Zwerge (1893/39)
Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]
a.. Der Zaunkönig
Einer unserer volksthümlichsten Vögel ist der Zaunkönig, der uns
nicht bloß im Schatten der Wälder an Bächen, in Schluchten
und an Teichen, in Feldgehölzen und an umbuschten Rainen unmittelbar
am Walde begegnet, sondern auch in unseren Feldgärten,
in den Zäunen und Hütten unserer Hausgärten, in Oekonomiegebäuden
und im heimlichen Düster der epheumrankten Burgmauern.
Die Ebene wie das Gebirge, die Einsamkeit wie die
bewegten Städte und Dörfer beherbergen den kleinen, kecken, ewig
munteren, launigen Gesellen, der eine charakteristische Figur bildet
durch das hochgetragene, im Affekt über die senkrechte Stellung
emporgerichtete Schwänzchen und seine häufig wiederholten Bücklinge,
welche bei lebhafter Erregung von dem allbekannten Laute
„Zerr“ begleitet sind. Wer hat den gewandten Burschen nicht
schon durch Gestrüpp, aufgeschichtetes Holz, durch Wirrsale aller
Art, durch Löcher und Mauerritzen geschickt hindurchschlüpfen sehen,
wer fand sich nicht gleichsam geneckt von dem kleinen Schelme,
der wie ein versteckspielender Knabe bald hier bald dort hervorlugt,
rasch verschwindet und auf geheimen Wege in einiger Entfernung
wieder zum Vorschein kommt! Da sitzt das Kerlchen,
der Kleinste unter dem europäischen Vogelgeschlecht, auf der Oberseite
in einem Kleide von dunkelrostbraunem Grunde, über den
schwärzliche Querstreifen laufen, mit bräunlich-weißer Brust und
Bauchmitte, am übrigen Körper hellroth-grau oder blaßroth-gelblich
gefärbt, überall aber mit verloschenen dunklen Querlinien,
namentlich auf den Seiten des Leibes und an den unteren
Schwanzdecken, versehen. Nimmermüde Unruhe und rastloses
Suchen nach Nahrung bilden einen Grundzug seines Wesens.
Jetzt fliegt das Zwerglein einer andern Stelle zu. Seine kurzen
runden Flügel lassen es nur schwerfällig in schnurrendem Flug
dicht am Boden hin weiterflattern. Selten erhebt sich sein
Flug zu den oberen Baumkronen, nur die Minne treibt es zur Höhe.
Schon im Februar scheint das kleine Herzchen ein Vorgefühl von Lenz und Liebe zu verspüren, denn wir hören an sonnenhellen Tagen, selbst mitunter bei Schnee, den männlichen Zaunkönig vom hohen Dachfirst aus sein hübsches Kanarienvogelliedchen in verkürzter Ausgabe vortragen, wobei sich das Schnäbelchen dem leuchtende Himmel zurichtet. Kommt aber erst der März, dann nimmt der Zwergkönig öfter den hohen Thron ein und wirbt mit größerer Kunstentfaltung, mit höflicheren Verbeugungen und schmeichelnderem Gebahren um die tiefer und bescheidener sich haltende Gefährtin. Das verliebte Hähnchen bietet einen wahrhaft possierlichen Anblick. Bolzenartig aufgeblasen, scheinbar flügellahm, zitternd, mit aufgerichtetem Schnabel liegt es gleichsam flehend dem Gegenstand seiner Wünsche gegenüber und stößt unter Zuckungen seine Sehnsuchtslaute aus. Zur Zeit der Minne beobachtet man bei dem Männchen eine eigenthümliche Beschäftigung. Es baut sich besondere Wohnungen, die theils unvollendet bleiben, theils mehr ausgeführt und sehr fest gefügt erscheinen. Wir haben solche ganz von grünem Moos verfertigte Nester sehr häufig gefunden und niemals ein Polster darin entdeckt; auch sind sie kleiner als die spätere Familienwohnung. Offenbar handelt es sich hier nur um wohlige Spielereien des Männchens, die sofort aufhören, wenn das Weibchen in der Stille ein Plätzchen zur Anlegung des Familiennestes erwählt und den Gefährten zur Theilnahme zugezogen hat. Nun gehört die ganze Thätigkeit des geschäftigen Zwergpaares der wichtigen Bauarbeit.
Der Zaunkönig ist ein recht vielseitiger Baukünstler. Wir wissen von einem Neste zu erzählen, welches einzig und allein aus Platanenblättern und Spinnweben bestand und an die senkrechte Wand einer Brücke mit Vogelspeichel als einzigem Bindemittel fest angeheftet war. Ein anderes Nest sahen wir an dem Rain einer alten Steinkaute (Steinbruch) kunstvoll angebracht. Als ovaler Beutel hing es an der wurzelreichen Lehm- und Steinwand. Die Hauptstoffe bildete Moos mit durchgeflochtenen Halmen und Bastschnüren. Inwendig fanden wir ein Polster von hellgelben Hahnenfedern. Verhältnißmäßig groß wie das Nest sind auch die 6 bis 8 rundlichen gelblich-weißen Eier, die mit kleinen rothbraunen und blutrothen Pünktchen bedeckt sind. Eigenthümlich ist die Art und Weise, wie die Eltern zuweilen die ihnen zu lange im Neste verbleibenden Jungen herausnöthigen; sie zerren an ihnen herum, bis die Kleinen nach und nach dem Neste entfliehen und nun irgendwo in der Nähe desselben eine anmuthige Familie mit den Alten [665] bilden. Nach mehreren Wochen wandelt schon jedes für sich seine eigenen Wege.
Durch alle Altersstufen besteht ihre Nahrung aus Kerbthieren, die sie von Blättern, Zweigen, vom Boden, aus Mauerspalten, Löchern, unter Rindenblättchen hervor erbeuten. Namentlich lieben die Zaunkönige Spinnen; die ihnen ja auch in ihren Schlupfwinkeln in Menge begegnen. Als treue Anhänger bestimmter Oertlichkeiten wiederholen sie täglich fast dieselbe Wanderung. An den Meisenzügen nehmen sie einen gewissen Antheil, indem sie ihnen in der Tiefe, an Hecken und Büsche sich haltend, eine Zeit lang folgen, dann aber hinter den Weitereilenden zurückbleiben. Auch im Herbste suchen sie gerne die Gesellschaft beerenfressender Vögel, aber doch immer nur so, daß sie in sehr losem Verband mit ihnen stehen.
Der Zaunkönig bleibt uns auch im Winter treu, und erfreut uns durch seine Beweglichkeit und Heiterkeit, die ihn nicht verlassen trotz aller Ungunst der Witterung.
Auch die Goldhähnchen sind Zwerge, denn ihre Größe stimmt mit der des Zaunkönigs überein. Auch sie sind schlanke niedliche Geschöpfchen, welche von der Natur mit der Unruhe und Flinkheit der Meisen ausgestattet sind, bald oben, bald unten auf den Bäumen alles durchsuchen und in Stellungen jeglicher Art sich sehen lassen. Das Nadelholz wird immer von ihnen bevorzugt, hauptsächlich die Fichte. Selbst in Gärten ober Parkanlagen nistet das Goldhähnchen, wenn ihm ein Fichtenwäldchen oder auch nur einzelne Fichtenbäume sich bieten. Man kennt zwei Arten, die sich äußerlich durch die Färbung unterscheiden.
Das „safranköpfige Goldhähnchen“ hat eine zeisiggrüne Oberseite, olivenbräunlich-weiße Schläfen und Halsseiten, hellere Augenbrauenstreifen und eine ebenfalls etwas heller gefärbte Stirne. Inmitten des Scheitels läuft ein safrangelber, nach den Seiten ins Hochgelbe übergehender und endlich schmal schwarz eingefaßter Streifen. Auf den Flügeln treten zwei helle Binden hervor.
Das „feuerköpfige Goldhähnchen“ trägt oberseitig ein dunkleres und lebhafteres Grün, ist an den Halsseiten orangegelb, an der Stirn rostbraun, hat einen schwärzlich-grauen Augenrand sowie einen gleichfarbigen Strich durch das Auge und unter demselben. Der feuerrothe Scheitelstreifen, welcher auf beiden Seiten in Feuergelb übergeht, wird von dem Vögelchen in der Erregung gelüftet und bietet dann in seiner Entfaltung und Verbreiterung einen entzückenden Anblick. Beide Arten unterscheiden sich auch noch insofern, als die erste im Winter bei uns bleibt, die zweite nicht.
Während der Minnezeit leben die Goldhähnchen abgeschlossen zu Paaren. Betritt man im Frühling ein Fichtenwäldchen, worin sie herbergen, so vernimmt man die feinen Locktöne und vor allem die trillerartige Gesangsstrophe des feuerköpfigen Hähnchens. Die Vögelchen geben sich voll und ganz dem Genuß der heiteren Sonnentage hin und umtrippeln mit gesträubten Kopffedern, hängenden Flügeln und hochaufgerichtetem Oberkörper die Gefährtinnen. Oefters entsteht auch Eifersucht, Zank und Streit unter den verliebten Hähnchen, welche sich begegnen. Ihre Bewegungen sind immer gewandt, flink, anmuthig. Allerliebst sieht es aus, wenn ein Vögelchen einem Insekt bis in die Tiefe, ja bis auf den Boden nacheilt, um es zu ergreifen, oder wenn es in der Luft vor dem Zweige flatternd stehen bleibt. Geschickt wissen die Zwerge sich im Gezweig zu decken oder unter dasselbe zu flüchten. Unaufhörlich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, sind sie thätig im Erspähen und Vertilgen der Nahrung, die in Mücken, Fliegen, Käferchen, glatten Räupchen, Spinnen, sowie in Kerbthiereiern und -Puppen besteht. Tannen-, Fichten- und Kiefernsamen verschmähen sie jedoch auch nicht; wenn diese Samen im Winter das safranköpfige Goldhähnchen nicht ernährten, so würde es sicherlich ein Opfer der strengen Jahreszeit werden.
Auch diese Zwerge sind wie die Zaunkönige geschickte Baumeister, ihre Nester sind so kunstvoll gebildet, daß wir an ihnen nicht vorübergehen dürfen.
In der Regel bringt das Goldhähnchen das Nest an dem Zweig eines Nadelbaumes, zuweilen jedoch auch an dem einer Esche an. Dabei verfährt das Weibchen, welches die Bauarbeit allein übernimmt, sehr vorsorglich, indem es zur Deckung der Wohnung überhängende Zweige benützt. Um den Anfang zu dem Hängeneste zu machen, zieht es einige benachbarte Zweige zusammen und umschlingt sie mit Moos und Raupengespinsten. Nun begiebt es sich an die dicken Aeste und Stämme der Bäume, um das Baummoos loszuzerren, oder es läßt sich auf dem sonst streng gemiedenen Boden nieder, um sich Erdmoos anzueignen, oder es verschmäht beiderlei Moos und wählt nur Flechten von den Bäumen aus, um sie zu einem ballförmigen Neste zu verwirken. Um die Stoffe miteinander zu einem festen Gefüge zu verbinden, wendet die Künstlerin wiederum Gespinste von Raupen und Spinnen in Menge an, außerdem aber den zu dieser Zeit reichlich vorhandenen Speichel seiner angeschwollenen Drüsen. Blätter und dürre Grasstengel findet man häufig unter das Moos [666] gemengt. Der Nestrand erscheint stark nach innen gewölbt und läßt der Oeffnung nur eine Weite von etwas über 2 cm Durchmesser. Die Breite des ganzen Nestes beträgt ungefähr zwischen 9 und 10 cm, die Höhe 7 bis 8 cm, die Dicke der Wand über 2 cm, wovon etwa die Hälfte auf ein Polster aus Rehhaaren, kleinen Vogelfedern und dem Flaum junger Raubvögel entfällt. In Haus- und Feldgärten fanden wir auch Pferdehaare im Innern von Goldhähnchennestern, und einmal machten wir die merkwürdige Entdeckung, daß ein junges Goldhähnchen sich mit den Halse in die Pferdehaare verwickelt hatte und so eines elenden Todes durch Erdrosseln gestorben war.
Zweimal im Sommer nisten die niedlichen Thierchen, und das Weibchen legt das erste Mal 8 bis 10, das zweite Mal 6 bis 8 Eierchen, die bei gelblich-grauweißem oder hell fleischfarbenem Grundton lehmgrau punktiert sind, und zwar namentlich reich am stumpfen Ende.
Von der sorgfältigen Pflege, welche den Jungen im Neste zu theil wird, und von der Emsigkeit, mit der die Nahrung von den Alten herbeigeschafft wird, erhält nur der genaue Beobachter einen wahren Begriff. Unermüdlich geht der Flug der Eltern in Pausen von wenigen Minuten ab und zu, wobei Vater und Mutter gewöhnlich miteinander abwechseln. Kehrt das Männchen oder Weibchen mit Futter beladen zurück, so sucht es erst Deckung durch Aeste und Zweige, um den Platz des Familienheiligthums nicht zu verrathen. Und immer sind die Pfleger darauf bedacht, mehrere Insekten in ihren Schnäbelchen anzusammeln, ehe sie den Jungen das Futter zutragen. Haben sie eine ergiebige Quelle von Kerbthiereiern entdeckt, so picken sie wohl hundertmal, bis sie mit der Ausbeute sich zufrieden geben und an die Ablieferung denken. So betreiben sie das Geschäft der Fürsorge für ihre Nestjungen in treuer Hingebung, und sie setzen es nicht minder emsig fort, wenn die niedlichen Geschöpfe ausgeflogen sind und in der ersten Zeit noch abends an ihre Geburtsstätte zum Uebernachten zurückkehren. Ja dann verdoppelt sich der Eltern Eifer; denn sie haben ja nun auch noch auf Schutz und Anleitung der unerfahrenen Jugend zu denken.
Nach der zweiten Brut mischen sich die vereinigten Familienglieder in kleineren Gruppen unter die umherziehenden Meisen. In der Regel kommen sie hinterdrein gezogen, ihre Ankunft mit feinem „Sississi“ verkündend; wohl wären sie geneigt, an einem Plätzchen etwas länger zu verweilen, aber der Trieb des Umherschweifens, welcher ihre unruhige Gesellschaft beherrscht, ergreift auch sie und reißt sie mit fort.
- ↑ Vergl. „Die Gartenlaube“ 1893, Nr. 25.