Zwei Schweizermädchen
[567] Zwei Schweizermädchen. Die Zeiten der Geßner’schen Idylle und der sentimental-naiven Anschauungen, denen z. B. eine Oper, wie die Winter’sche „Schweizerfamilie“, ihre Entstehung und den Beifall des Publicums verdankte, sind längst vorüber. Wie Alles in der Welt der Mode unterworfen ist, so kamen auch in unserer Literatur die Schweizermädchen aus der Mode – und wie sie in den letzten Jahren wieder darin erschienen, in den Dorfgeschichten ihres Landsmannes Jeremias Gotthelf, war es eine andere Generation. Der Realismus hatte die Idylle vertrieben und oft die Poesie mit ihr. Es war eine natürliche Reaction, die in solchen Fällen noch immer erfolgte. Die zarten zerbrechlichen Gestalten der einstigen Alpenhirtinnen traten als plumpe Bauerdirnen vor uns hin, die weder für das Theater noch für die feinen Stahlstiche der eleganten goldbedruckten Taschenbücher passen wollten – und mit verächtlichem Lächeln wendete man sich ab von den naturwüchsigen Töchtern der Alpen, die man einst zu feenhaften Geschöpfen idealisirt hatte. Aber, wie immer, liegt auch hier die Wahrheit in der Mitte. Die Schweiz ist uns kein verschlossenes Wunderland mehr, wenn sie auch immer und ewig ein Wunderland bleiben wird! Es sind nicht nur wenige Auserwählte, Glückliche, welche es zu sehen bekommen. Tausende reisen alljährlich auch aus Deutschland dahin und lernen aus eigener Anschauung kennen, was früher nur von einigen Touristen gesehen und geschildert ward und was die Dichter nur aus Büchern kannten und durch ihre blühende Phantasie oft mährchenhaft ergänzten. Finden wir nun auch bei eigner Anschauung in den Schweizermädchen keine zerbrechlichen niedlichen Nippesfigürchen, sind es meist starkknochige robuste Gestalten, so ist ihre Landestracht, nach den verschiedenen Cantonen verschieden, doch immer poetisch und ideal, besonders den geschmacklosen unserer sächsischen Landmädchen gegenüber, und wir sind immerhin genöthigt, den Schweizerinnen manchen Vorzug zuzugestehen.
Und so will ich auch jetzt von zwei Schweizermädchen erzählen, die dem Canton Graubünden angehören.
Der Canton Graubünden ist einer der merkwürdigsten Cantone der ganzen Schweiz. Auf einem Flächenraume von kaum anderthalb hundert Quadratmeilen finden wir ein verworrenes Labyrinth der Thäler, von den höchsten Bergen eingezäunt. Schon der Gothenkönig Dietrich von Verona nannte dies Land ein Netz (retia, daher Rhätien genannt) aus Gebirgen gestrickt. Die Berge erstrecken sich meist jäh und kühn in zackigen Formen vom niedrigsten Thalboden bis in die höchsten Lüfte. Ewiger Schnee deckt ihre mehr denn 13,000 Fuß hohen Gipfel. Schneefelder und Gletscher senken sich von ihnen herab. Aber unten in den Thälern ist eine üppige Vegetation reifer Früchte des Südens und auf den Almen finden unzählige Heerden ihre Weide. Darin besteht der eigentliche Reichthum des Landes. Eben so verschieden wie sein Klima und sein Boden sind auch seine Bewohner. Einige sprechen italienisch, Andere deutsch, noch Andere uraltladinisch und romanisch, welches sich aus Jahrhunderten vor unserer [568] Zeitrechnung erhalten hat, da der rhätische Volksstamm der Hetrusken vor den Grausamkeiten der Galen aus Italien in diese Wildnisse floh. Jede dieser Sprachen spaltet sich nach den Thälern wieder in besondere, oft stark abweichende Mundarten. Die Hälfte der Bewohner ist katholisch, die andere reformirt.
Einige Stunden abwärts von dem Ursprunge des Inn oder Oen, der aus dem dunklen stillen Bergsee Lago di Lugni fließt, liegt am Fuß des Berges Albula im obern Engadin dicht am Inn das Dörfchen Maduleine und am jenseitigen Gebirge, im Schatten seiner Arvenwälder, das Dorf Camogasco. Gegenüber, auf hohem Felsenhügel, zwischen Gebüschen ragt die Ruine der Burg Gardovall düster über das Thal hinweg, ein viereckiger wohlerhaltener Thurm unter anderem verfallenen Gemäuer. In Camogasco wohnte einst das schönste Mädchen des Thales. Es blühte wie eine Blume in Liebreiz, Anmuth und Bescheidenheit still verborgen und sorgsam gepflegt in der Hütte seines Vaters Adamo, eines hochgeachteten Landmannes, der auf dem Erbgute seiner Altvordern unabhängig saß und immer da der Erste war, wo Hülfe in der Noth, Rath und Beistand, Muth und Entschlossenheit verlangt wurde. Er liebte und hütete seine Tochter, wie seinen Augapfel, die noch von keiner anderen Liebe wußte, wie der zu ihrem Vater, obwohl die Augen aller jungen Engadiner mit Wohlgefallen und mit Bewunderung, doch auch bescheidener Zurückhaltung an ihr hingen.
Aber, da sah sie auch der Edelherr vom Schlosse Gardovall, der Burgvogt des Gotteshauses, der hier unumschränkt herrschte, Willkür und Gewaltthat übte und zu den Lüstlingen gehörte, vor denen keine Schönheit sicher ist. Schon mehr als einmal war er ihr begegnet und die wildeste Leidenschaft in ihm aufgewacht. Aber der Zauber ihrer Unschuld und Sittsamkeit hatte ihn in Schranken gehalten. Aber bald grollte er mit sich selbst, daß ein einfaches Dorfkind es wagen dürfe, ihm zu widerstehen. Was er Aug’ im Auge nicht den Muth hatte ihr zu sagen, sollten Andere für ihn thun. So sandte er seine Knechte nach Camogasco und ließ Adamo’s Tochter zu sich auf sein Schloß entbieten, sie solle bei ihm wie eine Fürstin leben.
Adamo erschrak nicht weniger als seine Tochter über diese Botschaft. Aber er verbarg vor den Ueberbringern derselben seine Bestürzung und ließ dem Burgvogt sagen, er möge sich nur bis zum Morgen gedulden, dann wolle er ihm die Tochter selbst zuführen, die er erst vorbereiten müsse für das unerwartete Glück. Mit dieser Antwort zogen die Diener befriedigt von dannen. Adamo aber durchwachte die ganze Nacht und ging in seinem Dorfe aus einer Hütte in die andere. In den ersten Sonnenstrahlen des Morgens schritt Adamo festlich gekleidet durch’s Thal von Maduleine, an seiner Seite die schöne, wie eine Braut geschmückte Tochter, ein Gefolge von Bauern, alle paarweise, gab ihnen das Geleit, und so bewegte sich der lange Zug zu Schloß Gardovall hinauf.
Der Schloßherr hatte die Nahenden schon von fern gesehen und eilte ihnen ungeduldig aus den Pforten des Schlosses entgegen. Ohne den ehrerbietigen Gruß der Männer zu erwiedern, trat er zu der zitternden Jungfrau, die sich, leichenblaß, an ihren Vater klammerte, wollte sie von diesem losmachen und küssend in seine Arme ziehen. Da hielt der Vater seinen Zorn nicht länger in den Schranken. Er zog einen Dolch hervor und stieß ihn in die Brust des Tyrannen, dem nicht Gottes Gesetz, nicht des Menschen ewiges Recht heilig war. Das war das Zeichen der Landeserlösung. Auch die Männer, die ihn begleitet hatten, zogen ihre Schwerter hervor und drangen in die Thore des furchtbaren Schlosses. Die Rächer schienen aus der Erde zu wachsen. Ueberall, hinter Felsen, aus Dickichten und Gebüschen sprangen bewaffnete Landleute hervor, das Schloß ward erstürmt, die Knechte und Söldner des Burgherrn wurden erschlagen und über den stürzenden Zinnen von Gardovall schwebten gluthrothe Flammen.
Seit jenem Tage wurde das Land unter den Innquellen vom Druck des Zwingherrn befreit. Es kaufte sich um 900 Gulden im Jahre 1494 von den Hoheitsrechten frei, die das Gotteshaus Chur bis dahin darüber gehabt hatte.
Dies ist das eine Schweizermädchen, von dem man in Graubünden erzählt. Der Vergangenheit gehört es an, und die Geschichte hat sogar seines Namens vergessen. Das zweite gehört der Gegenwart, und was dort von der Romantik der Sage umwoben, erscheint hier in der so oft mit Unrecht verschrieenen Wirklichkeit.
Aber es giebt auch kaum eine poetischere Gegend, als dies hier von Romanen bewohnte Engadin- und Albulathal. Es ist eines der schönsten Hochthäler der Schweiz, das in seinem grünen Schooße, 6000 Fuß über dem Meere, zwischen seinen Arven- und Lärchenwäldern und zauberhaften Seen eine Menge freundlicher Dörfer trägt, darinnen die malerischsten Schweizerhäuser und andere von künstlerischerer Bauart, die an die Nachbarschaft Italiens mahnt. Die Firnen und Gletscher des Bernina, Malaja, Sextimer, Albula, Scaletta und vieler andern umfassen das reizende Landschaftsbild wie mit einem ungeheuern Silberrahmen. Und welche Wunder haben hier sonst noch Natur und Kunst gehäuft! Da führt von Chur und Thusis die Straße nach dem Splügen, die herrliche Bernhardinstraße. Da ist die herrliche Via mala. Eine Brücke führt über die schwarze Nolla, die Straße über eine enge Felsenschlucht, in der senkrecht der Rhein braust. Senkrechte, thurmhohe Felswände, nur Holzstangen begrenzen den Abgrund, schwarze Tannen zwängen sich durch bemooste Felsblöcke, und an jener düstern Stelle, „das verlorne Loch“ genannt, scheint sich schauerlich die Welt zu schließen. Aber ein Tunnel führt hindurch. Wie staunenerregend ist der kühne Bau der zwei Rheinbrücken bei Rongella, unter denen 300 Fuß tief der Rhein dahin braust. Dann der Heinzenberg und endlich das Dörfchen Sarn, oberhalb des Albulathales, der Wohnort unseres Schweizermädchens.
Sein Name ist Nina Camenisch, eine Naturdichterin. Es erschien von ihr 1856 in Chur ein Bändchen „Gedichte eines bündnerischen Landmädchens“, herausgegeben von Otto Carisch. Sie ist die Tochter eines Landmannes in Sarn, ward daselbst 1828 geboren, und genoß keinen andern Unterricht, als den ihrer Dorfschule und ein Jahr lang denselben in Bern. Jahr aus, Jahr ein lebt sie bei ihren Eltern in dem kleinen Sarn, und da hier die Landleute keine Mägde halten, wo Töchter im Hause sind, so verrichtet sie den Sommer über jede ländliche Arbeit auf dem Felde, mäht das Heu am Abgrunde, und wendet es auf der Wiese, hütet die Kühe, und beschickt die ganze ländliche Wirthschaft. Im Winter spinnt und webt sie im Hause, und ihr größtes Glück ist es dann, Zeit zum Schreiben und Dichten zu gewinnen. Sie ist zufrieden mit ihrem kleinen stillen Leben, einfach und fröhlich bei der Arbeit. Mit den Ihrigen spricht sie Schweizerdeutsch, doch ist sie auch des Hochdeutschen ziemlich mächtig und schreibt darin. Ihre äußere Erscheinung unterscheidet sich nur durch ein ernstes Wesen von der anderer Schweizermädchen. Ihre Gestalt ist mittelgroß, robust und ziemlich plump, eben so sind ihre Gesichtszüge gewöhnlich, aber mit einem angenehmen, wohlthuenden, wenn nicht anziehenden Ausdruck. Ihr Elternhaus ist ein kleines Schweizerhaus mit niederer enger Hausthür, die in eine enge mit Steinen gepflasterte Hausflur führt. Eine kleine Treppe leitet aufwärts zu einem Vorplatz, von dem eine Thür rechts in die Wohnstube, links in die „gute Stube“ führt, die Nina’s Dichterzimmer ist. Ihr Himmelbett befindet sich darin, eine Lade neben dem großen alterthümlichen Ofen, ein paar Tische und Holz- und Polsterstühle, rings der Wände laufen Bänke, ein Bücherschrank mit schweizerischen Büchern und ein Geschirrschrank. Der Schmuck des Zimmers ist ein ziemlich großer Spiegel, darunter ein paar schlechte Bilder und ein eingerahmtes Zweiglein von Haaren, das auf eine gemalte Lyra geheftet, am Fenster ein rothwollenes Ampelsäckchen mit Schmelz. Und hier dichtet dies einfache Schweizermadchen Gedichte, um die nicht nur unsere dichtenden Salondamen, sondern eben so wohl unsere frommen und glatten Lyriker sie beneiden möchten. Es ist Tiefe der Empfindung, Wahrheit und Natur in diesen Gedichten; eine wahre Frömmigkeit, die eben so innig an den Hochaltären der Alpen betet, als den Frieden und die Resignation des Klosters würdigt (die Verfasserin ist Katholikin); Begeisterung für das schöne Vaterland, auch in seinen historischen Erinnerungen, wie in dem schönen Gedicht „die Schlacht von Granson“, wo sie singt:
„Es ist kein minnig Liedlein,
Klingt leibhaft, wie der Tod;
Doch wie ein Tod von Helden:
Ein herrlich Morgenroth,
Der Freiheit Tag verkündend.
Ihr jungen Rittersleut,
Es ist der Tag von Granson,
Dem ich die Harf’ geweiht!“
Ludwig Storch schrieb neulich einer jungen protestantischen Dame, die durchaus nicht begreifen konnte, daß ein Katholik oder ein Jude in seinem Glauben eben so glücklich leben und sterben könne, wie ein Protestant, folgende treffliche Worte in’s Album:
Der Geist des Alls hat unser Aug’ verhüllt,
Wir suchen ihn, doch auf verschied’nen Wegen.
Wenn Dich die rechte Sehnsucht nur erfüllt,
So kommt er Dir auf jedem Pfad entgegen.
Und wenn Dein Herz in warmer Liebe schlägt,
So lösen leis’ sich Deines Auges Binden.
Wer Gott im reinen treuen Herzen trägt,
Wird ihn all überall auf Erden finden.