Wahrscheinlich vom Sohn niedergelegt. Hatte die Frau gar keine Freunde?
Es regnet weiter. Die Mutter ist noch krank und durfte auch bei so schlechtem Wetter nicht hinaus.
Ich war in der Dämmerstunde, wie immer, nach dem Friedhof gegangen, wollte aber schon kurz vor dem Ziel umkehren, da ich den langen Menschen zwischen den beiden Gräbern stehen sah. Ich hatte das Gefühl, als ob ich ihn stören müßte. Dann bedachte ich aber, daß er mich doch gar nichts anginge und solche Begegnungen unvermeidlich sein würden.
Ich trat also an des Vaters Grab. Er sah sich flüchtig nach mir um, grüßte aber nicht und nahm auch weiter keine Notiz von mir. Ein merkwürdiges Gesicht, knochig und eckig, aber nicht unschön, mit spärlichem, dunklem Bart um Mund und Kinn, die hohe Stirn unter dem zurückgeschobenen Hut frei. Ich hatte nur eine Sekunde zu diesen Beobachtungen Zeit.
Um ihm nicht in den Weg zu treten, hielt ich mich auf der andern Seite des Rasenhügels, so daß ich seinen Rücken sah. Er stand noch eine Weile mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen. Er hatte zwar einen Schirm, hielt ihn aber ungeöffnet unter dem Arme und ließ sich vom Regen durchnässen, der von der Hutkrempe auf den Rücken tropfte und von seinen Schultern ablief, was er aber nicht zu bemerken schien.
Tann ging er auf dem nassen Pfade zwischen den Gräbern ein paarmal hin und her. Er murmelte dabei wieder etwas vor sich hin; ich glaube, er zählte halblaut die Schritte, obgleich er über vier nicht hinauskam. Die Schmalseite nahm er mit noch wenigeren, ich meinte eben zu hören: eins – zwei. Diese Ausmessung schien ihm denn doch noch nicht zu genügen. Nachdem er wieder einige Minuten sinnend stehen geblieben war, gebrauchte er den Schirm als Meßstab, indem er ihn in der Mitte faßte und gebückt abwechselnd mit der Spitze und Krücke in den nassen Lehm tauchte. Als er sich dann auf ihn stützen wollte, beschmutzte er natürlich seine Hand und war nun sichtlich in Verlegenheit, wie er sie reinigen sollte. Er suchte die hintere Rocktasche, aus der er wohl das Taschentuch nehmen wollte, hatte aber offenbar vergessen, daß er einen Ueberzieher trug, der geschlossen war, und schien gar nicht auf den Gedanken zu kommen, darunter im Rock zu suchen. Zuletzt gab er seine Bemühungen auf und hielt die Hand mit gespreizten Fingern vom Körper ab, wahrscheinlich um abzuwarten, bis der Lehm getrocknet sein würde. Eine Hand mit langen, schmalen Fingern.
Mich selbst prickelte es, ihm einen guten Rat zu geben. Aber ich war doch verständig genug, mich zurückzuhalten. Wer konnte wissen, wie er ihn aufnehmen würde? Und es schickte sich auch nicht für mich, eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Ich wußte aber, daß meine Andacht heute gestört bleiben müßte. Ich entfernte mich daher bald. Ach, meine schönen einsamen Abendstunden – hoffentlich seid ihr nicht für immer eingebüßt!
Gestern war ich ungestört. Auf dem Erdhügel nebenan zeigten sich frische Blumen, Astern und Georginen, nicht zusammengebunden. Der Wind, der den Regen abgelöst hat, mochte einige davon hinabgefegt haben. Sie lagen auf dem feuchten Boden herum. Es ging mich nichts an, aber ich hob sie doch auf und fügte sie den andern bei. Es war mir ein zu trauriger Anblick.
Heute aber hatte ich kaum mein Sträußchen auf den Rasen gelegt und mit einem kleinen Pflock befestigt, als ich den langen Professor, Blumen in der Hand, mit eiligen Schritten nahen sah. Er blickte erst auf, als er nicht mehr weit von mir entfernt war, stutzte und machte kehrt. Offenbar war ich ihm so unangenehm, als er mir. Er verließ den Friedhof jedoch nicht, sondern ging den Hauptweg auf und ab und wurde von Zeit zu Zeit wieder hinter dem Gebüsch sichtbar. Sollte ich mich verdrängen lassen? Endlich schoß er heran und ohne aufzusehen an mir vorüber, legte die Blumen oder warf sie vielmehr zu den verwelkten und eilte wieder fort. Ein recht wunderlicher Herr!
Um dem Professor nicht zu begegnen, besuchte ich den Friedhof diesmal schon in der Mittagszeit. Da hatte ich mich aber verrechnet. Er stand mit dem Inspektor zusammen zwischen den Gräbern und machte mit den Armen Bewegungen nach der Breite und Höhe hin.
Der Inspektor grüßte mich freundlich. Nun blickte auch er zurück, betrachtete mich eine kleine Weile sehr eindringlich, hob nun auch zögernd die Hand nach dem Hut und entfernte ihn ein wenig von der hohen Stirn, ohne sich zu verbeugen. Dann setzte er das Gespräch mit dem Inspektor fort, wandte aber noch zweimal den Kopf nach mir, als ob er sich überzeugen wollte, ob ich wirklich die Unverschämtheit hätte, in der Nähe zu bleiben. Ich ließ mich so nicht vertreiben.
Er sprach leise, immer nur wenige Worte. Den Inspektor hörte ich sagen, das sei nun einmal Vorschrift und davon ließe sich nicht abgehen; so ein Grab müsse fest untermauert werden, mindestens zwei Meter tief; darauf könne dann die steinerne Bordschwelle gelegt und in sie das Gitter eingefügt werden.
Der Professor schien sich dann nach den Kosten zu erkundigen. Die „vorläufige“ Rechnung, die ihm gemacht wurde, kam mir erschreckend hoch vor. Ihm wohl auch. Das eiserne Gitter könne ganz nach Gefallen gewählt werden, meinte der Inspektor; man habe es von zwanzig Mark pro Meter bis zu hundert und mehr. „Hundert Meter und mehr –!“ wiederholte der Lange, den Kopf in die Schultern duckend, „ach – ach – ach! Und zwanzig Meter…“ Die Zahl war jedenfalls ganz unrichtig, wahrscheinlich um die Hälfte zu hoch; der Inspektor schien aber keine Neigung zu haben, ihn zu berichtigen, und machte ihm etwas ungeduldig den Vorschlag, sich eine schriftliche genaue Aufstellung geben zu lassen. Darum bat der Professor denn auch.
Die beiden Herren hatten sich schon in Bewegung gesetzt und entschwanden mir bald aus Gehörweite. Als ich nach einigen Minuten zwischen den beiden Gräbern hindurchging, bemerkte ich, [827] daß an das drüben ein seidener Schirm angelehnt war. Der Professor mußte ihn vergessen haben. Was sollte ich thun? Ihn da stehen lassen? Aber es war sehr unwahrscheinlich, daß er sogleich vermißt und abgeholt würde. Ich hielt es doch für menschenfreundlich, ihn beim Inspektor abzugeben.
Ich hatte so auch Gelegenheit, zu erfahren, was da im Werk sei. Er fing selbst davon an, indem er lachend sagte, es sei mit so einem Gelehrten schwer zu verhandeln; in der nächsten Minute habe er alle Maße und Zahlen schon wieder vergessen oder durcheinandergemengt. Er wisse auch selbst nicht recht, was er wolle, ein Erbbegräbnis, oder ein einfaches Gitter, oder eine Steineinfassung, oder auch die nicht einmal. Seine Fragen ließen sich gar nicht alle beantworten. „Er wird doch nicht das Grab ausmauern lassen!“ rief ich entsetzt, indem ich an die unausbleiblich lange Beunruhigung unseres Besitzes dachte. Es war kein Trost, daß der Inspektor versicherte, die Arbeiten könnten wohl erst im Frühjahr vorgenommen werden, wenn auch unser Rasen der Nachbesserung bedürftig sein würde. Er setzte hinzu: „Für wen hätte der Herr Professor eigentlich Grund, so weit in die Zukunft zu sorgen? Er war das einzige Kind und ist unverheiratet. Wer weiß, wohin er in kurzem berufen wird und wo er sich dermaleinst zur letzten Ruhe legt? Er hat auch nur so ganz im allgemeinen die Vorstellung, daß er seiner Mutter etwas zum Gedächtnis stiften müßte. Ein Gedenkstein wird’s wohl schließlich auch thun.“
Aber es wäre doch möglich –! Und dann die freie Aussicht durch ein hohes Gitter verstellt… Ich berichtete zu Hause mit Thränen in den Augen.
Der Oktober bringt noch schöne Tage, wenn auch kühle.
Heute traf ich den Professor, der drei kleine Bündel Veilchen niedergelegt hatte. Er zog mit auffallender Eile den Hut, indem er sich wiederholt verbeugte. Die neulich durch den Inspektor veranlaßte Begrüßung mochte mich in seinen Augen auf sicheren Boden gestellt, ihn aber auch der Pflicht einer Vorstellung überhoben haben. Wenigstens redete er mich sofort an.
„Es scheint, mein Fräulein,“ sagte er leise, „daß Sie zu Ihren Besuchen hier mit Vorliebe diese Stunde wählen.“
Das bestätigte ich. Es war mir lieb, ihm darüber Gewißheit geben zu können. Vielleicht wünschte auch er eine Art von Auseinandersetzung bezüglich der Zeit.
„Sehr merkwürdig!“ fuhr er fort. „Diese Stunde ist auch mir die liebste. Ich lese nachmittags mein Kolleg und gehe dann zur Erholung gern ein wenig spazieren. Jetzt habe ich nun gewissermaßen ein festes Ziel. Der Vormittag gehört, wenn nicht etwas Besonderes dazwischen kommt, der häuslichen Arbeit.“
Da wußte ich denn Bescheid. Es könne wohl nicht von mir erwartet werden, meinte ich so wenig spitz, als nach dieser Ueberraschung mir möglich war, daß ich deshalb meine Gewohnheit ändere.
Er sah mich mit seinen großen – übrigens, wie ich bemerkte, lichtbraunen – Augen sehr verwundert an. „Ich wüßte nicht, daß ich mir anzudeuten erlaubt hätte …“ stotterte er. „Wir haben ja wohl hier beide Raum. Aber wenn meine öftere Gegenwart Ihnen lästig sein sollte, mein Fräulein –“
Das konnte ich nun doch nicht zugeben, ohne unartig zu erscheinen. Wir hätten beide hier das gleiche Recht, erwiderte ich, und wir brauchten einander ja nicht zu stören.
Wenn damit zu verstehen gegeben sein sollte, daß die Unterredung beendet sein könnte, so verstand er mich jedenfalls nicht.
„Ich kann meine Vorlesung in diesem Semester auch nicht mehr gut verlegen,“ fuhr er fort, „und zu welcher andern Zeit ich meinen Spaziergang machen sollte ...“
Da ich darauf nicht weiter einging, wurde er sichtlich verlegen und zupfte an den Schößlingen seines Kinnbarts. Er wußte offenbar nicht, wie er zum Schluß kommen sollte, nachdem er einmal die Ansprache gewagt hatte. Das Schweigen wurde mir peinlich. Ich stellte die sehr überflüssige Frage, ob er Universitätslehrer sei. „Ja,“ antwortete er, „klassischer Philologe.“ Es fiel ihm auch jetzt nicht ein, sich mir zu nennen, so nahe das gelegen hätte. Seine Blicke irrten um mich herum. „Uebrigens weiß ich bestimmt,“ setzte er wieder an, „daß ich mir vorgenommen hatte, Ihnen bei nächster Begegnung noch etwas zu sagen, mein Fräulein. Es fällt mir nur durchaus nicht ein …“
Ich lächelte. „Wohl wegen des Schirms –“
„Ja, ja – wegen des Schirms!“ rief er sehr erfreut. „Es ist sehr gütig, daß Sie mir’s in Erinnerung bringen. Ich wollte Ihnen meinen besten Dank sagen für die liebenswürdige Bemühung …“
Es sei ja nicht der Rede wert, versicherte ich.
„O doch, doch!“ widersprach er eifrig. „Als ich nach Hause kam, fragte die alte Kathrine gleich, wo ich den Schirm gelassen hätte, und war sehr ungehalten, als ich’s nicht sagen konnte. Freilich war’s nicht mein – es war nämlich meiner verstorbenen Mutter Schirm, und der Verlust wäre mir schmerzlich gewesen.“
Ich konnte mich nun gleich vergewissern, ob er wirklich die Absicht habe, ein Erbbegräbnis zu erwerben, und that es auch.
„Ach, es war mir nur so durch den Sinn gegangen,“ antwortete er, „weil ein Kollege mir riet, vorsichtig zu sein. Nach dreißig Jahren hätte man manchmal Schwierigkeiten wegen Behauptung des Platzes. Aber die Umstände sind so groß! Und eigentlich gefällt mir so ein freier Grabhügel viel besser. Der Ihrige sieht schon recht hübsch aus; es ist wohl das Klügste, wenn ich mich ganz nach Ihnen richte, mein Fräulein.“
Ich schlug ihm vor, dem Gärtner sogleich Auftrag zu geben, und zeigte ihm denselben, da er gerade in der Nähe arbeitete. Er begab sich auf der Stelle zu ihm, und so konnte ich indessen leicht verschwinden.
Wir grüßen einander nun regelmäßig, wenn wir an den Gräbern zusammentreffen.
Das geschieht nicht gerade alle Tage, aber sehr oft. Mitunter bin ich schon fortgegangen, wenn er kommt. Einmal hatte ich die Mutter lieber vormittags in die wärmere Sonne geführt. (Sie war für sie doch noch nicht warm genug gewesen.) Ein andermal hatte er gleich nach seiner Vorlesung zu einer Fakultätssitzung gehen und deshalb den Friedhofsbesuch versäumen müssen – zu seinem großen Kummer, wie er bemerkte. Es war überhaupt wunderlich anzuhören, mit welchem Eifer er sein Ausbleiben entschuldigte, als hätte ich irgend welchen Anspruch auf sein pünktliches Erscheinen oder vermißte etwas, wenn ich ihn nicht sähe und hörte.
Ehrlich, ehrlich! So ganz gleichgültig ist mir’s in der That nicht, ob ich die lange Gestalt da zwischen den Gräbern stehen sehe. Man gewöhnt sich in das erst Unbequeme doch recht rasch hinein und sucht ihm sogar die gute Seite abzugewinnen.
Ihm geht’s übrigens ähnlich, und er spricht sich darüber mit der Unbefangenheit eines Kindes, das sich bei so etwas gar nichts denkt, sehr offen aus. „Ich empfinde es schon als einen besonderen Glücksfall,“ bemerkte er, „daß diese beiden Gräber zusammenliegen und wir beide so gleichsam gut nachbarlich verkehren können. Diese wenigen Quadratmeter Bodenfläche sind mein einziger Besitz von der Erde, und ich glaube zu erraten, daß Sie über keinen größeren Grundbesitz verfügen, mein Fräulein. Da hat es doch Bedeutung, daß wir angrenzen. Ich kann mir auch nicht mehr gut vorstellen, daß es mir lieb wäre, hier mit mir ganz allein zu sein. Im Gegenteil: ich empfinde es als eine rechte Wohlthat, hier jemand zu treffen, der in derselben Absicht herkommt, eine Pflicht der kindlichen Pietät zu erfüllen, der von denselben Gefühlen herzlicher Trauer bewegt ist, und der freundlich mit mir spricht. Bisher war meine alte Mutter eigentlich der einzige Mensch, mit dem ich mich freundschaftlich aussprechen konnte. Stellen Sie sich vor, wie verzweifelt ich war, ihren Mund nun auf ewig verstummt zu wissen. Und da finde ich ganz in ihrer nächsten Nähe – und gewissermaßen mir durch sie zugeführt – eine Art von Ersatz. Es ist ja allerdings ein Unterschied zwischen einer alten Frau, zu der man von Jugend auf gestellt war, und einer jungen Dame, die man nur eben kennenlernt. Aber Sie glauben nicht, wieviel innere Aehnlichkeit … Und ich habe auch so das Gefühl, daß ich von Ihnen verstanden werde und wir einander eigentlich gar nicht fremd sind. Es ist eine wunderliche Sache, und ich bin dem Geschick dankbar dafür.“
Ja, es ist eine wunderliche Sache. Der Professor – ich weiß noch immer nicht einmal, wie er heißt – hat mir schnell ein gewisses Vertrauen abgewonnen. Er sieht übrigens recht gut aus, wenn man ihn in der Nähe zu betrachten Gelegenheit hat, jedenfalls recht interessant. Es ist, als ob sich der Geist das Gesicht formte, in dem er sich nun ausspricht, und die leuchtenden Augen verleihen [828] ihm ein ganz besonderes Leben. Ich schätze ihn noch nicht vierzig Jahre alt, aber nahe daran. Möchte er sich nur einmal das Haar verschneiden lassen, das sich jetzt hinten etwas unordentlich über das seidene Halstuch bäumt, und den gar zu dünn auslaufenden Bart stutzen. Früher hat wahrscheinlich seine Mutter auf ihn geachtet, vielleicht selbst zu rechter Zeit die Schere gehandhabt. Warum nicht? Den alten Papa, der nicht zum Friseur zu bringen war, habe ich in solcher Weise stets, so oft es nötig wurde, „hübsch gemacht“. Das war sein Ausdruck dafür. Deshalb fällt mir nun wohl dieser Auswuchs überhaupt in die Augen.
Heute sagte er: „Ich hätte mir früher nicht als möglich gedacht, daß ich einmal das Bedürfnis empfinden würde, meiner Mutter Grab so häufig zu besuchen. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, mein verehrtes Fräulein; mir aber ist das, was wir von unseren Toten dem Grab übergeben, wenig geeignet, die Erinnerung an die Betrauerten recht zu erwecken oder auch nur zu sammeln. Mit dem, was in dieser lebt, lebe ich in ununterbrochener Gemeinschaft. Und nun übt dieses Fleckchen Erde doch eine unvermutet starke Anziehungskraft aus. Ich pilgere dahin wie zu einem geweihten Ort und befinde mich in der andächtigen Stimmung wohl, die er hervorruft. Ich fühle mich da nicht mehr so allein …“
Er brach ab, senkte den Blick und sah eine Weile träumend vor sich hin. Ich glaube, was er weiter auf der Zunge hatte, paßte nicht mehr ganz in den Gedankengang, dem er bis dahin gefolgt war. Ich meinte ihn darauf zurückführen zu können, indem ich als meine eigene Empfindung aussprach, daß man sich am Grabe eines geliebten Menschen seines Verlustes lebhafter bewußt werde und diesen erneuerten Schmerz als eine Wohlthat fühle. Als ob man damit dem Toten etwas Liebes erweise – das einzige Liebe, das man ihm noch erweisen könne. Und so löse sich nun wieder der Schmerz, und man gehe getröstet fort, dem Geschiedenen doch noch etwas zu sein. Wie man ja auch wohl dem Bilde eines entfernten Lieben allerhand Zärtlichkeiten zuwende.
Er nickte wie zustimmend, aber auf seinem Gesicht lag dabei ein so eigenes Lächeln, daß ich ihn kaum ganz bei der Sache glauben konnte. „Der Mensch ist ein sehr wunderliches Geschöpf,“ sagte er aufblickend, „inkonsequent durch und durch. Alle Philosophie bringt ihm der besondere Fall in Verwirrung. Ich bin überzeugt, daß das Fortleben der Seelen nach dem Tod, wie es auch stattfinden mag, jedenfalls keine Gemeinschaft hat mit unserer Leiblichkeit. Giebt es ein geistiges Etwas, das von uns bleibt, so nimmt es doch sicher nicht mit leiblichen Sinnen wahr und kann mit leiblichen Sinnen nicht wahrgenommen werden. Diese felsenfeste Ueberzeugung hindert doch meine Phantasie nicht, mir einen ganz unkontrollierbaren Streich zu spielen. Ich will Ihnen ein – nun ja, ein recht lächerliches Geständnis meiner Schwäche ablegen. Neben meiner Arbeitsstube liegt unser kleiner Salon. Dort befindet sich ein Bild meiner Mutter, ein recht gutes und treues Bild. Die Thür steht gewöhnlich offen, da ich gern bei der Kopfarbeit durch beide Zimmer auf und ab gehe, und ich bleibe oft vor dem Bilde stehen, einen Blick darauf zu werfen und ihm leise ein freundliches Wort zuzurufen. Und nun denken Sie – wenn ich abends und nachts bei der Lampe an meinem Schreibtisch sitze, kann ich die offene Thür nicht sehen, ohne mir die Möglichkeit einzubilden, meine Mutter könnte durch dieselbe, für meine Augen geradeso wie auf dem Bilde sichtbar, eintreten. Und diese Einbildung hat solche Macht über mich, daß ich schon wiederholt die Thür geschlossen habe. Nicht wahr, eine größere Konfusion ist schon nicht denkbar?“
Das könnte ich doch nicht so ohne weiteres zugeben, antwortete ich. Die offene Thür mit dem dunklen Raum dahinter erwecke gerade die Vorstellung, daß sich von dem nicht sichtbaren Bilde die Erscheinung loslöse und ins Helle trete. Ich riet ihm, das Bild in sein Studierzimmer zu nehmen, dann werde es ihm immer ein Bild bleiben.
„Daß ich nicht selbst schon auf dieses allereinfachste Heilmittel verfallen bin!“ rief er. „Aber ich danke es Ihnen gern. Und ich sehe nun auch, daß ich es nicht bereuen darf, Ihnen meine Schwäche so offen eingestanden zu haben.“
„Sie haben gewiß Ihre Mutter sehr lieb gehabt,“ bemerkte ich.
„Ach, sehr lieb, sehr lieb,“ antwortete er mit innigem Ausdruck. „Ich kann mir nicht denken, daß ich je einen anderen Menschen …“ er stockte und blickte mich wie erschreckt an. „Das heißt … Ja, der Mensch ist ein wunderliches Geschöpf,“ murmelte er, sich wohl an die Einleitung seiner sonderbaren Mitteilung erinnernd. Er reichte mir die Hand und entfernte sich rasch.
Merkwürdig! Als ich gestern die Mutter zu Bett gebracht hatte und spät bei der Lampe in mein Tagebuch schrieb, was ich erlebt hatte, fiel mir plötzlich ein, daß im Zimmer nebenan das Bild des Vaters hänge, das ich bekränzt hatte. Ein eigentümlich gruseliges Gefühl quälte mich, bis ich aufgestanden war und – die Thür geschlossen hatte.
Wenn ich das dem Professor erzählen würde!! –
Heute war der Nachmittag so still und sonnig – die Mutter begleitete mich einmal wieder. Es war etwas früher als zu meiner gewohnten Zeit, der Professor daher noch nicht anwesend. Er kam aber, als wir uns eben entfernen wollten. Unter dem Arm trug er einen in Papier eingewickelten Gegenstand, der ein großes, aber nicht dickes Buch sein konnte.
„Ach –!“ rief er, als er meine Mutter bemerkte, „ich habe gewiß die Ehre, die Frau Geheime Rätin … hm, hm!“
Er kam natürlich nicht weiter, und ich nannte nun vorstellend unsern Namen. „Liebe Mutter, Herr Professor … hm, hm!“
Auch ich stockte und recht absichtlich, indem ich ihn zugleich fragend ansah. Er begriff, wenn auch nicht gleich in der ersten Sekunde, und ergänzte: „Professor Max Becker.“
„So erfahre ich bei dieser Gelegenheit doch auch Ihren Namen,“ konnte ich mich nicht enthalten, anzumerken.
Er schien sehr überrascht. „Hätte ich wirklich vergessen ...?“ stotterte er. „Dann kann nur die Bescheidenheit daran schuld sein, mein Fräulein. Wahrscheinlich glaubte ich, daß es Ihnen ganz gleichgültig wäre –“
„Lina hat mir erzählt,“ nahm meine Mutter nun das Wort, „daß sie Ihnen hier infolge der Nachbarschaft der Gräber öfters begegne.“
Er hatte, gleich als sie mit Nennung meines Namens begann, den Kopf aufgerichtet und die Augenbrauen hochgezogen. „Jawohl,“ bestätigte er, „Fräulein Lina war so gütig, mir zu gestatten, zu dieser mir besonders passenden Zeit – oder vielmehr sich durch mich nicht abhalten zu lassen, zu der ihr besonders passenden Zeit … Ich hatte jedenfalls wiederholt das Vergnügen, hier nicht allein sein zu dürfen.“
„Es hat mich sehr für Sie eingenommen,“ bemerkte die Mama, „daß Sie das Grab Ihrer Mutter so oft besuchen. Es ist mir ein Zeichen, daß Sie ihr gewiß ein guter Sohn waren.“
„Ach, wenn Sie die liebe Frau gekannt hätten –!“ rief er mit leuchtenden Augen. Zugleich zupfte er an dem Päckchen unter seinem Arm, indem er es vor- und wieder zurückschob und endlich nochmals vor. „Es war meine Absicht,“ sagte er dabei verlegen zögernd, „Fräulein Lina ihr Bild … Aber dazu ist nun wohl heute nicht die rechte Zeit und Gelegenheit –“
Ich sprach, wirklich angenehm berührt, meine Freude darüber aus, daß er das Bild, von dem die Rede gewesen, mitgebracht hätte. Da auch die Mama bat, sich durch ihre Gegenwart nicht behindern zu lassen, wickelte er die umrahmte Photographie aus dem Papier und hielt sie uns hin.
Ich blickte lange darauf. Vielleicht noch nie hatte mich das Bild eines fremden Menschen auf der Stelle so bekannt angemutet. Es wirkte wohl die offenbare Aehnlichkeit mit dem Professor mit – dasselbe schmale, scharfausgesprochene, geistige Gesicht, nur ins Weibliche übersetzt –, aber etwas wundersam Sinnendes in den Augen und ein bei aller Energie des Gesamtausdruckes unverkennbarer Zug von Milde und Güte um den sehr lieblichen Mund hätten mich in jedem Falle gefesselt. Ich fühlte, daß mir die Augen feucht wurden. Hier am Grabe … „O, das ist sie –!“ sprach ich unwillkürlich vor mich hin, und ehe ich meine Erregtheit meistern konnte, fiel eine Thräne auf das Glas.
Ich wollte sie abwischen, aber er griff eilig nach dem Bilde und betrachtete es mit freudig wehmütigen Blicken. „Ich danke [829] Ihnen,“ sagte er, „ich danke Ihnen, Fräulein Lina. Das behalte ich zum Andenken. Wenn sie Ihnen im Leben begegnet wäre – Sie hätten sie gewiß liebgewonnen. Wie herzensgut und klug sie war! Sie beide wären – trotz des Altersunterschiedes – Freundinnen geworden.“
Ich weiß nicht, wie mir geschehen war. Ich konnte mich einer ganz eigenen Rührung nicht erwehren, wendete mich ab und schritt langsam durch die Reihen der Gräber bis zum Hauptwege, ohne umzuschauen, meiner Mutter voraus.
Als mich die Mutter einholte, sagte sie: „Der Herr Professor läßt sich dir bestens empfehlen.“ Hatte er sich wirklich so ausgedrückt? Ich forschte nicht danach.
Ich ging so spät, daß ich erwarten konnte, den Professor nicht mehr anzutreffen. Aber er stand zwischen den beiden Gräbern und spähte unverwandt nach mir aus. Ich bildete mir’s wenigstens ein.
„Sie müssen mir von Ihrer Mutter erzählen,“ sagte ich, nachdem wir einander zur Begrüßung die Hand gedrückt hatten.
„Wie gern!“ antwortete er. „Darf ich sogleich –?“
Ich meinte, die Zeit wäre wohl schon zu weit vorgeschritten, ich hätte bald wieder gehen wollen. „Aber die Sonne ist noch nicht unter,“ wendete er ein, „und wir haben heute eine so warme, weiche Luft – ganz sommerlich. Morgen will der Gärtner bei mir den Rasen legen.
Meine Mutter war eine ganz ungewöhnliche Frau,“ begann er nach einer kleinen Weile, im Auf- und Niederschreiten. „Es wußte das niemand so gut als ich – sie hat eigentlich, so weit meine Erinnerung zurückreicht, nur für mich gelebt. Diese Beschränkung ihrer gesamten Lebensthätigkeit auf einen einzigen Menschen, der ihr verwandtschaftlich so nahe stand, könnte mein Urteil befangen erscheinen lassen, aber die näheren Umstände, unter denen sie sich diesem einen widmete, und die Art der Bethätigung rechtfertigen es doch vollkommen.
Sie müssen wissen, Fräulein Lina, daß sie die Tochter eines reichen Mannes, eines Kaufmanns, und im größten Wohlstand aufgewachsen war. Sie hatte die Erziehung und Ausbildung einer jungen Dame erhalten, die bestimmt ist, einmal selbst einem großen Hauswesen vorzustehen. Sie schlug aber alle Anträge reicher Bewerber aus und heiratete – sehr gegen den Wunsch ihres Vaters – einen ganz armen Artillerielieutenant. Er soll ein ausgezeichneter Mathematiker gewesen sein und auch in seinem militärischen Fach zu den besten Hoffnungen berechtigt haben. Leider fiel er, als ich erst drei Jahre alt war, beim Sturm auf die Düppeler Schanzen.
So schmerzlich ihr dieser Verlust war, sie durfte sich wenigstens jeder äußeren Sorge überhoben erachten. Kaum aber hatte sie sich notdürftig erholt, als ein neuer ganz unerwarteter Schlag sie traf. Ihr Vater hatte sich auf unglückliche Spekulationen eingelassen und machte, da er aus falschem Schamgefühl mit der Entdeckung zu lange zögerte, schmählichen Bankerott. Er glaubte seine kaufmännische Ehre für immer verloren und schoß sich eine Kugel durch den Kopf. Nicht nur hörte damit jede Unterstützung von Hause auf, meine Mutter gab auch ohne selbstsüchtiges Bedenken den Gläubigern die Kaution heraus, die bei Eingehung ihrer Ehe mit einem Offizier formgerecht gestellt war. Sie behielt neben einer kleinen Witwenpension nur das nicht bedeutende Vermögen, das sie von ihrer früh verstorbenen Mutter geerbt hatte und von dem ein beträchtlicher Teil überdies mit in den Konkurs fiel.
Sie hätte bei ihren zahlreichen Jugendfreundinnen, die fast sämtlich glänzend verheiratet waren, einen Anhalt gewinnen, unter Hinweis auf den Heldentod ihres Mannes die Verwendung hochgestellter Personen erbitten können, aber ein Gefühl stolzen Selbstvertrauens hielt sie ab, sich materieller Vorteile wegen in Abhängigkeit zu bringen. Sie verkaufte ihre kostbare Ausstattung und richtete sich ganz kleinbürgerlich ein; sie begnügte sich mit einer Aufwärterin und arbeitete sogar für Läden, ohne auch nur ein Geheimnis daraus zu machen. Es mit einem Wort zu sagen: sie lebte fortan nur noch für ihren Sohn, den sie abgöttisch und doch wieder sehr vernünftig liebte. Er sollte die beste Erziehung erhalten und seine Anlagen ganz nach Wunsch ausbilden dürfen. Sie wollte ihm, soweit das irgend möglich, den Vater zu ersetzen suchen und eine Lebensstellung sichern, in der ihn der Verlust des großväterlichen Vermögens nicht schwer zu bekümmern brauchte. Und das hat sie erreicht. Aber mit welchen Mühen und Sorgen!
Sie leitete meinen ersten Unterricht selbst. Dann brachte sie mich in die Vorklasse eines Gymnasiums. Sie arbeitete immer mit mir zusammen weiter, auch später, als ich Latein, Griechisch und Mathematik zu treiben anfing. Ich muß richtiger sagen: sie arbeitete mir immer voraus, um mir den Hilfslehrer entbehrlich zu machen. Auch als ich in den Schulwissenschaften schon so weit gefestigt war, mir selbst weiterhelfen zu können, nahm sie an allen meinen Beschäftigungen teil wie ein guter Kamerad. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich Student wurde. Dabei besorgte sie ihre kleine Wirtschaft mit peinlichster Ordnung und wußte sich so einzurichten, daß ich nie das Gefühl irgend welchen Mangels hatte oder auch nur meinte, im Vergleich mit Wohlhabenden etwas entbehren zu müssen. Meine Jugend war durchaus heiter.
Sie hielt sich durch ihre unbedeutende Pension selbst für alle Fälle genügend gesichert und verbrauchte für mich nach und nach ihr kleines Vermögen, indem sie so gut rechnete, daß es bei gehöriger Sparsamkeit auch für meine Universitätszeit und ein wenig darüber hinaus zureichen müßte. Ich würde vielleicht nicht studiert, sondern trotz meiner starken Neigung zur Philologie zu ihrer schnelleren Erleichterung ein praktisches Fach ergriffen haben, aber bei allem sonstigen fast freundschaftlichen Verhalten weihte sie mich in diese Verhältnisse nicht ein, um mir in der Wahl des [830] Lebensberufes die volle Freiheit zu lassen. Und ich war gar nicht bescheiden in meinen Ansprüchen. Ich wollte nicht Schulmeister, sondern Universitätsprofessor werden und mußte daher wünschen, Lehrer zu haben, die als Leuchten ihrer Wissenschaft galten. Dazu war ein häufiger Wechsel der Universität erforderlich. Meine gute Mutter sah leicht ein, daß ihre Mittel nicht ausreichen könnten, wenn wir eine getrennte Wirtschaft führten, und so entschloß sie sich, mich überall hin zu begleiten und selbst wie ein Student zu leben. Das ist ganz buchstäblich zu nehmen. Wir mieteten eine möblierte Stube, zu der ein Kämmerchen gehören mußte, in dem sie schlief. Wir aßen in billigen Speisehäusern, in denen Studenten zu verkehren pflegten. Wiederholt kam es auch vor, daß sie von meinen Bekannten, die sie auf diese Weise kennenlernte, gebeten wurde, ein ganzes Haus zu mieten und sie darin in Pension zu nehmen.
So verbrachte ich harmlos nicht weniger als zehn Semester in eifrigen Studien und meinte, noch immer nicht meinem wißbegierigen Drange genuggethan zu haben. Da sagte mir meine Mutter eines Abends, als ich wieder Reisepläne schmiedete: mein lieber Junge, es reicht nur noch für zwei Jahre; das bin ich dir schuldig, jetzt mitzuteilen. – Ich erschrak nicht wenig. Gewiß nicht über die Aussicht, nach so kurzer Zeit mittellos dazustehen, aber wohl über die plötzliche Enthüllung ihres eigenen, durch unglaubliche Opferwilligkeit herbeigeführten Notstandes. Es versteht sich von selbst, daß ich mich sofort zum Examen meldete – den ,Doktor‘ hatte ich schon vorher gemacht – und, nachdem ich es ihren Erwartungen entsprechend bestanden, mich um Probejahr meldete, nur noch auf eine baldige Anstellung bedacht. Aber das war gar nicht nach ihrem Sinn. Ich sagte dir doch, daß es noch für zwei Jahre reiche, schalt sie; warum also diesen kleinen Vorteil nicht ausnutzen? Sie ließ mir keine Ruhe, bis ich das Buch schrieb, das längst vorbereitet war, und mich als Privatdocent habilitierte. Von sich behauptete sie, nicht ausreichend beschäftigt zu sein, und eröffnete ein Pensionat, natürlich, um unser Einkommen zu verbessern. Ich wurde Professor. Seit ich, vor einigen Jahren schon, zum Ordinarius ernannt bin, konnte sie sich, ohne ihr Gewissen zu beschweren, zur Ruhe setzen.
Das war meine Mutter. Leider konnte sie sich nicht bis in ein hohes Alter hinein der Früchte ihres aufopfernden Fleißes, ihrer zärtlichen Sorge erfreuen. Nicht einmal der sehnliche Wunsch ist ihr erfüllt worden, die kleine Wirtschaft einem lieben Schwiegertöchterchen abtreten zu können. Mein Versunkensein in die Arbeit, mein geringes Bedürfnis nach geselligem Umgang, meine Ungeschicklichkeit … Ich will davon nicht reden. Solange ich sie hatte, vermißte ich auch nichts. Nun ist sie – hinüber, und ich fühle meine Verlassenheit um so schmerzlicher, als sie mir alles war. –“ Er wendete sich dem Grabe zu und faltete die Hände. „Mein gutes – gutes Mütterchen!“ murmelten seine Lippen kaum hörbar.
Seine einfache Erzählung hatte mich tief bewegt. Ich trat hinter ihn und legte die Hand leise auf seinen Arm. „Ich danke Ihnen,“ sagte ich, „Sie haben mir wohlgethan.“ Er griff nach meiner Hand und küßte sie. „O, daß ich Ihnen von ihr sprechen durfte –!“ rief er und nickte mir freundlich zu.
Es war schon recht dunkel geworden. Ich ging, und er folgte mir diesmal. Wir schritten schweigend nebeneinander den Hauptweg hinab und zur Pforte hinaus. Auch dann verabschiedete er sich nicht. Er fing nun von einer großen Arbeit zu erzählen an, die er unter Händen hätte, und wie seine Mutter verständnisvoll sich über deren Fortschritt gefreut. Im Eifer schob er seinen Arm unter den meinen. Ich mochte wohl ein wenig gezuckt haben, denn er bemerkte: „Verzeihen Sie, Fräulein Lina – ich pflegte so mit meiner Mutter zu gehen. Die alte liebe Gewohnheit …“ Er zog die Hand auch nicht zurück. Vor unserem Hause blieb ich stehen und machte mich frei. Er blickte mich verwundert an. „Ich wohne hier.“
„Sie wohnen hier? Was ist denn das für eine Straße? Ah, richtig! Und die Nummer? Elf. Das will ich mir doch merken.“
„Adieu, Herr Professor!“
„Adieu, mein liebes Fräulein. – Elf – elf – elf …“
Ich muß ihm viel von meinem Vater erzählen. Er kann gar nicht genug davon haben. Mir selbst macht’s Freude. Ich schildere ihn in seiner launigen Art bei allen kleinen Wechselfällen des häuslichen Lebens und suche mir seine Worte genau ins Gedächtnis zurückzubringen. Es werden lauter Anekdoten daraus. Es mischt sich aber auch gar viel Rührendes ein. „Sie haben seinen Humor geerbt,“ bemerkte der Professor mehr als einmal.
Aus einem alten Vorrat von Visitenkartenphotographien brachte ich ihm ein Blättchen mit. Er fragte gleich eifrig, ob er’s behalten dürfe; er möchte das gute, freundliche Gesicht immer gegenwärtig haben. Ich freute mich darüber und ließ ihm das kleine Bild gern.
„Wie verschieden die beiden waren, die hier friedlich nebeneinander ruhen,“ sagte er auch. „Und doch wären sie gewiß gute Freunde geworden. Meine Mutter brachte es nicht so heraus, aber es war auch ihre Weise, die Dinge nicht schwer zu nehmen und für alles Widersprechende und Widerstrebende im Gemüt einen Ausgleich zu suchen. Hell zu lachen gelang ihr selten, aber aus ihren Augen blickte immer der Sonnenschein, von dem ihr Herz voll war.“
Manchmal bin ich mir ganz böse, daß ich so bald schon an des Vaters Grab gar nicht so traurig bin, als ich gemeint hatte, mein ganzes Leben lang sein zu müssen. Daran ist einzig und allein der Professor schuld, der sich aber den gleichen Vorwurf macht.
Heute sagte ich ihm, daß wir uns nun wohl in längerer Zeit nicht mehr auf dem Friedhof treffen würden. Die Sonne gehe schon so früh unter, daß ich eine andere Stunde wählen müsse, in der er jedenfalls beschäftigt sei. Darüber sprach er sich ganz unglücklich aus – mit Worten, die er gar nicht recht bedacht haben konnte. Das wenigste war noch, daß er mit dem ernstesten Gesicht versicherte, der Tag, an dem er mich nicht sehe und spreche, zähle für ihn schon gar nicht. Er beschwor mich, von diesem „entsetzlichen Beschluß“ abzustehen. Ich sei ja in seinem Schutz, und er verpflichte sich, mich jedesmal nach Hause zu bringen.
Ich konnte nur wiederholen, was ich schon gesagt hatte. Es that mir aber selbst recht leid, daß ich mich so streng beweisen mußte. Die Mutter hatte sich schon genug über meine Friedhofsbesuche im Halbdunkel verwundert. Er begleitete mich auch diesmal bis zu unserer Wohnung und hätte offenbar das Gespräch an der Hausthür gern noch ein Viertelstündchen fortgesetzt. Er nahm ganz gerührten Abschied.
Ich denke … Aber das schreibe ich lieber nicht hin.
Wir waren vorgestern am Vormittag auf dem Friedhof. Gestern tobte ein abscheulicher Sturm; die Mama ließ mich auch nicht allein fort. Heute aber hatte das Wetter sich wieder ziemlich abgestillt; es war nur recht empfindlich kalt.
Als ich in den Weg zum Grabe einbog, kam mir der Professor mit raschen Schritten entgegen, die Arme ausbreitend, als ob er mich umfassen wollte. „So hab’ ich doch nicht umsonst gewartet!“ rief er. „Zu irgend einer Zeit mußten Sie doch kommen – und ich wäre geblieben bis zur letzten Viertelstunde vor dem Kolleg. Wissen Sie, daß ich schon gestern abend bei Ihrer Frau Mutter anklopfen wollte?“ fragte er dann verlegen lächelnd. „Aber ich fand das Haus nicht. Wirklich, ich fand das Haus nicht. Ich habe immer, wenn ich mit Ihnen ging, zu wenig darauf geachtet – und eins sieht in der Straße wie das andere aus.
„Aber eins hat doch nur die Nummer elf.“
„Elf!“ rief er. „Ganz recht, nun fällt mir’s ein, daß Sie mir sagten … Aber wer denkt an so etwas, wenn er seiner Sache ganz sicher zu sein glaubt?“
An den Gräbern, deren Rosen die Sonne hell beschien, fand er, daß sich zu dieser Jahreszeit wirklich der Besuch am Mittag empfehle. „Im Frühling am Morgen,“ setzte er hinzu. „Ich stelle mir’s ganz reizend vor, hier die Sonne über die Dächer und Türme der Stadt aufsteigen und rings um die Ruhestätten der Toten die Natur erwachen zu sehen. In den Büschen, Hecken und Laubkronen singen gewiß hier die Vögel ganz ungestört. Man wäre für den ganzen Tag gestärkt.“
„Ich könnte mir’s recht hübsch denken,“ entgegnete ich, „aber –“ … Ich zögerte ein paar Sekunden lang, ob ich’s heraussprechen sollte, was mir plötzlich in den Sinn kam. Warum? Und warum nicht? Ich that’s. Wer könnte wissen, ob ich im Frühjahr noch hier sein würde, oder auch nur so in der Nähe. [831] daß ich mir häufiger die Freude eines Besuchs gönnen könnte – zumal am frühen Morgen.
Die Wirkung dieser Worte auf den Professor war fast beängstigend. Von seinem Gesicht ließ sich die Anstrengung ablesen, sie zu verstehen. Dann richtete er auf mich einen erschrockenen Blick, stieß ein paar Laute aus und räusperte sich, als ob ihm der Hals zugeschnürt sei. „Sie – wollen fort – Fräulein Lina –?“ stotterte er.
„Ich will nicht,“ antwortete ich, „aber ich weiß nicht, ob ich nicht werde müssen. Meine Mutter sprach von der Notwendigkeit, nach einer kleinen Stadt zu ziehen.“
„Das ist ja rein unmöglich!“ rief er. „Und weshalb –?“
Ich machte ihn vorsichtig mit unsern Verhältnissen bekannt. Wenn man auf ziemlich großem Fuß gelebt habe und sich plötzlich sehr einzuschränken genötigt sei, empfehle sich’s vielleicht, wenigstens für eine Weile, den Leuten ganz aus den Augen zu gehen. Aber ein fester Entschluß sei noch nicht gefaßt.
Er nahm den Hut ab, als würde ihm heiß, und wiegte den Kopf, immer von Zeit zu Zeit nach mir hinüber blickend. „ So – so – so – so … Das habe ich gar nicht geahnt, daß Sie – daß Sie gewissermaßen in bedrängter Lage – Ja, wenn man in hoher amtlicher Stellung – und ohne Vermögen …“
Ich leitete das Gespräch auf ein anderes Gebiet über. Er blieb aber nachdenklich und zerstreut. Als ich mich bald verabschiedete, vergaß er sogar, mir die Hand zu reichen. Es schien ihm auch gar nicht einzufallen, mir seine Begleitung anzubieten.
Ob ich dem Professor unrecht thue? Er war wirklich gestern recht sonderbar. Wie man zu sagen pflegt: mit kaltem Wasser begossen. Ein armes Mädchen –! darauf war er nicht vorbereitet. – Ich verspätete mich heute absichtlich. Aber es war keineswegs nötig. Er mußte schon viel vor der Zeit gekommen und gleich wieder fortgegangen sein. Ich fand auf dem Rasen, durch einen kleinen Stein beschwert, einen mit Bleifeder geschriebenen Zettel: „Muß heute leider ausbleiben: ein Doktorexamen beansprucht mich wahrscheinlich über Mittag hinaus. Ehrerbietigsten Gruß.“
Kein Zweifel, die Abhaltung war nicht vorgeschützt. Er konnte auch erst am Abend erfahren haben, daß er bei dem Examen thätig sein müsse. Vielleicht war ein Kollege plötzlich erkrankt. Und doch, es verstimmte mich, daß gerade heute … Als ob dabei eine Absicht gewesen wäre. Das Entschuldigungsschreiben war auch so kühl gehalten. Knapper konnte der Grund des Fortbleibens gar nicht angegeben werden. Und ohne jede Anrede – er schien sonst ein rechtes Vergnügen daran zu haben, überall recht überflüssig sein „Fräulein Lina“ einzufügen – und „ehrerbietigsten Gruß“. Ehrerbietigsten! Wie an eine Respektsperson. Nicht einmal eine Unterschrift.
Ja, eine arme Geheimratstochter …
Unsinn! Unsinn! und nochmals Unsinn! Erstens: was geht es mich an? Und zweitens – es war doch recht liebenswürdig, daß er sich abmeldete und mit dem Zettel dorthin lief, so wenig Zeit er gewiß hatte. Er mußte wohl auch an die Möglichkeit denken, daß die Schrift in unrechte Hände kam; da beschränkte er sich auf das Notwendigste und schloß mit einer höflichen Verbeugung. Zu nennen brauchte sich mir ja der Schreiber nicht. Das wird er gewiß bedacht haben.
Auf Vaters Grabe lag ein prächtiger Blumenstrauß. „Der gehört dorthin,“ sagte ich und zeigte auf den andern Hügel.
„Nein, er gehört dorthin, wo er liegt, Fräulein Lina,“ antwortete er mit komischer Schneidigkeit. „Ich weiß nicht, ob Sie ihn angenommen haben würden, wenn ich ihn Ihnen überreicht hätte. Aber dagegen werden Sie doch nichts einwenden können, daß ich als ein Zeichen wärmster Verehrung für – für – für … nun ja, für Sie – das Grab des Mannes schmücke, der Ihnen im Leben der teuerste war. Ich glaube wenigstens annehmen zu dürfen, daß kein anderer …“ Die Stimme wurde plötzlich leise und unsicher, die Stirne rot. „Thun Sie mir die Liebe, Fräulein Lina, und lassen Sie den Strauß da – verwelken.“
„Sie haben recht,“ erwiderte ich, „keiner war mir teurer als er. Herzlichen Dank!“ – Ich reichte ihm die Hand, und er küßte sie übereifrig. Er schien sich sehr erleichtert zu fühlen.
„Das war gestern ein schlimmer Tag,“ fuhr er fort. „Ich glaube, ich habe dem armen Kandidaten Fragen vorgelegt, die ich selbst nicht hätte beantworten können. Was mir aber auch im Kopf herumging –! Fräulein Lina – Sie müssen noch einmal recht eindringlich mit Ihrer Frau Mutter sprechen. Sollte es denn wirklich durchaus nötig sein, daß Sie – von hier fort …“
Es sei ja noch keine endgültige Entscheidung getroffen, entgegnete ich, wennschon sie sich nicht lange werde aufschieben lassen. Jedenfalls könne ich nun darüber beruhigt sein, daß des Vaters Grab in bester Obhut zurückbleibe.
„Ach – das!“ rief er ganz ärgerlich. Das verstände sich ja von selbst – das! „Als ob er mein eigener Vater –! Aber–! Aber …“ Er setzte sich unvermutet in Bewegung, ging einige Schritte vor, kehrte zurück, umkreiste die beiden Hügel, trat endlich zwischen sie, wo ich stand, und ergriff meine Hand. „Fräulein Lina – gäb’s denn kein Mittel, vorzubeugen, daß ein so bedauerlicher Beschluß – jemals – gefaßt werden könnte?“
Ich zuckte die Achseln.
„Aber ich wüßte eins! Jetzt, wo Sie mich freundschaftlich in Ihre Sorgen eingeweiht haben – jetzt wüßte ich wohl eins. Freilich, es forderte Ihrerseits ein großes Opfer. Ich kann es nur nennen, weil ich bedenke, wie schwer es Ihnen fallen würde, das Grab Ihres teuren Vaters zu missen. Vielleicht … Ja, ich nenne es: Wenn Sie sich mit mir verheirateten –“
„Herr Professor!“ unterbrach ich ihn, wirklich erschreckt über diese sonderbare Liebeserklärung.
„Ja, ich weiß, ich weiß,“ eiferte er weiter und zerdrückte dabei fast meine Hand. „Es wäre ein großes Opfer. Ich bin so viel älter als Sie – und wirklich schon recht alt. Jedenfalls über meine Jahre alt – und häßlich – und ein Mensch, der immer hinter seinen Büchern gesessen hat und so wenig Anlage besitzt, das Leben gesellig zu genießen, und der nicht einmal mit Glücksgütern gesegnet ist. Und Sie dagegen – abgesehen davon, daß Sie auch nicht mit Glücksgütern gesegnet sind, was Ihnen aber gar nichts schadet – Sie dagegen, Fräulein Lina …“
Ja, was er nun von mir sagte, das kann ich gar nicht aufschreiben. Es war aber sehr schmeichelhaft für mich, und er mußte wohl merken, daß ich gar nicht böse darüber wurde, denn er steigerte seine Lobeserhebungen fortwährend und sprach zuletzt mit immer vergnügterem Gesicht wirklich nur noch dummes Zeug.
„Aber, mein Himmel!“ fiel ich zuletzt ein, „wenn Sie das alles, was Sie da sagen, für wahr halten – – am Ende lieben Sie mich dann wohl gar?“
Er war ganz Staunen. „Das sprach Ihres Vaters Tochter!“ rief er. „Das Wichtigste ließ ich ungesagt – freilich auch das Selbstverständlichste. Natürlich liebe ich Sie – und wie keinen Menschen auf der Welt! Es ist, als ob Sie an Stelle meiner Mutter … Nein, ganz anders, ganz anders – aber ganz anders. Ob Sie jedoch, Fräulein Lina – – – – – – –“
Ich habe nicht die Geduld, die Begebenheiten dieses merkwürdigen Tages in allen Einzelheiten aufzuschreiben. Ich erinnere mich auch nicht mehr, was ich weiter gesprochen habe und was er. Ich weiß auch nicht, wie es kam, daß wir einander plötzlich in den Armen lagen, unbekümmert darum, ob man uns etwa beobachtete, und wie man’s auslegte. Einen Augenblick nur. Dann waren wir ganz vernünftig und hielten einander nur noch bei den Händen, lachten und weinten. – „Soll sie’s gleich wissen?“ fragte er. Ich wußte, wen er meinte, und nickte.
Und dann gingen wir bei hellem, lichtem Tage Arm in Arm über die Straße nach Hause.
Die Mama war gar nicht so überrascht, als ich voraussetzte, aber tief gerührt, nun sie ihren Segen gab. – „Ja, ja – Ehen werden im Himmel geschlossen,“ sagte sie.
„Wenn der Papa das erlebt hätte!“
„Und meine Mutter –!“
Ich lehnte mich an seine Brust. – „Aber das war ja unmöglich, Max! Zwischen Gräbern haben wir uns fürs Leben gefunden.“