Zweimal gelebt
Zweimal gelebt.
Wärst Du selbst mir aus dem Grab gesandt!“
(Goethe, Braut von Korinth.)
Die nordische Novembernacht erreicht ihren Höhepunkt von Unheimlichkeit, Frost und Nässe in London, wo der weltbekannte Nebel sich wie ein großes Leichentuch über Strom und Straßen breitet. Die Themsestadt im Spätherbst, nach Mitternacht, gewinnt ein förmlich gespensterhaftes Ansehen. Sobald die gasstrahlenden Magazine geschlossen, verwandelt sich die Residenz in den vollständigen Schauplatz jener haarsträubenden Gauner- und Mordgeschichten, in denen Jack Sheppard’s „Nebelritter“ eine so wichtige Rolle spielen. Besonders ist gewissen Stadtvierteln eine so schauerliche Stille, eine so trostlose Oede eigen, daß der vereinzelte Nachtschwärmer sich eines unwillkürlichen Grauens nicht erwehren kann, muß er sie in später Stunde passiren: kein erleuchtetes Fenster weit und breit; hier und da, in großen Entfernungen, schimmern bleiche Laternen spärlich durch die bleigraue Atmosphäre; der Pfiff des Wächters tönt nicht bis dahin; kein Wagen rollt vorüber – nur die dumpfen Schläge einer Thurmuhr unterbrechen mit geisterhaftem Dröhnen die Todtenstille, nur auf den hohen Dächern seufzen die alten Wetterfahnen gar kläglich im Winde. „Das ist die wahre Spukezeit der Nacht,“ sagt der Engländer mit Hamlet, hüllt sich fröstelnd in den naßbestäubten Mantel, umschließt kräftiger den bleigefüllten Knopf des Stockes und eilt mit seinen „langen Hacken“ so schnell als möglich eine belebtere Gegend zu erreichen.
Solch eine öde und traurige Straße ist die Bond-Street. Obgleich zahlreich bewohnt, herrscht doch auf ihren Wegen und Stegen eine auffallende Oede, die, je später es wird, um so mehr zunimmt. Gerade deshalb wird sie gern von Gelehrten und Aerzten bewohnt, die sich dort ungestört den Studien überlassen oder sich von ihnen ausruhen können, und dem Forscher, dem Nimmermüden, ist solch eine lange, klamme Novembernacht gerade willkommen, wo er bei der Lampe hinter dichtgeschlossenen Läden über sein Werk sinnt und brütet.
Einer dieser rastlos Thätigen wachte um zwei Uhr gegen Morgen in einem zweistöckigen Hause der obengenannten Straße. Es war ein warmes, trauliches Gemach, vom gedämpften Schein der Arbeitslampe erhellt; auf grünseidner Tapete hingen werthvolle, alte Oelgemälde in geschnitzten Rahmen aus Ebenholz; längs den Wänden liefen Bücherbreter, die Tausende von schweren Bänden enthielten; aus den dunkelüberzogenen Möbeln, über den moosfarbenen Teppich gestreut, lagen Manuscripte, einzelne Hefte von Zeitschriften und Broschüren. Da war im ganzen Zimmer kein trivialer Gegenstand, wie Nippes und dergleichen, zu sehen; jedes Einzelne gediegen, von einem gebildeten Geschmack geprüft. Dennoch fehlte jene Anmuth, welche die Nähe eines weiblichen Wesens verräth; Alles war zu dunkel, zu ernst, wie gewöhnlich in Wohnungen, wo Männer allein haushalten. Besonders ließ das Menschengerippe neben dem Schreibtisch darauf schließen, daß der Eigenthümer des Studirzimmers unumschränkter Herr in seinen Räumen sei, denn ohne Zweifel hätte das schöne Geschlecht sich gegen die Anwesenheit des Skelets aufgelehnt. Vielleicht auch gegen die wilde Unordnung, mit welcher chirurgische Instrumente, Phiolen, kleinere und größere Schädel auf den Tischen und Stühlen umherlagen.
Aber ein ordnungsliebendes Weib gab es nun einmal im ganzen Hause nicht, denn der schöne, blasse Mann im schwarzsammetnen Hausrock, der dem Gerippe gegenüber saß, war unverheirathet bis an sein achtunddreißigstes Jahr gekommen. Wie so viele berühmte Männer hatte er, der erste Anatom Londons – dessen Vorlesungen und vielfältige Schriften die höchste Anerkennung genossen – zur Liebe keine Zeit, vollends zum Heirathen keine Neigung gehabt. Seine Feuerphantasie, seine kühnen Ansprüche hatten ihn niemals finden lassen, wovon er in seinen Mußestunden träumte.
In Studien vertieft, führte er, unberührt von der Gesellschaft, sein anstrengendes Leben, wie sehr man es auch bedauerte, daß Oliver bei seinem interessanten Aeußern, dem bedeutenden Vermögen, das sich täglich vergrößerte, so wenig mit der Welt verkehrte. Aber selbst in dieser Zurückgezogenheit übte er einen entschiedenen Zauber auf die Londoner; man erzählte sich, manchen großmüthigen, genialen Zug von ihm; er imponirte den Männern durch seine Kenntnisse, und die Frauen verehrten ihn wie einen „wunderthätigen Magus“.
In jener Nacht schienen Oliver’s Gedanken nicht so ausschließlich wie sonst bei seinen Manuscripten – deren er eins corrigirte – zu verweilen; vielmehr fuhr er öfters hastig von der Arbeit auf, blickte zerstreut nach der Thür, legte die Feder aus der Hand und neigte horchend den Kopf. Hatte er während einiger Secunden gelauscht, so zog er seine Uhr und behielt sie beim Weiterschreiben in der Hand.
Endlich erhob er sich und ging mit untergeschlagenen Armen [290] durch das Zimmer … bald darauf sank er von Neuem in den Stuhl und spielte, ein Raub nervöser Unruhe, mit den Fransen der Armlehne.
„Wie lange das dauert!“ sprach er ungeduldig und riß, ohne es zu wissen, ein Stück Franse von seinem Armsessel.
Kein Gegenstand eines Stelldichein kann sehnsüchtiger erwartet werden, als Oliver zu warten schien. Immer mehr nahm seine Aufregung zu … sein Athem ging sehr kurz … er wischte sich den Schweiß von der brennenden Stirn … …
Da klingelte es leise. Mit der Schnelle des Gedankens stieß Oliver eine Tapetenthür auf, eilte die Treppe hinab an eine Hinterpforte und öffnete behutsam. Mit halber Stimme fragte er in die Dunkelheit hinaus:
„Dick? Jackson? Seid Ihr’s?“
„Ja, ja, Sir! Nur schnell; unsre Bürde wiegt nicht leicht in den Händen und noch weniger leicht auf dem Gewissen –, wenn’s Geld nicht schwerer als Alles wöge!“
Oliver ließ zwei Männer ein, die einen langen Tragekorb angeschleppt brachten.
„Hinauf in mein Zimmer,“ ordnete Oliver an; „Ihr wißt ja Bescheid.“
„Ja, Sir, das wissen wir, so wahr wir ehrliche Todtengräber sind.“
„Und Schurken!“ murmelte der Arzt, „doch gepriesen sei Eure Büberei; was würde sonst aus der Wissenschaft!“
Und er trat aus dem Hause in einen einsamen Hof und spähte durch den Nebel, ob Jemand lausche. Es regte sich nichts; auch war von dem dichten Schleier dieses Nebels jede geheimnißvolle That verdeckt.
Oliver trat wieder in den Flur zurück, verriegelte das Pförtchen und begab sich auf sein Zimmer, wo die beiden Todtengräber soeben eine in Linnentücher gehüllte Leiche auf einen langen niedrigen Tisch niedergelegt hatten.
„Ihr ließet mich warten,“ klagte der Arzt.
„Wir eilten, so sehr wir konnten.“
„Ist’s ein Mann oder eine Frau?“
„Eine Frau.“
„Wie lange in der Gruft gewesen?“
„Kaum zwei Stunden. Spät Abends langte die Leiche auf dem Kirchhof an, begleitet vom Pastor und einer weinenden Lady.“
„Und wißt Ihr, wie sie heißt und wer sie war?“
„Du liebe Zeit! Wenn wir das von Jedem, den wir begraben, wissen sollten! Es ist eine Fremde, die von weit her kam, so viel ich hörte. Eine Einheimische ist es nicht.“
„Gut. Hier sind Eure beiden Börsen. Wie gewöhnlich wird gegenseitig reiner Mund gehalten. Ein Criminalproceß ist eine langweilige Sache, die Haft im Zuchthaus noch langweiliger. – Nun macht Euch fort. Gute Nacht! Wartet, ich werde Euch das Haus aufschließen. – So!“
Der alte Dick flüsterte Oliver beim Fortgehen noch in’s Ohr: „Sie werden zufrieden sein, Sir! So etwas haben Sie nie gesehen! Mir kamen die Thränen in die Augen, als wir die Nuß geknackt hatten und den weißen Kern erblickten. Bald hätt’ ich gemeint, Jackson, der Junge, wäre närrisch über das schöne Weibsbild geworden.“
„Nur vorsichtig, daß Euch Keiner sieht!“
„Nichts für ungut, Herr, das rothseidne Tuch, worin sie eingeschlagen war, hab’ ich mir genommen –“
„Immerhin!“
„Hab’s der Kitty gegeben; das arme Ding hatte sein Lebtag keinen Bettvorhang.“
„Nur fort!“
Die Männer gingen. Voller Ungeduld flog Oliver die Treppe hinan und trat vor den leblosen Körper.
Es überlief ihn, als er die Decke von der Leiche heben wollte. Unwillkürlich ließ er das bereits erfaßte Tuch wieder aus der Hand fallen, eine sonderbare, ihm sonst fremde Erregung bemächtigte sich seiner. Und doch war es nicht das erste Mal, daß die Todtengräber, mit denen er in heimlichem Einvernehmen stand, den Leichenraub für ihn betrieben. Dies gefährliche, aber einträgliche Gewerbe ging in England seinen Gang, trotzdem viele Familien, um sich dagegen zu schützen, des Nachts besondere Wächter an den Gräbern ihrer Angehörigen ausstellten.
Oliver holte zunächst die zur Section erforderlichen Instrumente herbei und goß frisches Oel auf die Lampe. Sodann warf er den Rock ab, streifte die Hemdsärmel auf und lüftete endlich, seine Beklemmung kaum bemeisternd, die Hülle der Todten.
Ein lauter Schrei ob des Entzückens oder des Entsetzens? – entfuhr ihm.
Da lag wie in süßem Schlummer ein zauberhaft schönes, blutjunges Weib vor ihm; wenn auch tief blaß, doch nur mit der Blässe der Leidenden, nicht der Todten. Nur das Gesicht, umflossen von langen, schwarzen Locken, in denen einzelne, welke Rosen hingen, nur die marmorweißen Schultern waren frei; den übrigen Körper, der nicht minder schön sein konnte, hüllten weiße Tücher ein.
„Ist es eine Vision?“ rief Oliver außer sich, und es durchrieselte ihn heiß und kalt. „Mein Gott – mein Gott, wie schön sie ist! – Ein einzig Mal in meinem Leben sah ich ein solches Profil – aber nicht in Wirklichkeit, nur auf der Leinwand – in Paris auf Ary Scheffer’s göttlichem Gemälde Francesca von Rimini. Und dieser Dante’schen Heldin gleicht sie! Welche Tragik um die Brauen, um die Lippen! – Weib, bist Du „im Kusse gestorben“, wie Shakespeare sterben läßt?“
Schweigend starrte er das herrliche Weib an und konnte sich nicht satt sehen an ihren Reizen. Seine Hände zitterten. Wie ein Zauber zog es ihn nieder auf die Kniee an die Seite des schönen Leichnams. „Hab’ ich darum Nächte durchwacht,“ rief er, „darum geforscht und gestrebt, um jetzt nicht einmal im Stande zu sein, diese schöne Hülle durch ein Mittel, durch irgend einen Balsam unentstellt zu erhalten? – Sie zerlegen? Nimmermehr! vor ihrer Schönheit beugt sich meine Wißbegierde.“
Er sank mit dem Kopf auf die eiskalte Schulter der Todten, und drückte seine heiße Fieberwange gegen ihre Stirn. Lange Zeit lag er so; er vergaß die Welt um sich her. „O,“ rief er endlich schmerzzerrissen, „daß ein Wunder geschähe, daß ich im Stande wäre, sie in’s Leben zurückzurufen, – daß mein glühender Athem ihren bleichen Lippen Purpur anhauchte! Daß ein Messias an ihr Lager träte, daß er spräche: „stehe auf und wandle!“ und ich mit ihr fliehen könnte weit – weit von hier! – Grausame Wirklichkeit! Sie läßt uns stets nur Seligkeiten ahnen, und gewährt sie nie!“
In wilder Gluth küßte er die erstarrten Hände der schönen Leiche. „Der einzige heiße Wunsch in meinem Leben, er bleibt mir unerfüllt!“ stöhnte er erschöpft.
Eine Wanduhr, die im Zimmer tickte, erinnerte ihn daran, daß die Zeit nicht still stand und der Tag nicht fern sein konnte. – Eine Anwandlung bittern Trotzes folgte seinem leidenschaftlichen Schmerz. Er warf mit plötzlich wiederkehrender Entschlossenheit die Decke über die Todte und entfernte sich einige Schritte von ihr, dann öffnete er ein Fenster, beugte sich hinaus und sog die kalte Nachtluft ein. Das beruhigte ihn etwas; – er schloß das Fenster und sprach dumpf vor sich hin: „Wo gerieth ich hin? Wo war ich? – Bin ich noch derselbe Oliver, der mit kaltem Blute eherner Festigkeit seine Bahn wandelte? – Lächerlich! Ich stehe im Begriff, eines schönen Gesichtes halber meine Wissenschaft zu vergessen, und wünsche thöricht die Auferstehung eines mir unbekannten Weibes. – Nicht da hinaus! Noch bin ich nicht völlig von Sinnen!“ –
Und mit fest aufeinander gepreßten Lippen nahm er das blinkende Messer vom Boden auf, zog mit fester Hand die Hülle von der Leiche und wollte das Werk der Zerstörung beginnen – – da – - - all ihr Götter! zuckt ihre Wimper ....
Dieses Mal hat Oliver keine Kraft mehr aufzuschreien; – ein Gefühl namenloser Angst und rasenden Entzückens schnürt ihm die Kehle zu; – noch hält er das Messer konvulsivisch in der Hand, - - siehe! die Mundwinkel der Scheintodten beben – –
Kaum daß Oliver noch so viel Besinnung hatte, zu einem Becken kalten Wassers zu schwanken, beide Hände hinein zu tauchen und sich die Schläfen zu netzen, um seiner Sinne Herr zu werden, denn er glaubt sich von einem wüsten Traum bethört. Unsichern Blickes tritt er zu der Auflebenden – es ist kein Traum, - - sie holt Athem - - das Blut strömt warm durch ihre Adern - - Oliver schleudert das Messer weit von sich, schließt jubelnd, lachend und schluchzend das schöne Weib in die Arme und erspäht trunken ihren ersten Blick und legt seine Hand auf ihr klopfendes Herz. Dann, mit heißer Inbrunst auf die Kniee stürzend, ruft er unter strömenden Thränen: „Sie lebt! Allmächtiger Gott, sie lebt!!“
Aufspringend, sie umfassend, trägt er die holde Last aus dem [291] dumpfen Studirzimmer in ein freundlicheres Nebengemach. Hier beobachtet er, beim Schein des anbrechenden Tages, wie sie sich ferner erholt. Eine unendliche Seligkeit strahlt aus seinen Blicken.
„Wag’ es Einer,“ bebten seine brennenden Lippen, „Dich mir wieder zu entreißen! Für mich haben sie Dich aus der kalten Erde geholt, – einzig mir bist Du bestimmt. Mögen sie, die Dich verloren, um Dich trauern, ich kann Dich ihnen nicht zurückgeben. Ich begehe ein Verbrechen, doch müßte ich die Kraft eines Gottes besitzen, um hier zu widerstehen! Ich bin nur ein Mensch, – ich kann, ich will nicht größer sein! – Der Scheintod, wie die Erfahrung uns lehrt, vernichtet das Gedächtniß; o laß es ganz erloschen sein. Du Himmlische! Laß nur mich fortan in Deinem Herzen leben! – London, fahr wohl! Ruhm und Wissenschaft, fahrt hin! Ich flüchte mich in ein Blumenparadies und wünsche nichts mehr auf Erden, als selige Verschollenheit!“ - - -
Als das purpurne Frühroth das Gemach mit einer Strahlenglorie übergoß und ein warmes Rosenlicht auf die Wangen der in’s Leben Zurückgekehrten hauchte, richtete diese sich empor und sank in die offenen Arme Oliver’s, lächelnd, verklärt, als wäre sie seit lange ihm zu eigen gewesen.
„Schönes Damaskus! Wie ein Smaragd aus der Einfassung gelber Topase hebst du dich mit deinen grünen Palmen, deinen Federn und Maulbeerbäumen aus dem goldnen Sand der syrischen Ebene empor! Weithin erschimmern deine Paläste, deiner Moscheen funkelnde Minarets, und mit silbernen Armen umschließt der Baradâ deine rosenduftigen Gefilde, du Stadt der Khalifen und Fatimiden, du Stadt der bunten Bazare, der üppigen Bäder, der glänzenden Waffen – schönes Damaskus, welches Abulseda für das erste der vier irdischen Paradiese erklärt! –
„Selig, wer durch deine Thore einzog! Selig, wer el Guta gesehen, den meilenweiten Garten, der deine Mauern umgrenzt, worin das Getreide reift unter dem Schatten der Bäume! Selig, wer in den Wallnußalleen, am fluthenden Quell die Königin der Früchte, die Aprikose von Damaskus genossen, wer in den Weinbergen die Traube gepflückt, die Zeni-Traube, die während sieben Monden am sengenden Kusse der Sonne reift! – O Allgütiger, o Allwissender, segne unser schönes Damaskus, Allah!“
Diese Strophen recitirte ein singender Bettler zu Damaskus vor einer eleganten Kaffeehalle unweit der Paulus-Krypte, wo sich zur Zeit des Nachmittaggebetes Hunderte von Menschen versammeln, die kühlere Tageszeit, jeder auf seine Weise, zu genießen. Ein buntes, wüstes Treiben, aber pittoresk und farbenblendend! Dichter gedrängt, als auf dem Toledo zu Neapel, hastiger und mannigfacher, als in den Straßen Constantinopels, wälzt sich der unabsehbare, engverstrickte Menschenknäuel über die Märkte und Gassen der syrischen Hauptstadt an dem Zuschauer vorüber. Die phantastischen Bilder einer Laterna magica sind nicht so überraschend, wie die wechselnden Gruppen jenes wirbelnden Straßengewühls, durch welches der gelbe Aegypter sich mit der Elasticität einer Schlange windet, während er seine schlagfertigen Witzworte rechts und links an die ambulirenden Krämer vertheilt, die ihre Esel mühsam vorwärts ziehen, den „Markt der Sattler“ zu erreichen.
Dazwischen klappert der Limonadenverkäufer mit seinen metallenen Tassen, deren ihm fünf Stück an den Fingern seiner rechten Hand herabhängen, und ruft oder singt dazu in langtremulirendem Tone: „Erfrische dein Herz! Lösche die Hitze!“ bis ein verdursteter Neger oder ein bestaubter Pilger aus Mekka von dem Fruchtsaft begehrt. Noch lauter preisen die Brod- und Obstverkäufer ihre Waare an, die unterwegs an die Diener und Dienerinnen der Vornehmen das Meiste absetzen und mit dem Rest einen Platz unter den Hallen der Khans einnehmen, inmitten der Topfstricker, Zigeuner und Wasserträger. Durch diese lebendige, gesticulirende, schreiende Menge zieht der edle Beduine von Palmyra stumm und stolz seinen Pfad; ernst und gemessen wie ein Bibelkönig schreitet der herrliche Sohn der Wüste in stiller Majestät einher, und manch ein Damascener Stutzer in hochrothem Burnus blickt mit Neid auf die hohe, gebietende Erscheinung des Steppenbewohners, während der Türke in Kaftan und Tarbusch und der Kurde im gestickten Kleide mißtrauische Blicke auf den Schweigsamen werfen, der langsam den Kameeltreibern, den bewaffneten Bauern, den schlanken Maroniten folgt, bis ein Trupp musicirender Soldaten die Aufmerksamkeit von ihm ablenkt.
Und mitten in diesem brausenden Geschwirr singt der Bettler an jedem Nachmittag das Loblied auf seine Stadt: „Schönes Damaskus! Wie ein Smaragd aus der Einfassung gelber Topase hebst du dich aus dem goldnen Sand der syrischen Ebene empor!“ – –
Auf eben dieses Lied lauschte an eben diesem Orte eine Anzahl rauchender oder Mocca schlürfender Turbanträger und Europäer, die sich an einem Novembertage, wie gewöhnlich, unter der großen Kaffeehalle versammelt hatten.
Ein November in Damaskus ist heißer, als ein nordischer Juli; führen auch die Nächte Regenschauer und Stürme herbei, die Bäume der Landschaft grünen und blühen um so frischer und paradiesischer, und zahllose Sträuße, gewunden aus Rosen, Myrthenbeeren und Epheudolden, werden von den Negrillos und abyssinischen Knaben feilgeboten.
Die ernsten Patrizier und bronzefarbenen Scheiks bekümmerten sich wenig um die Blumen, sie wendeten ihre Aufmerksamkeit und ihre Kupfermünzen eher dem Sänger zu. Asad, der Kranzwinder, hatte jedoch seit einiger Zeit einen fremden Sidi (Herr) unter der Halle des Khans bemerkt, der ihm jeder Zeit einen Strauß abkaufte. Diesen guten Kunden zu erreichen, bemühte sich der junge Abyssinier an jenem Novembernachmittage, und schlug sich zu diesem Zweck tapfer durch das Gedränge bis an das Kaffeehaus.
Seinen Henkelkorb aus Weidengeflecht auf dem krausen Lockenkopfe balancirend, trat er bald vor einen jungen Mann, der vereinzelt, ohne aus dem Nargileh zu rauchen, auf dem persischen Teppich saß. Der Fremde trug einen halb orientalischen, halb europäischen Sommeranzug, den schwarzen, weißgefütterten Burnus um die Schultern geschlagen und den Tarbusch (Fez) auf das lichtbraune Haar gedrückt. In seiner ganzen Erscheinung sprach sich deutlich aus, daß er ein Abendländer sei, obgleich seine sanften, regelmäßigen Züge, sein melancholischer Blick an den Beduinen der syrischen Wüste erinnerten.
„Rosenspende aus den Dörfern des Wiesenlandes, o lieber Herr,“ bat Asad mit lieblicher, einschmeichelnder Stimme, indem er vor dem schweigsamen jungen Manne niederkniete und ihm seinen schönsten Strauß darbot; „sieh, Rosen, weiß wie der Schnee der Gebirgskluft Menin – und rothe, purpurn wie Hennah auf den Nägeln der Sultana Ibrahim Paschas!“
Während dieser pomphaften Anrede ließ der schwermüthige Gast des heitern Khans eine Geldmünze in die braune Hand Asad’s gleiten, ohne weder den Knaben, noch seine Blumen anzusehen. Dem abyssinischen Kinde glänzten die Augen vor Lust und Gier; seine aufgeworfenen Lippen stammelten auf italienisch einige Dankesworte, worauf er in die Höhe sprang, seinen Korb schwenkte und in wilden Sätzen wie eine Tigerkatze von dannen lief, unterwegs mit der Zunge schnalzend.
So, in ununterbrochenem, athemlosem Laufe erreichte er das Thor, welches aus Damaskus nach der Guta führt. Außerhalb des Gitters hielt eine junge Negerin auf einem milchweißen kräftigen Esel. Auf diese und den Esel kam Asad nickend und winkend zugestürzt und rief frohlockend schon von Weitem: „Beim Leben unsers Herrn Jehjâ, heut ist es mir geglückt, er hat meine Rosen!“
Bedenklich blickten die sengenden Augen der Schwarzen durch den rothblumigen Gesichtsschleier, indem der redselige Knabe fortfuhr: „Gieb Acht, Tochter des weißen Nils, in zwei Stunden ist er an Ort und Stelle, – und dann regnet es uns Beiden für jedes italienische Wort einen Fransâwîje (ein Napoleond’or). Wetze den Pfeil deines Züngleins!“
„Sohn des Dämons,“ rief die dunkle Haremszofe, ihrem Begleiter die Zügel des Esels zuwerfend, „nimmer will ich zur Betrügerin an meinem Brodherrn werden. Vergissest Du, daß Schweigen die erste unserer Pflichten ist? Reden ist Silber, doch Schweigen ist Gold!“
„Doch wenn Dir Silber mit Gold belohnt wird, wie dann?“ warf der Knabe hin, in welchem die Geldgier kochte.
„Dann schlag’ ich die Augen nieder, verstopfe die Ohren und bezwinge mein Herz,“ ermahnte die Sclavin, während der Esel sehr langsam unter der Last der Wohlbeleibten und zweier überladener Marktkörbe vorwärts zu schreiten begann.
[292] Asad zuckte die Achsel und hieb mit einer Haselgerte durch die Luft. „Und wem haben wir denn Schweigen gelobt?“ setzte er nach einer Pause mit Verachtung hinzu, „dem Giaur!! der Schwur hat keine Geltung.“
„Was dienst Du ihm, wenn Du ihn verachtest?“
„Er ist milde, denn sein Blut ist Wasser, wie das Blut aller Ungläubigen; seine Hand ist immer offen, und ich liebe ihn, aber betrügen muß ich ihn doch; Asad vermag die Giaur nicht zu achtem“
Die Nasenflügel des Abyssiniers zitterten, und mit unendlichem Selbstgefühl schloß er: „Asad ist glücklich, wenn er den klugen Franken überlistet, bei der Seele Hassan’s und Hussein’s.“
Die Negerin, zu indolent, um länger über dieses Thema zu streiten, erwiderte nichts, sondern scheuchte die blitzenden Insecten von den Eßwaaren in den Körben, die zu beiden Seiten des breiten Sattels herabhingen und die allabendlich auf dem Markte in der Stadt mit Geflügel, Weizenbrod, Zuckerpasteten und anderen Delicatessen gefüllt wurden. Den sonstigen Lebensbedarf an Milch, Butter und köstlichen Früchten lieferte der Meierhof der fruchtbaren Guta, den die Herrschaft Asad’s und der schwarzen Messaouda bewohnte.
Schweigend erreichten die beiden Dienstboten jenes entzückende, quellenreiche Gartenland, welches Angesichts des Libanon seine Myrthengärten und Rosendörfer stundenweit ausbreitet.
Bevor Messaouda ihr Saumthier in das Gehege leitete, von wo aus der Pfad sich sanft hinabsenkte und zum Hofe und der Villa führte, bevor sich die Negerin von ihrem Begleiter trennte, neigte sie sich ein letztes Mal zu ihm und fragte gutmüthig vertraulich: „Und wenn er Dich fragte, was antwortetest Du, da Du nichts weißt?“
„Ich weiß genug, um zu antworten, genug, um den fremden Tauber lüstern zu machen auf den weißen Vogel, der dort oben mit gebundenen Fittigen im Pavillon verschmachtet!“
Ein Schrei entfuhr Messaouda. „Du setzest Dein Leben ein! Der Franke ist eifersüchtiger auf sein junges Weib, als der Padischah von Damaskus auf die Lust seiner Augen. Laß Dir’s gesagt sein!“
„Kein Giaur ist eifersüchtig, Tochter des Nils,“ lachte Asad und schlug auf dem sammetweichen Rasen einen Purzelbaum. Der weiße Esel legte die Ohren zurück und bäumte sich empor, worauf er in sausendem Galopp dem Stalle zulief, unbekümmert um die Negerin, die sich schreiend an seiner Mähne festhielt, während der schadenfrohe Asad sich vor Lachen der Länge nach in den Klee warf. - -
Kühler erhoben die Winde sich, rosiger erglühten die Wölkchen am tiefblauen Himmel, zärtlicher girrten die Turteltauben in den persischen Silberpappeln, und aus den Wiesen und Weinpflanzungen empor stieg ein sinnberauschendes Arom, ein Weihrauch von Wohlgeruch: da öffnete sich eine dichtverhangene Thür im obersten Stockwerk jener luftigen Villa der Guta, und auf eine Terrasse – gleichsam ein schwebender Garten der Semiramis – trat ein junges Frauenbild in köstlichen Kleidern heraus.
Langsamen Schrittes bewegte sie sich bis an das grünumrankte Gitter vor und schaute feuchten, sehnsüchtigen Blickes über die glanzumgossene Landschaft, über den schillernden Wiesenquell, an dessen Ufer eine Schaar junger Lämmer weidete; doch wie von dem Abendroth geblendet, schloß die Einsame alsbald die Augen und sank ermattet auf ein weiches Polster, welches, mit einer kühlen Binsenmatte überdeckt, auf der Terrasse unter einer Palme lag.
Angesichts dieser südlichen Zauberpracht, die das kälteste Herz in seinen Tiefen wendet, angeduftet von der violetten Passionsblume, von tausend Rosen, die trotz der späten Jahreszeit in bunten Porzellan-Vasen auf dem Balcone blühten, verharrte das reizende, junge Weib in trostloser, starrer Gleichgültigkeit, wie verloren in quälende Gedanken. – Ein gelber Papagei war tändelnd auf ihre Schulter geflogen und zog eine Strähne ihres lose schweifenden Lockenhaares durch seinen krummen Schnabel; – umsonst; die bleiche Herrin, die unter der Last ihrer Juwelen seufzte, achtete nicht der herausfordernden Zärtlichkeit des kleinen, gefiederten Freundes.
[305] Plötzlich schien eine gewaltige Erregung die junge Dame der Apathie zu entreißen; hastig ergriff sie eine spanische Mandoline, und ihre schmalen Finger irrten auf den Saiten des Instrumentes umher, als suchten sie nach einer Melodie, ohne sie finden zu können. Bald verklärten sich die Augen der Musicirenden zu einer wunderbaren, ekstatischen Begeisterung, bald zogen sich ihre Augenbrauen krampfhaft zusammen, der Ausdruck tiefsten Seelenleidens malte sich wieder auf ihrem Gesicht. Die Accorde, die sie der Laute entlockte, rannen in eine Disharmonie zusammen. Weinend vor Ungeduld schleuderte sie die Mandoline von sich, – der Papagei flog kreischend in die Höhe, setzte sich auf einen Ahorn und schaukelte sich in den grünen Ringen des Riesenepheus, der den Baum umklammert hielt.
„Ich kann die Weise nicht wiederfinden,“ sprach das schöne Weib unter hervorquellenden Thränen vor sich hin, „nie und nimmermehr - - und fänd’ ich sie, so wär’ ich gerettet!“ –
Zusammenbrechend sank sie auf das Lager, unter Palmenschatten und Blätterrauschen den Schmerz auszuweinen.
„Herrin,“ sprach eine Stimme dicht hinter ihr, und gleich darauf schob ein glänzend schwarzer, voller Arm die Vorhänge der Balconthür auseinander und diesem Arm folgte bald das dunkle Gesicht der Negerin Messaouda, die sich mit gekreuzten Armen vor der Gebieterin neigte.
Die Angeredete schrak zusammen, fuhr schnell mit einem Taschentuch über die Augen und versuchte eiligst die Spur ihrer Thränen zu verwischen. „Kommt er, Messaouda?“ fragte sie auf Französisch die Dienerin, sich in den Kissen aufrichtend.
„Nein, Herrin, noch nicht,“ entgegnete die Schwarze in derselben Sprache mit sehr fremdem Accent, „aber statt Deines Herrn,“ setzte sie geheimnißvoll lächelnd hinzu, „statt seiner – –“
„Was giebt es?“ fragte die Dame theilnahmlos.
„Prachtvolle neue Kleider sind angekommen,“ jubelte die Negerin, „buntgestreifte, silberdurchwirkte aus Maskara und Smyrna, und luftige indische Stoffe! Da ist ein Gewand, so spinnwebzart, als hätten es Geister am Kaschmirsee nächtlich gewoben! Du wirst darin strahlen, o Herrin, wie die Lilie des weisen Salomo!“
Die Herrin seufzte, ohne zu antworten, und zupfte gedankenlos Blätter und Blüthen aus den Vasen.
„Willst Du die Kleider betrachten? Im Spiegelgemach hab’ ich sie ausgebreitet.“
Die Gebieterin schüttelte den Kopf. Die Zofe zuckte die Achsel und schwieg einige Augenblicke. Bald jedoch fuhr sie gewichtig fort: „Allah Kerim! was vergaß ich? Ein Kästchen ist dabei, eine Perlenschnur enthaltend: fünf Reihen Perlen aus Persiens Meerfluth gefischt! Kostbarer besaß die Königin Zenobia kein Halsgeschmeide; – darf ich es holen?“
„Später,“ antwortete die Schöne nachlässig, und flocht mechanisch die Blumen und Blätter zu einem Kranz.
„O Herrin, binde die Perlen um zur Zier Deines Halses! Ihm zu Liebe, Deinem Gebieter zu Ehren, der Dich verschwenderisch mit Kostbarkeiten überhäuft.“
Ein leichtes Roth belebte die blassen Wangen der Angeredeten; sie ließ das Kranzgewinde zu Boden gleiten und lächelte wehmüthig. „Ja, Messaouda, Du hast Recht, – ich bin eine Undankbare! Geh, hole mir das Geschmeide, ich werde ihm damit geschmückt entgegen gehen. O käme er nur!“
Und wieder zitterten Thränen an ihren Wimpern.
„Beste Herrin, weinend?“ Die gutherzige Negerin knieete neben dem Divan nieder.
„Ist es ein Wunder,“ rief die Aufgeregte, „daß ich in dieser tödtenden Einsamkeit seine Nähe ersehne?“
„Es ist wahr, schöne Herrin. Er hält Dich in strenger Haft, der Gebieter,“ sagte die Dienerin einschmeichelnd. „Er, ein Abendländer, ist mißtrauischer als ein Moslem! Versagt er Dir doch sogar den Umgang mit anderen Frauen und gestattet weder, daß Du die Bäder in der Stadt besuchst, noch die Magazine der Kaufhallen. Von einer Reise über Land ist nun vollends nicht die Rede.“
„Und eben diese grausame Eintönigkeit reibt mein Leben auf. – Ach, Messaouda, wohl wäre ich eher zu beneiden, als zu beklagen; – ich habe ja seine Liebe! Aber sobald er mich allein läßt, fassen mich seltsame Gedanken. Die Welt, die Ferne da draußen, sie lockt, sie reißt mich an sich, als lebte dort eine Seele, die etwas von mir zu fordern hat, – die eine Gewalt über mich besitzt, die mich zu sich zwingt! – Doch, nein, nein! – – es ist nicht so – – kindisches Geschwätz – – ich weiß nicht, was ich rede! Vergiß, was ich sagte, hörst Du?“
Und zusammenschauernd blickte die Phantasirende scheu umher.
„War denn Dein früheres Leben nicht anders?“ forschte die Schwarze neugierig, „bevor Du hierher kamst und ich in Deine Dienste trat. Sprich, o Herrin?“
„Mein früheres Leben?“ so rang es sich mühsam von den Lippen des schönen Weibes los, indem sie wie geistesabwesend in die Weite starrte, „ja siehst Du, das ist es eben! O, wenn Du wüßtest, was es heißt, ohne Vergangenheit leben zu müssen, [306] wie ich! – Nach einer langen, fürchterlichen Krankheit konnte ich mich auf nichts mehr besinnen! Mit Mühe mußte mein Gatte mich auf alle vorgefallenen Begebenheiten nach und nach aufmerksam machen - - ich vergaß, wie lange wir verheirathet sind, wo wir früher waren! – Meiner gereizten Nerven wegen verordnete er mir die tiefste Zurückgezogenheit. … Ich bin es zufrieden, – ich liebe ihn, ... und doch sehne ich mich fort von hier; – – die Sonne dieses Landes versengt mir das Herz!“
„Und Deine Kindheit?“
„Meine Kindheit?!“ wiederholte die Traurige mit verwirrtem Lächeln und wiegte das Haupt – – da plötzlich flog ein Strauß aus Rosen, Myrthen und Epheu den beiden Frauen vor die Füße, wie von kecker Hand aus dem Garten auf die Terrasse geschleudert.
Ein leichter Schrei entfuhr Messaouda’s Lippen. Betroffen blickte die Herrin erst auf die Blumen und auf die Negerin, dann über das Geländer hinab; doch sie vermochte Niemand unter den Bäumen zu entdecken; nur meinte sie, die Magnolienzweige über einer fliehenden Gestalt zusammenschlagen zu sehen.
„Schon wieder, – gerade wie gestern um dieselbe Zeit!“ flüsterte Messaouda mit sichtbarer Bewegung und hob den Strauß vom Teppich auf. „Ein Selam – wie sinnreich gebunden! Ei, Herrin, Dich verfolgt ein verliebter Djinn. Wer weiß – – aber was ist Dir? Du bist wie gelähmt vor Schreck!“
„Um Gottes willen, daß er keine Sylbe von dieser räthselhaften Rosenspende erfährt,“ bat die Herrin mit fliegender Blässe. „Verbirg die Blumen, Messaouda!“ – Laß uns hinein gehen; zeig mir meine Perlen und Kleider – komm!“
Die Sclavin folgte ihrer Dame, nicht ohne einen verschmitzten Blick über die Gefilde der Guta zurückgeworfen zu haben, und leise vor sich hin summend: „So kehren uns täglich Asad’s Blumen zurück! – Dem muß das Blut verbrennen, der in die weiße Herrin verliebt ist!“
Während dieser Scene lauerte Asad, der Spion, auf einem Pomeranzenbaum, den er erklettert hatte, und von wo aus er ungesehen die Landstraße, den Park und die Front der viereckigen, maurischen Villa überblicken konnte. Er sah die beiden Frauen auf der Terrasse mit einander sprechen, ohne ihre Stimmen vernehmen zu können, denn dazu war die Entfernung zu groß; auch vermochte er ihre Gesichter nicht zu unterscheiden, nur die weiße und die dunkle Gestalt hoben sich deutlich gegen das grüne Palmenbosket der Terrasse ab.
So hatte er eine geraume Zeit verschanzt gesessen, als er die Straße entlang, zwischen hohen Maulbeer- und Wallnußbäumen, einen einsamen Spaziergänger einher ziehen sah. Asad strengte seine ganze Sehkraft an, den Kommenden zu erkennen. Aber der Unbekannte kehrte um und verschwand wieder. Asad hatte genug gesehen – er hatte den schwarzen, weißgefütterten Burnus des „fremden Sidi“ erkannt und wußte genug. Ruhig blieb er im Pomeranzenbaum sitzen und wartete. Durch die grünen Blätterwände der Bäume und Schlingpflanzen tauchte ab und zu die verhüllte Gestalt des Europäers auf; dieser schien die Runde um die Villa zu machen; er bewegte sich zögernd, vorsichtig, wie ein Dieb, unter den Maisstauden und überhangenden Zweigen hin und her.
Jetzt mußte er hart an dem lauschenden Knaben vorüber; Asad hielt den Athem an; der Fremde, die Kapuze über das Gesicht gezogen, stand im nächsten Augenblick unter dem Pomeranzenbaum; denn von dort aus überschaute er die ganze Terrasse, auf welcher die Negerin ihre schweigsame Herrin zum Plaudern bewegen wollte.
Ein elektrischer Schlag durchbebte den Abendländer, so wie er der Frauen ansichtig ward. Er blieb wie eingewurzelt stehen – seine Brust hob sich heftig – er schob die Kapuze aus den Augen, schirmte die Stirn mit der rechten Hand, und seine Blicke bohrten sich in der Richtung nach der Terrasse fest. Doch vermochte er nicht deutlich genug zu unterscheiden, was er zu schauen begehrte. Bald stampfte er mit dem Fuß auf, blickte wieder in die Höhe, seufzte tief und ballte die Hand krampfhaft vor der Brust.
So stand er, bis ein Entschluß in ihm zur Reife gekommen schien. Auf den Zehen schlich er dicht an einer Cactuswand entlang, bis er ein Magnolienbosket gegenüber der Terrasse erreicht hatte. Noch einmal ängstlich um sich blickend, schlüpfte er unter die großblätterigen Aeste .... Weiter vermochte Asad nichts mehr wahrzunehmen; doch gleich darauf sauste etwas durch die Luft; es war der Strauß, den der Gärtnerknabe vor einigen Stunden zu Markte getragen hatte; – der Wurf gelang – Messaouda hob die Rosen auf – beide Frauen verschwanden – die Terrasse war leer.
Behend glitt Asad vom Baum auf den Rasen hinab, raffte seinen Spaten auf und lief ein paar Schritte bis an die Landstraße. Mit der harmlosesten Miene fing er an, das Erdreich aufzulockern, hin und wieder verstohlen seitwärts durch die Wimpern blickend.
Aber er hatte gut graben, Niemand kam an ihm vorüber; tief einsam war es jeden Abend in der Guta, kaum daß hin und wieder ein Landmann mit seinem Lastthier vorbei zog.
Asad wartete über eine halbe Stunde; aber er war zu zäh, um nach einer halben schon ungeduldig zu werden. Endlich schimmerte der weiße, fliegende Burnus; der Abyssinier grub emsiger; jetzt stieß er den Spaten in den Boden, stützte sich auf den hölzernen Schaft und warf den Lockenkopf in den Nacken. Soeben kam der Fremde des Weges entlang.
„Gott erfreue Dein Herz, habibi sidi!“ rief der Knabe freundlich dem träumerisch Dahinwandelnden zu.
Der Fremde stutzte beim Klang der hellen Stimme und wandte Asad das Gesicht zu, ein interessantes Gesicht von zarter Jugend und zarter Blässe. Ein freudiger Aufschrei antwortete Asad’s Gruße; der junge Reisende öffnete die Lippen zu einer Frage – doch er besann sich, holte tief Athem und dann erst, nach einer Pause, sprach er: „Kleiner, ist die Guta Deine Heimath?“
„Ja, Sidi; mein Vater ist der Gärtner jener Villa.“
„Wem gehört diese Villa?“
Asad schmunzelte geheimnißvoll. Der Fremde war so gespannt, daß er vergaß, die Hand nach der Tasche zu führen und mit dem Gelde zu klimpern. Asad, um ihn immermehr zu reizen, legte vorsichtig den Zeigefinger an die Lippen.
„Darfst Du nicht reden? Wer verbot es Dir?“
Asad biß sich auf die Lippen und blickte so andächtig zum Himmel empor, daß während einer Secunde nur das Weiße seines Auges zu sehen war.
Der Fremde riß nunmehr eine volle Börse aus der Brusttasche und drückte dem stummen Knaben ein Goldstück in die Hand.
„Herr, die Sünde ist schwer,“ begann Asad endlich nach langem Kopsfchütteln. „Mein Leben setze ich auf’s Spiel, indem ich rede.“
Der weiße, junge Mann hing an den Lippen des Gärtnerburschen.
„Den Namen meines Brodherrn weiß ich nicht; von wannen er kommt, ahne ich nicht; die Sprache, die er spricht, versteh’ ich nicht.“
Der Unbekannte gab seine Ungeduld durch eine verzweifelte Gebehrde zu erkennen.
„Jedoch, Sidi, so viel ist gewiß, mein Herr lebt erst seit zwei Jahren im Lande der Sonne; das Abendland ist seine Heimath; der Prophet mag wissen, warum er es verließ! Vielleicht war es ihm unter den Ungläubigen zu geräuschvoll, denn kein Marabout lebt einsamer als er. – Ich will Dir sagen, schöner Sidi, er ist ein weiser Mann, der mit dem Schatz seiner Wissenschaft hieher in die Guta floh; denn er macht jeden Kranken gesund, wie dereinst der wunderthätige Paulus, der Apostel Sidna Aissa’s (Christus).“
„So ist er ein Arzt?“
„Nicht anders. Die Landleute befreit er vom Fieber, ohne dafür eine Kupfermünze anzunehmen. Geheimnißvolle Kräfte weiß er aus den Pflanzen, aus den Wurzeln, aus dem Erdreich zu ziehen, und er braut Zaubertränke, die dem Sterbenden neues Leben einflößen.“
„So steht dem Hilfsbedürftigen sein Haus offen?“
„Wo denkst Du hin, Kühner? Seine Thür ist Jedem verschlossen. Er zieht selbst zu Roß im Lande umher und heilt und lindert, zu ihm aber kommt Niemand.“
„Seltsam!“
„Es ist so todtenstill in der Villa, daß man oft meint, keine Seele wohne darin; denn das Weib seines Herzens lacht niemals ....“
„Er ist vermählt?“
„Nach Eurer Sitte nur mit einer Sclavin; sie ist lieblich wie eine Hyacinthe im Thal, aber“ – der Knabe deutete mit der [307] Hand auf die Stirn – „ich glaube, sie ist krank und seine Kunst scheitert an ihrer Herstellung. Die bösen Zungen erzählen viel Wunderbares – –“
„Und was? Rede.“
„Der Gebieter, so hörte ich, soll im Stande sein, das zarte Wesen in einen Zauberschlaf zu versenken, während dessen sie prophetische Worte spricht und in die Zukunft und in den geheimsten Winkel des Herzens späht. Damit tödtet er sie – kurz, er steht mit dem Satan im Bunde. Viele nennen ihn einen Vampyr, der alle drei Jahr ein Opfer auserkürt, das er so lange liebt, bis er ihm das Blut ausgesogen.“
Der Fremde lächelte über die erhitzte Einbildungskraft des Knaben; er wußte hinlänglich, daß die Europäer nicht sehr günstig im Orient beurtheilt werden und viel von der Intoleranz eines fanatischen Volkes zu leiden hatten. Scheinbar ging er jedoch auf Asad’s fabelhafte Aussagen ein.
„Deine Erzählung nimmt mich Wunder, brauner Knabe! Mich reizt es, das Opfer des räthselhaften Mannes, jene verschmachtende Hyacinthe, ein einzig Mal in der Nähe zu sehen!
Lausch’ auf, der Edelstein an meiner Hand ist Dein, verhilfst Du mir dazu!“
Asad heftete den glühenden Blick des Raubthiers auf die ihm versprochene Beute.
„Denke nach, und heut Abend, bevor der Sonne Feuer jenseit des Libanon verglommen, ist der Juwel in Deinem Besitz.“
Der Schweiß perlte Asad von den Haarwurzeln über die Stirn. „Unmöglich, Sidi; Du verlangst Unmögliches.“
Der Fremde barg seine Hand unter den Burnus und ging von dem Knaben fort, ohne weiter ein Wort zu verlieren.
Asad flog ihm nach, hielt ihn am Zipfel des Burnus fest und sprach mit leiser, nervös zitternder Stimme, wie Jemand, der sich zu einem Mord versteht: „In einer Stunde lustwandelt meines Herrn Weib im Garten; ihr Lieblingsplatz ist im Kiosk hart an dem Pfade, der zum Wiesenlande führt. Diesen Pfad ziehe zu Fuß oder zu Roß, wie Du willst – Dein Burnus verhülle Dich, aus daß man Dich für einen Mullah halte, der über Land zieht. – Jâ Allah! Dort wirbelt Staub auf! – Es ist mein Herr! Eile fort – nach links, daß Du ihm nicht begegnest, sonst schöpft er Verdacht, und dann wehe Dir und mir!“
Der Fremde sprang in das Blätterdickicht und irrte, ohne sich umzusehen, tief in die reizende Wildniß hinein. Zuletzt sank er erschöpft zu Boden, wie unter einer Centnerlast, umfaßte mit beiden Händen den duftigen Stamm einer Ceder und brach in heiße, heftige Thränen aus.
Traumhaft klang das Lied des Bettlers durch seine Seele:
„Schönes Damaskus! wie ein Smaragd aus der Einfassung gelber Topase hebst du dich aus dem goldnen Sand der syrischen Ebene empor!“
Asad war unterdessen einem Reiter entgegengeeilt, der, im weißwollenen Gewande des Beduinen, auf einer schlanken Khelistute saß und sein Thier anhielt, als er den Knaben erblickte, dessen ehrerbietigen Gruß er durch ein stummes Kopfnicken erwiderte.
Asad wartete, bis sein Gebieter abgestiegen war, und führte alsdann das wiehernde Thier in den Stall.
Der hohe, stattliche Mann, den der Sclave soeben verrathen hatte, ging durch die Gartenanlagen gerade auf die Villa zu. Messaouda öffnete ihm.
„Wo ist sie?“ fragte der Herr des Hauses gebieterisch.
Die Negerin schlug eine Portiere zurück; vor einem Spiegel erblickte der Eintretende sein schönes Weib, welches, mit Perlen und reichen Schleiern geschmückt, im eignen Anschauen versunken stand.
Eine Verklärung kam über den Spender dieser Kostbarkeiten; seinem Munde entwich ein freudiger Ruf – er breitete die Arme aus, und die Glanzgeschmückte sank an seine Brust. –
Obgleich durch einen Bart und die Kleidung verändert, erkennen wir doch auf den ersten Blick Oliver, den berühmten englischen Arzt, in ihm wieder. Unter dem Namen Mac Johnson war er mit der Geliebten nach Damaskus entflohen; in ein Landhaus der Umgegend hatte er die lebende Verstorbene, die er Dolorida nannte, entführt und anfangs in jenem lieblichen Versteck die seligsten Stunden genossen.
Wie einem gestrandeten Ulyß, den die schönste der Nymphen bei sich aufgenommen hat, verflossen ihm die Tage. Um jeden Ueberdruß zu vermeiden, wendete er sich auch seiner früheren schriftstellerischen Thätigkeit wieder zu, doch auf dem Rande der ernsten, medicinischen Manuscripte fanden nicht selten Sonette und Dithyramben an Dolorida Raum. Diese lebte neben ihm wie eine Gefangene; er ließ sie nicht über die Grenzen seines Gartens hinaus.
Aber Gewissensqualen und Sorgen um die Zukunft, die natürlichen Folgen unerlaubter Verhältnisse, blieben auch für Oliver nicht aus. Oft schreckte ihn des Nachts ein wüster Traum; er sah sich entlarvt, gebrandmarkt, auf den Galeeren, wo ein scharfer Wind ihm den Angstschweiß auf der Stirn in Eis verwandelte; – oft hatte er am hellen, lichten Tage Visionen, in denen er glaubte, die Stimmen von Dolorida’s Angehörigen zu vernehmen, die sie ihm entreißen wollten; oder er wähnte sich von Phantomen umringt, die, ihre Leichentücher nachschleppend, ihn verfolgten und ihm entgegenheulten: „Leichenräuber! Leichenräuber! Du hast sie ausgescharrt. Uns war sie verfallen! Gieb sie uns wieder!“
Furchtbar war seine Angst, sich in solchen Phantasieen selbst verrathen zu haben. Mißtrauisch geworden gegen seine Diener, unnatürlich und fremd gegen die Geliebte, verursachte er sich und seiner Umgebung die größte Qual. Durch die täglichen Seelenkämpfe nahm sein Wesen schließlich etwas Schroffes an, dessen er mit aller Gewalt der Liebe nicht Herr zu werden vermochte.
Um sich zu versichern, daß er ohne jeglichen Verdacht lebe, trieb es ihn rastlos, unaufhaltsam durch die Umgegend dahin; in dem unbefangenen Wort. in dem unschuldigen Lächeln eines Bauernkindes, in der gleichgültigen Miene eines vorüberstreifenden Reisenden witterte er eine Anklage. Von den Furien seines Schuldbewußtseins verfolgt, fand er kaum noch in Dolorida’s Besitz Ruhe und Genuß. – – –
Oliver war mit Dolorida in den Garten hinabgestiegen.
„Du hast geweint?“ fragte er sie mit zärtlichem Vorwurf, ihr Kinn in seiner Hand sanft emporhebend.
„Nicht doch, Lieber,“ erwiderte sie mit erzwungener Unbefangenheit.
Oliver wandte das Gesicht von ihr ab. „Wie kann ich auch verlangen,“ murmelte er, „daß so viel Schönheit und Jugend sich mit einer lästigen Liebe begnüge! Heimweh nach der Welt verzehrt sie. – Ach, was bin ich doch elend!“
Und laut fügte er hinzu: „Was sucht Dein Auge auf der Wiese?“
„Ich verfolge die verwegenen Sprünge jenes Apfelschimmels, der jenseits derselben hin und her jagt.“
„Mehr bewundere ich den Reiter, der sein Thier zu einer so rasenden Gangart treibt! – Es ist irgend ein Damascener, der sein Pferd zu einer bevorstehenden Fantasia zureitet. Doch überlassen wir ihn seinem Schicksal; komm.“
„Nie sah ich Jemand mit so großer Gesckicklichkeit ein Pferd zügeln. Schau hin – es bäumt sich hoch empor! Doch glücklich bringt es den Reiter an den Dattelpalmen vorüber. – Jetzt sehe ich nichts mehr – die Bäume verdecken die Aussicht.“
Dolorida und Oliver gingen zusammen weiter. Sie stiegen einige Stufen zu einem weinumrankten Kiosk empor. Hier ließ sich Oliver’s Geliebte auf einen Divan nieder; er setzte sich ihr zu Füßen und blickte trunkenen Auges auf die bleiche, rührend schöne Frau, die auf seinen Wunsch die blendende Tracht der Orientalinnen angenommen hatte, wie eine Christensclavin, die an das Serail eines Padischah verhandelt worden.
„Könnte sie mir jemals entrissen werden?“ Dieser Gedanke zuckte durch sein Herz, während sie mit ihrem geheimnißvollen Lächeln auf ihn niederschaute.
Da! Horch! welch ein wahnsinniger Schrei des Entsetzens durchschneidet plötzlich die Luft?
Beide springen wie elektrisirt empor und sehen dicht unter sich auf dem Wiesenpfad den Reiter, dessen Roß wild in die Höhe bäumt und sich endlich mit ihm überschlägt.
Weit in die Wiese hinein geschleudert lag regungslos der Verunglückte, als hätte ein tödtliches Geschoß seine Brust getroffen. Dolorida, vor Schreck einer Ohnmacht nahe, verbarg ihr Gesicht an Oliver’s Schulter.
„Wahrlich, die Tollkühnheit ist dem Reiter schlecht bekommen,“ rief Oliver bestürzt, während der kühne Renner im Sturmgalopp mit flatterndem Schweife von dannen sauste.
[308] „Wir müssen ihm helfen,“ rief Dolorida, zu sich kommend.
„Sicher sind Leute in der Nähe!“
„Dort auf der Wiese? Kein Mensch!“
„Mir werden Andere zuvorkommen.“
„Um so besser. Zögere nicht, sei barmherzig, wie Du es immer bist ich bitte Dich! Vielleicht ist er todt! – Ich rufe Elias, daß er Dich begleite.“
Sicher würde Oliver sich nicht haben nöthigen lassen, aber er mußte vorsichtig sein. Durfte er auch ohne Gefahr in der Gegend umherziehen und den Kranken Hülfe bringen, so war es doch etwas ganz Anderes, einen Patienten in sein Haus nehmen. Allein was halfen diese Betrachtungen jetzt! Er konnte Dolorida’s Augen nicht widerstehen.
Auf ihren Ruf war Elias, ein kurdischer Diener, herbeigeeilt.
„Darf ich nicht mit Euch gehen?“ fragte Dolorida schüchtern.
„O nicht doch,“ sagte Oliver bestimmt, – „er könnte arg verletzt, ja verstümmelt sein, Deine Nerven sind zu zart für solchen Anblick. Geh auf Dein Zimmer, die Sonne ist unter, der Thau fällt naß. Ueberlaß mir jede weitere Sorge.“
Dolorida senkte schweigend den Kopf und kehrte traurig durch den Garten in die Villa zurück. Sie hatte nie gewagt, Oliver’s Befehlen auch nur den leisesten Widerspruch entgegen zu setzen. Die Negerin aber war entschlossener als ihre Herrin und neugieriger. Als nach zehn Minuten Stimmen und Schritte im Garten hörbar wurden, flog Messaouda hinab, um, wie sie sagte, ihrer Dame Bericht zu erstatten.
Oliver und Elias trugen einen ohnmächtigen jungen Mann an ihr vorüber; kaum ward Oliver der Dienerin ansichtig, als er ihr mit bedeutendem Blick zuflüsterte: „Messaouda, bereite diesem Fremden, der den Arm gebrochen hat, im Erkerzimmer ein Lager.
Hafte mir mit Deiner Seele dafür, daß Deine Gebieterin ihn nicht sieht; sein Anblick würde ihr schaden. Du weißt, wie bedenklich ihr Zustand ist; – bewache sie sorgfältig.“
Die Schwarze küßte Oliver´s Mantelsaum mit Unterwürfigkeit und folgte auf den Zehen beiden Männern, die den Bewußtlosen in das Haus, die gewundenen Stiegen hinan trugen. Seltsame Gedanken gingen ihr wie ein Fieberstrom durch den Kopf.
Oliver befand sich in einer kritischen Lage; ein Fremder plötzlich unter seinem Dache; – wie sollte er Dolorida’s Fragen nach dem Kranken ausweichen? Ihr Wunsch, ihn zu sehen und zu pflegen, konnte nicht ausbleiben. Eifersucht, Furcht und Ungewißheit trieben ihn wie mit Geißelhieben vom Bette des Patienten, bei welchem er die Nacht durchwachte. Den Kranken schon am andern Morgen wieder fortzuschaffen, wäre zwar möglich, aber grausam und auffallend gewesen und hätte der Geliebten Abscheu, wohl gar Haß gegen Oliver eingeflößt. Er schauderte aber selber um so mehr vor einem solchen Schritt zurück, da tausend Stimmen in seiner Brust für den blassen jungen Mann sprachen. Vom ersten Augenblick an, wo er den Verunglückten auf der Wiese gefunden, und Jener, noch bei Besinnung, ihm dankbar lächelnd die Hand gedrückt hatte, fühlte der Arzt sich wunderbar ergriffen, ja hingerissen. Er bequemte sich daher, seine Rolle geduldig bis zu Ende zu führen.
Wohl erkannte er in dem Patienten einen Europäer, doch diese Entdeckung erhöhte seine Sympathie und besiegte endlich das Widerstreben, mit welchem er den Fremden in seine unzugängliche Häuslichkeit aufgenommen hatte.
Nach mehreren Stunden – um Mitternacht – kam der junge Mann zu sich, richtete sich in den Kissen auf und zeigte eine klare Besinnung, obgleich eine sichtliche Erregung ihm das Blut in die Wangen trieb und sein Athem sehr kurz ging. Er dankte seinem Pfleger in sehr gutem Französisch mit der rührendsten Erkenntlichkeit; Oliver, der seinen Arm untersucht hatte, gab ihm die Versicherung, der Bruch sei ungefährlich und empfahl ihm die größte Ruhe.
Der Kranke, voller Geduld und Hingebung, bat Oliver, sich schlafen zu legen, denn er wollte selbst noch einige Stunden vor Sonnenaufgang der Ruhe genießen.
Oliver ging in ein Nebengemach und warf sich angekleidet auf das Bett. Nach kurzer Zeit aber vernahm er in dem Krankenzimmer ein heftiges Stöhnen, ein tiefes, schmerzliches Seufzen; es klang, als beschwöre eine verzweifelnde Seele im Todeskampf eine andere ewig Verlorne, unversöhnliche Seele.
Olivern ging es durch Mark und Bein; er sprang auf und eilte zu seinem Gast. Er fand ihn anscheinend ruhig schlummernd; nur seine Hände lagen convulsivisch geballt auf seiner Brust.
Kopfschüttelnd stand Oliver neben ihm.
„Ihn quälen nicht physische Schmerzen,“ sagte er beim Anblick des Schlafenden; „ein böser Traum scheint ihn zu ängstigen. Ich kenne solche Leiden!“ setzte er leise hinzu. „Doch werden sie den meinigen nicht gleich kommen. Aber eine so reine, faltenlose Stirn verbirgt keine lichtscheuen Gedanken; – sein Kummer ist milderer Art, vielleicht „sanft wie Erinnerung an begrabne Liebe“?“
Und mit Rührung im Auge blickte Oliver in das Antlitz des jungen Mannes, der wie schlaftrunken vor ihm lag.
„Wie schön er ist! – Nie darf Dolorida ihn erblicken, niemals!“ so flammte die Leidenschaft tödtlicher Eifersucht in ihm auf.
Wie aber ward ihm am nächsten Morgen, als sein Patient, der sich der schmerzlichen Einrenkung des Arms, ohne nur eine Miene zu verziehen, unterworfen hatte, ihn plötzlich im reinsten Englisch anredete, mit dem Bemerken, Oliver sei ihm in Damaskus als der weise, englische Arzt Mac Johnson bezeichnet worden. Glücklicherweise verlor Oliver nicht seine Geistesgegenwart; außerdem legte sich sein Mißtrauen nach den ersten Gesprächen mit Lord Douglas, der zwar seiner Aussage nach in London geboren war, seit seinem sechsten Jahre jedoch in Ceylon gelebt hatte. Ohnehin gewann Oliver aus dem liebreichen Wesen des Lord die feste Ueberzeugung, dieser könne sein böser Engel nicht sein und ihn niemals verrathen.
[334] Der Abend des zweiten Tages, an welchem Douglas Oliver’s Gastfreundschaft genoß, war angebrochen. Der Lord, von der aufopfernden Pflege seines Wohlthäters unterstützt, hatte sich vom Lager erheben können und saß am offnen Fenster, von wo aus er den reizendsten Anblick über die Guta gewann. Er war allein. Oliver erging sich im Garten. Draußen auf der Schwelle des Krankenzimmers lag der Kurde, einem Cerberus gleich den Eingang versperrend.
Der Genesende saß da wie ein Gefangener, der Pläne schmiedet, wie er seine Ketten brechen und die Freiheit erringen kann.
„Schon zwei Tage unter einem Dache mit ihr,“ seufzte er vor sich hin, „und keinen Schritt weiter? Ob ich sie auch wiedersehe? Ach, mich hat nur ein Traum geneckt, wie es seitdem so häufig der Fall gewesen! Dennoch – der Stich drang zu tief in mein Herz, und eher risse ich es mir aus der Brust, als ohne Aufklärung von dannen zu gehen!“
Oben auf der Blumenterrasse lehnte Dolorida unter den Fächerpalmen. Messaouda hatte nichts gespart, ihre Neugier in Betreff des schönen Fremden zu reizen; denn folgte sie auch der That nach ihres Herrn Befehl, den Worten nach war sie doppelt ungehorsam. Warum preßte Dolorida die kalten, weißen Magnolienrosen an ihre brennenden Lippen, daß die zarten Kelche unter ihrem sengenden Kusse vom Stengel fielen? Welch einen Sturm in ihrem Busen galt es zu beschwören? Da stiegen leise, hingehauchte Töne eines Liedes zu ihr empor, wie ein Klang aus der Heimath, dem Verbannten von Freundeslippen vorgesungen.
Dolorida lauscht mit vorgebogenem Halse – – Weiter singt es, immer weiter, es ist die Melodie eines irischen Volksliedes: „Letzte Rose!“ klingt es zu ihr empor. Es sind die Worte von Thomas Moore, – wer in England kennt nicht die „letzte Rose“? Und als überfluthe Dolorida ein Strom von Rosenblättern, so, in fassungsloser Ekstase, die Arme zum Himmel empor geworfen, das Auge in den Wolken irrend, brach sie in die Kniee zusammen.
Jetzt schwieg der Gesang. Todesangst überkam Dolorida, – beide Hände führte sie an ihre Schläfen, – – die Mandoline fällt ihr in die Augen, ihre Blicke glänzen, und im nächsten Augenblick greifen ihre Finger jauchzend in die Saiten: sie antwortet in derselben Melodie, aber schon nach den ersten Takten schwimmt es ihr vor den Augen, ihre Kräfte verlassen sie, noch haucht sie einen wilden Kuß auf die Mandoline, dann greift sie in die leere Lust, als wollte sie ein Phantom festhalten, um sich daran zu klammern, und in tiefer Ohnmacht sinkt sie auf die Porcellanfliese der Terrasse.
Leidenschaftlich zieht ein Arm sie empor. Ist es ein Liebender oder ein Rasender, der die Erstarrte so gewaltsam liebkost, durch so stürmische Küsse sie erwecken will? – Lord Douglas ist es, der die Antwort auf sein Lied vernommen, der an Elias vorüber den Weg nach der Terrasse gefunden hat, Douglas, der mit tobtenblassen Lippen schluchzt: „Ellen, Ellen! Du!! – Ist Dein Herz gebrochen? O erwache ein zweites Mal für mich vom Tode, – höre mich!“
Der Verband hat sich von seinem linken Arm gelöst, er fühlt es nicht. Stürzte der Himmel ein, er ließe Dolorida nicht los, er ließe sich mit ihr von den zermalmenden Blitzen zur Untiefe schleudern, ehe er seine Lippen von den ihrigen löste. Allmählich theilte sich der Feuerstrom seiner Leidenschaft der Bewußtlosen mit; sie schlug die Augen auf, und ohne Verwunderung, aber mit tiefster Ueberzeugung, schmelzendster Zärtlichkeit flüsterte sie: „Bist Du es endlich? Was ließest Du mich so lang in seiner Gewalt? Laß uns fliehen, bevor er wiederkehrt!“
„Ellen! Mich faßt ein Wahnsinn! Was ist geschehen? Wandeln wir noch auf Erden, sind wir Beide hinübergegangen? Was ist Tod – was ist Leben? Gott, Gott, ich weiß es nicht mehr!“
Keine Antwort wartete er ab, keine Antwort gab sie, in überschwenglich seligem Schweigen starb jedes Wort hin –
„Dolorida!“ tönte eine Donnerstimme. Oliver stand neben den Beiden; er vernahm ihre sinnverwirrenden Liebesworte, er sah ihre Küsse sich begegnen. „Ihr Gatte!“ gellte es dröhnend durch sein Inneres – wüthend warf er sich zwischen sie und riß Dolorida aus Douglas’ Armen. Dolorida’s trostlosen Hülferuf erstickte Oliver, [335] indem er ihr krampfhaft ein Tuch auf den Mund preßte. Außer sich stürzte Douglas auf den Arzt, ihm Dolorida zu entringen.
„Hinweg!“ stöhnte Oliver und knirschte mit den Zahnen.
„Sie ist mein Eigenthum! Sie ist mein Weib! Ellen, her zu mir, in meine Arme!“ So rief der junge Lord, der plötzlich alle Fassung wiedergefunden hatte. Er stand Olivern gegenüber, kühn den Kopf erhebend, gebietend wie ein Gott. „Sie ist mein Weib, so wahr mir Gott helfe!“ Und er ergriff Dolorida’s herabhängende Hand. Aber Oliver schleuderte ihn fort, trat mit der Ohnmächtigen an den Rand der Terrasse, unten brauste der Baradâ vorbei, und hoch in beiden Armen hielt er Dolorida über der schwindelnden Tiefe empor – „Noch einen Schritt, noch ein Wort, einen Blick – und sie liegt drunten in der Fluth!“
Vernichtet wankte Douglas zurück, schwindelnd that er einige Schritte gegen den Ausgang; doch die Füße trugen ihn nicht, er fiel zu Boden. Wie der Geier die Fittiche über seine Beute zusammenschlägt, so schlug Oliver den Mantel um die Unglückliche und verschwand mit ihr hinter dem Vorhang der Balconthür.
Jählings bricht im Süden die Finsterniß herein; keine allmählich zunehmende Dämmerung geht der Nacht vorauf, heftig und rasch sind die Uebergänge. So plötzlich, in nachtschwarzes Dunkel getaucht, lagen vor Oliver Gegenwart und Zukunft, ebenso wie die Vergangenheit. Schob er auch triumphirend den Riegel vor Dolorida’s Gemach, nur zu bald verlor sich seine ohnmächtige Siegesgewißheit, sie wich der nagendsten Eifersucht und Gewissenspein. „Ein Blick auf ihn genügte, sie mir in Ewigkeit zu entreißen!“ so brannte es in der Seele des Mannes, der aus Liebe zum Verbrecher geworden war. Schaudernd trieb es ihn von Dolorida hinweg; entsetzt vernahm er, wie sie nach dem Gatten rief, wie ihre ganze Vergangenheit plötzlich aus dem Chaos langer Verworrenheit hellglänzend emporstieg. Er mußte hören, wie sie ihr erstes Begegnen mit Douglas beschrieb, ihre beiderseitige Liebe unter den Tropenblumen von Ceylon – – – Und rief Oliver verzweifelt „Dolorida!“ dazwischen, so entgegnete sie mit Abscheu:
„O nicht diesen Namen mehr! Wohl konntest Du mich Dolorida, die Schmerzensreiche, nennen, er aber nennt mich Ellen! Diesen Namen hat ein Seraph an meiner Wiege gesungen! Ellen heiß’ ich! Gieb ihn, gieb mir meinen Gatten wieder!“ flehte sie zu seinen Füßen und umschlang seine Kniee.
„Dolorida, ich kann Dich nicht lassen!“
„Nicht Mann – nicht? Nun denn, so fluch’ ich Dir!“
Von diesem Fluch bis in’s Innerste durchzuckt, stürzte Oliver auf die Terrasse zurück, um Douglas zu suchen. Die Terrasse war leer ... Eine Blutspur schimmerte auf den Porcellanfliesen ... Es überlief Oliver eiskalt ... Da regte sich’s hinter ihm ... eine schwarze Hand ließ einen Brief in seinen Schooß fallen. Oliver las: „Sir! Hier liegt ein entsetzliches Geheimniß, ein Verbrechen vor; doch vielleicht sind Sie ebenso unschuldig wie ich! Im Namen der göttlichen Barmherzigkeit beschwöre ich Sie, mir zu antworten. Ich bin kein Ehrloser, kein Wahnsinniger, der mit dem ersten Blick auf seines Nächsten Weib in eine sinnlose Leidenschaft verfällt.
Hören Sie meine Geschichte und dann richten Sie. In meinen, zwanzigsten Jahre verheiratete ich mich mit Ellen, Miß Dudley, einem Wunder von Schönheit, o mein Herr, und zum Verwechseln mit jener Dame, die Sie Ihre Gattin nennen. Diese gleicht der Verstorbenen Zug für Zug; nur blühender, voller war Lady Douglas, als ich mich vor zwei Jahren von ihr trennte. Das Klima von Ceylon – ihr Vater war daselbst Gouverneur – wirkte nachteilig auf ihre Gesundheit; ich mußte sie in Begleitung meiner Schwester und eines treuergebenen Dieners nach England schicken; niemals hätte ich sie allein ziehen lassen, wenn meine persönliche Gegenwart in Ceylon eines wichtigen Processes wegen nicht unerläßlich, und wenn es nicht bestimmt gewesen wäre, daß ich ihr in drei Wochen folgen sollte. So geschah es; bereits nach vierzehn Tagen zog mich die Sehnsucht ihr nach. Doch trieb ich während eines Monates auf der See umher, – in London fand ich nur – ihr Grab. Sinnlos warf ich mich auf den Rasenhügel und riß Blumen und Gras aus der frischen Erde; man trug mich für todt aus dem Friedhof. In wilder Verzweiflung habe ich seitdem – Linderung meiner Schmerzen suchend – die Länder durchirrt; so bin ich hierhergekommen. Und hier erblickte ich Ellen, denn es ist ihr Auge, ihr Haar, es sind ihre Lippen! Einmal dieses süße Wesen geschaut, und man muß sterben vor Sehnsucht oder es besitzen. – Mich warf die Allgewalt dieser Aehnlichkeit, der Umstand, die Todte lebend zu finden, zu Boden. Sie retteten, pflegten mich! Gott weiß, ob ich gerührt davon bin! Vergeben Sie, daß ich nicht widerstand, als ich die Klänge der Cither hörte, die meinem Liede antworteten. Ich folgte der Melodie, ich fand Ellen, mein Weib, meine Todtgeglaubte! Sie selbst wissen, daß sie entseelt vor Entzücken mir um den Hals gesunken ist – – –
So weit mein offenes Geständniß. Sein Sie eben so wahr und offen! War Ellen scheintodt und wurde sie durch Ihre Kunst in’s Leben zurückgerufen? Lockten Sie sie durch Magnetismus an sich? Spielte eine höllische Intrigue, eine dämonische Macht diese Frau in Ihre Hände? Reden Sie, ich komme nicht zu richten.
Reden Sie, wo nicht, hab’ ich keinen andern Ausweg aus diesem Labyrinth, als den Selbstmord.
Ich harre Ihrer Antwort in dem Hause an der Fontaine.
„Will das Schicksal mich mit mir selbst versöhnen, indem es mir das Mittel bietet, meine Schuld zu sühnen? – Werden die Beiden, die ich getrennt, mich segnen, wenn ich ihre Hände von Neuem ineinander lege?“ Bittere Thränen rangen sich aus Oliver’s fieberheißen Augen. Er trat an die offene Thür; die ersten schweren Tropfen eines Gewitterregens fielen auf die Terrasse; balsamisch dufteten Blumen und Pflanzen zu ihm empor; – er breitete beide Arme nach dem Garten aus, als wolle er noch einmal alle seligen Stunden, die er dort genossen, an sein Herz ziehen; der Todesschmerz eines furchtbaren Abschieds zerwühlte seine Brust. Einem übermenschlichen Kampf zum Raube biß er sich auf die Lippen, daß das helle Blut heraussprang; – convulsivisch griff er nach einem seidnen Gürtel der Geliebten, der am Boden lag, er preßte das goldene Band an den Mund, und dann, wie der sterbende Gladiator sich noch einmal emporrichtet, riß er sich in die Höhe, eine stolze Gestalt, hochaufgerichtet, wie in Erz gegossen.
Aber wie hoch sie sich auch emporraffen, wie erhaben sie auch scheinbar überwinden, die Sieger des blutigen oder des geistigen Kampfes, glaubt ihnen nicht, die ihr sie so unerschüttert stehen seht; – der tödtliche Stoß hat getroffen; – der Fechter verblutet an seiner Wunde, der Andere an seinem Opfer. – Langsam zog Oliver eine kleine krystallene Phiole aus der Brusttasche, ähnlich den platten Rosenölflacons. Er hielt die Flüssigkeit, die durch das Glas schimmerte, gegen das Licht. Ein schmerzlicher Hohn zuckte in scharfer Linie um seinen Mund.
„Darum also wäre ich bis auf die höchste Staffel meiner Wissenschaft gestiegen? Darum hätte ich geschaut, was Andern verborgen blieb, um hiermit zu enden?“ Er steckte das Gift wieder zu sich und ging dem Hause zu, wo Douglas auf ihn wartete.
„Junges Blut,“ sprach er unterwegs vor sich hin, „wie schwer Du auch leidest bei Deinen vierundzwanzig Jahren, glaube mir, der Vierzigjährige ist doch elender als Du!“
So kam er, eine Hölle von Schmerz im Busen, bis an das Haus neben dem Brunnen, ein dunkles, einsam stehendes Gebäude, welches der Lord seit dem Tage, da er Dolorida von weitem erblickte, gemiethet, und wo er oft die Nacht zugebracht hatte. Wenige Schritte vor diesem Hause trat Lord Douglas Oliver entgegen.
„Sir,“ begann Percy Douglas, den Arzt am Arme fassend, „nehmen Sie mein Leben, nur noch einmal lassen Sie mich sie sehen – von weitem – wie es sei –“ Die Stimme versagte dem Flehenden; er fiel Oliver zu Füßen mitten auf dem Wege.
„Sie werden sie sehen!“ sprach Oliver und zog ihn empor; Hand in Hand kehrten Beide in die Villa zurück. Sie traten in des Arztes Arbeitszimmer. Die Lampe, mit duftendem Oel genährt, beleuchtete hell die geisterbleichen Gesichter der beiden Männer.
„Mylord,“ begann Oliver nach einer Pause, „vor zwei Jahren lebte ich in London. Mir wurde zur Nachtzeit – wie öfters von bestochenen Todtengräbern – eine Leiche zum Seciren in’s Haus gebracht. – Diese Leiche lebte auf. – Dieselbe Leidenschaft, die Sie für Lady Douglas fühlten, ergriff mich; – ich ward zum Leichenräuber; – ich entfloh mit ihr. Dolorida ist Ellen!“
Dem ersten Impulse folgend, stürzte Douglas auf Oliver und packte ihn, als wolle er ihn zerreißen, als gäbe es keine andere Erwiderung auf das Geständniß des Arztes. Doch Oliver hielt mit herculischer Kraft Percy von sich zurück, und der Lord stöhnte, [336] auf einen Sitz niedersinkend: „Widerrufen Sie das schreckliche Wort, denn, bei Gott, der Gedanke läßt sich nicht fassen!“
Oliver schwieg.
„Sie konnten es über’s Herz bringen, verbrecherisch in das Rad des Schicksals einzugreifen? – O, o – mir schaudert vor Ihnen; – es kann nicht sein!“ rief Percy entsetzt.
Oliver antwortete nicht.
„Vampyr, Du hast das Grab geöffnet, Du hast Ellen’s Herzblut getrunken? So fließe auch Dein Herzblut! O, wie klein, wie winzig ist diese Rache für zwei elend im Delirium hingeschleppte Jahre eines solchen Gebens! Wehe Dir, Elender!“
„Wohlan, gehen Sie zum Consul, klagen Sie mich an; was liegt daran, daß ich gebrandmarkt werde, da man sie von mir zurückfordert –“
„Nicht den Gerichten gönne ich die Rache – ich selbst will Dich zerfleischen mit diesen Händen. – Es gilt einen Kampf auf Tod und Leben, rüste Dich!“
Oliver, der seine Schuld freiwillig bekannt, der bereits das Opfer der Entsagung gebracht hatte, ihn empörte diese blinde Wuth. In fiebernder Erregung hatte er zwei Pistolen von der Wand gerissen. Douglas ergriff die eine. Da erschien Dolorida auf der Schwelle des Zimmers.
„Percy, mein lieber Percy! Ich bin Ellen, Deine Ellen! – Deine Gattin!“
Douglas ließ die Waffe sinken und, der Sinne nicht mehr mächtig, riß er die Gattin an sich.
„O, nimm sie hin,“ so bebten Oliver’s Lippen, „nimm sie hin, Seligster dieser Erde! Ich überliefere mich selbst dem Gericht, ich will, daß meine Schuld bekannt werde, denn,“ schrie er Douglas in’s Ohr, – „ich will, daß die Welt erfahre: Lady Douglas war die Geliebte Oliver’s’, war freiwillig seine Geliebte!“
„Bube!“ donnerte der Lord ihm zu, „sage, Ellen, daß er lügt, oder –“
Er erhob die eine Pistole, Oliver griff unwillkürlich nach der andern. … Aufschreiend warf sich Dolorida zwischen die Feinde und hielt ihres Gatten Arm fest. Douglas, längst betäubt und verwirrt von dem grauenvollen Auftritt, mißverstand in seiner Raserei Dolorida’s Absicht, die nur ihn schützen wollte, und stieß mit steigender Hast Frage um Frage aus:
„Spräche er Wahrheit? Wußtest Du, was Du thatest? Gingst Du in seine Höllenpläne ein? Besiegte der Mann mit magnetischem Blick die Erinnerung an mich? Siegte er über den unerfahrenen Jüngling, der nur lieben, nicht bestricken konnte?“
Dolorida hing sich flehend an ihn; er drückte sie wild von sich.
„Geh, geh – nicht diese schmelzenden Blicke! Man glaubt solchen Augen und ist betrogen.“
„Percy, mein Geist war umnachtet! Ich war ein willenloses Geschöpf – ohne Erinnerung des Vergangenen.“
„Geh, ich habe Dich nie gekannt, nie an Deinen Lippen gehangen, nie meine Stirn gebadet in diesen Lockenwellen – – ich verleugne Dich!“
Er stürzte aus dem Zimmer. Oliver war auf einen Stuhl gesunken. Dolorida stand mit verstörtem Gesicht, mit aufgelösten Haaren, mit gesunkenem Haupte vor ihm.
„Oliver,“ hauchte sie endlich mit Anstrengung, „Oliver, höre mich! Entweder tödte mich oder laß mich ihm nachfolgen – ihm gehöre ich an – ohne ihn kann ich nicht länger leben.“
Oliver richtete sich empor, stand auf und ging, ohne die Lady anzusehen, nach der Thür. Er öffnete dieselbe und sagte kalt: „Zieh hin – ich habe ferner keine Macht über Dich. Du wirst den Weg finden. Die Allee hinab, wo das Licht schimmert an der Cisterne, jenes Haus – dort findest Du ihn!“
Noch hoffte er, Dolorida würde nicht den Muth haben, in die finstere Nacht hinauszugehen. Er täuschte sich. Sie knieete vor ihm nieder, nahm seine Hand, drückte sie an ihr Herz und flüsterte: „Ich gehe, Oliver – Du oder Percy, Einer muß verzweifeln. Du hast mich heiß geliebt, ich weiß es; nur aus Liebe sündigtest Du. Gott wird Dir vergeben.“ Sie drückte einen brennenden Kuß auf Oliver’s Hand. Er fühlte es nicht mehr. –
„Du thust nur, was recht ist,“ sprach er mit starrer Verzweiflung, „Du gehst zu Deinem rechtmäßigen Gatten, Du stößest den Räuber von Dir – vollende Dein Werk, liefere mich der Gerechtigkeit aus.“
„O Gott im Himmel,“ rief die Jammernde, „nicht diesen Hohn! Nein, nein, so klein, so erbärmlich denkst Du nicht von mir! Du hast mein Herz beherrscht mit Deinem Genie, mit Deiner Güte – bis er kam und mit ihm die alte Liebe – – wie konnte ich anders, Oliver.“ –
Sie erhob sich und schritt dem Ausgange zu. Doch einmal noch kehrte sie zurück, beugte sich angstvollen Blickes zu Oliver und breitete die Hände über die Pistolen auf dem Tische. Worte hervorzubringen vermochte sie nicht mehr.
„Sei ruhig!“ erwiderte er sanft. Daß die Scheidende um ihn bangte, beseligte ihn noch in jenem Augenblick. Er trat an das Fenster und feuerte beide Pistolen in die Dunkelheit ab.
„Dir bleibt Deine Wissenschaft, ein Leben voller Erhabenheit,“ schluchzte sie mit überfließender Seele, „kehre zur Heimath, zu altem Ruhme und neuem Wirken zurück; – wir haben nur unsere Liebe, – gönne sie uns!“
Umsonst harrte sie einer Entgegnung, eines Trostwortes, eines Händedrucks – Oliver war wie empfindungslos. Sie ging aus der Villa. ... Und er blieb allein. ... Ihr leichter Schritt war nicht verhallt, als Oliver die Phiole hervorzog und ihren Inhalt in raschen, gierigen Zügen trank. –
Das Gewitter hatte sich in einen Wolkenbruch aufgelöst, der die ganze Guta unter Wasser setzte. Eisiger Wind blies von Norden her; – ängstlich zogen sich die Damascener in ihre festverschlossenen Häuser zurück; – es war ein Unwetter, als solle die Welt untergehen. Erst gegen Tagesanbruch legte sich der Orkan; erst gegen Tagesanbruch kehrte Douglas in sein Haus zurück; verzweifelt war er in Regen und Sturm hinausgestürzt und während der ganzen Nacht umhergeirrt.
Auf der Schwelle seines Hauses fand er Dolorida todt hingestreckt. Sie hatte die Thür verschlossen gefunden und nicht eintreten können. „Lieber sterben, als zu Oliver zurück!“ war ihr letzter Hauch gewesen. Kälte und Regen, nach einer Aufregung, die ihr Blut in einen Feuerstrom verwandelt hatte, gaben ihr den Tod. – Douglas verlor sie zum zweiten Male.
Einige Zeit später sah man hinter den zartbelaubten Zweigen der durchsichtigen Blätterwand jenes Parks ein räthselhaftes Bild.
Mitten unter prangendem Blumenbeeten eines modernen Gartens erhoben sich auf sammetgrünem Rasen zwei Grabhügel, beide mit weißen Marmorkreuzen geschmückt, von frischen Kränzen und Guirlanden überschüttet; zwischen diesen beiden Gräbern zeigte sich eine offene Grube mit Granit ausgelegt, die auf den Sarg zu warten schien. Am Rande dieser Grube saß ein bildschöner, junger Mann in weißer Kutte und braunem Burnus, nicht anders, als harre er auf den Augenblick des Todes, um in dem dritten Grabe seinen Platz einzunehmen. Es war Douglas.
Unfähig, sich von der Stätte, wo er sie gefunden und abermals verloren, zu trennen, schloß der Lord sich in der Besitzung Oliver’s vor der Welt gänzlich ab, nur der Pflege beider Gräber hingegeben, in deren Mitte er eigenhändig ein kühles Bett für sich gegraben hat. Ohne jemals mit einem Menschen zu sprechen, anscheinend stumpf und theilnahmlos, verwendet er sein großes Vermögen auf die Unterstützung armer Pilger von Mekka und Jericho, auf die Krankenpflege und gottgefällige Werke, um den Damascenern einigermaßen den schweren Verlust des berühmten Arztes, des abgeschiedenen Oliver, zu ersetzen. Oft, im Mondschein, hält er halbvernehmliche Gespräche mit den Geistern der Verstorbenen; wer seine Geschichte nicht weiß, könnte ihn für glücklich halten, so verklärt ist dann sein Antlitz. Aber er schwindet zusehends dahin, und bald wird er den ersehnten Platz unter dem Rasen einnehmen.
Wer denkt hier nicht an Shakespeares Worte:
Sich härmend und in bleicher, welker Schwermuth,
Saß er, wie die Geduld auf einem Grab,
Dem Grame lächelnd.“