Zur Geschichte des Volks-Aberglaubens
Auf dem Lande geboren und erzogen, hatte ich schon als Kind mannichfache Wunderdinge und Spukgeschichten vom wilden Jäger und seinen nächtlichen Zügen durch die Luft mit feuerschnaubendem Roß und kläffender Hundemeute, von verführenden Irrlichtern, erschienenen Geistern und dem unheimlichen Umgehen des leibhaftigen Bösen mit Hörnern, Pferdefuß und Kuhschweif gehört. Ein besonderes Capitel aber, welches nur im engeren Kreise, in stillen Winterabenden, wo die Hausthüre verriegelt war, abgehandelt wurde, war das Capitel von den Freibriefen. Die Knechte, die in der Hölle hinter’m Ofen oder auf der Ofenbank Spähne schliffen, ließen dann wohl das Messer ruhen und spitzten die Ohren länger, die Mägde am Spinnrade vergaßen zu treten, ließen den Faden in die Spille gerathen und horchten mit offenem Munde, wenn erzählt ward, daß eben diese Briefe die geheime Macht hätten, frei von allen Gefahren durch Schwert oder Geschoß jeglicher Art zu machen. Wer einen Freibrief bei sich habe, der könne durch einen Kugelregen gehen, er werde unverletzt bleiben, denn kein Metall werde ihm etwas anhaben. „Aber,“ fügte man halblaut hinzu, „die Polizei – – sie suche und fahnde überall nach solchen Briefen, und habe die meisten schon weggenommen, sodaß leider Freibriefe jetzt nur noch höchst selten seien. Es sei das mit dem sechsten Buch Mosis gerade so gewesen. Der Rath der Stadt Z. habe alle Bibeln wegnehmen lassen, welche auch das sechste Buch enthalten hätten. Darin ständen aber eine unzählige Menge von Moses selbst beschriebener Mittel und Geheim-Recepte, Gold zu machen, edles Metall in der Erde sofort zu entdecken, wo es liege, übernatürliche Kräfte in seine Gewalt zu bekommen, die heut noch wie ehedem vorhanden, aber nicht mehr gekannt seien. Was hätten früher nicht alle Leute Alles gekannt!, jetzt wisse Niemand etwas mehr, außer etwa der Scharfrichter oder die Zigeuner und Seiltänzer. Die Hexen seien ersäuft oder gehangen worden, und die Bibeln mit dem sechsten Buch Mosis lägen zehnfach verschlossen auf dem Rathhause zu Z.“
Als ich später von einer auswärtigen Universität zurückkehrte, fand ich mein Elternhaus ziemlich verändert. Meine Mutter hatte sich in’s Ausgedinge zurückgezogen und ein Bauer des Nachbardorfes unser Gut gekauft. Ich sollte in dessen Weibe eine der originellsten Frauen kennen lernen. Anne-Rose besuchte uns bald, zunächst aus Neugier, manches von fremden Ländern, die ich unterdessen gesehen hatte, zu hören, eine Neugier, die bei den untern Ständen meist in einer gutmüthigen Naivetät auftritt. Sie brachte mir als Willkommen ein „Sträuchel“ (Blumenstrauß) und eine Wurst mit und entwickelte durch tausend Fragen und hingeworfene Scherze über ihr geschilderte Menschen und Gewohnheiten sehr bald eine lebhafte Unterhaltung. Wir wurden ziemlich rasch näher bekannt, und ich war über ihre geistige Begabung oft nicht wenig verwundert. [238] Sie machte sehr witzige Spottverse und gereimte Charaden und kam oft mit ihrem Rocken eigens zu diesem Zwecke des Abends zu uns, um sich von mir darin secundiren zu lassen, Was sie aber besonders originell erscheinen ließ, war nicht nur dieses Talent und ihre Kenntniß der Heilkraft jeder Feld- und Wiesenblume, sodaß sie allmählich der geheime Arzt des Dorfes geworden war, sondern ihr großer Aberglaube und ihre Gespensterfurcht. Dies machte sie gerade für mich besonders interessant, weil sie alle Geschichten, die in der Gegend umher durch die Geister, böse und gute, verübt worden waren, genau kannte und somit eine lebende Chronik von Erzählungen für mich wurde, welche sich Jahrhunderte von der erzählenden Großmutter im Lehnstuhl auf die horchenden Enkel vererbt und erhalten haben mochten. Sie blieb Abends nie allein, seitdem ihr selbst der letzte Spuk am Heerde passirt war.
Das hatte sich so zugetragen. Ihr Großvater, längere Jahre irrsinnig, durfte, da er lediglich fixe Ideen verfolgte, ohne Jemandem zu schaden, frei umhergehen und machte dabei allerhand Schwänke. So warf er sein Taschentuch auf den Weg und lauerte versteckt wohl stundenlang, bis es Jemand aufhob. Alsdann folgte er unbemerkt dem Finder. Erkundigte sich dieser in der nächsten Nachbarschaft, ob Jemand ein Tuch verloren, so war der Großvater befriedigt. Er trat dann herzu und meldete sich als Verlierer. Wehe aber, wenn der Finder Miene gemacht hatte, das Tuch ohne Weiteres still beiseit zu sich zu stecken und, ohne in der Nachbarschaft zu fragen, zu behalten! Der Großvater erklärte, als er wegen eines Vorfalls zur Rede gesetzt wurde, bei dem er einen verdächtigen Finder mit Schimpfreden überschüttet hatte, „daß er ehrliche Menschen suche und deshalb diese Proben mache.“ Sein Stübchen sah aber nicht anders aus, als Faust’s Küche. Er hatte nämlich mehrere Schock Pflanzenbündel an den Wänden hängen, meist solche von einer irgendwie eigenthümlichen Form, die seine Phantasie gereizt haben mochte, Bündel von Pilzen, Disteln, Dornen etc., und versicherte, daß der Teufel sich vor seiner Stube sicher hüten werde. Der gutmüthige Alte verfiel zuletzt in Schwermuth und erhängte sich an einem Bret auf dem Heuboden.
Anne-Rose versicherte leise, man könne nie vorsichtig genug mit möglichst baldiger Vertilgung desjenigen Holzes sein, an welchem ein solcher Mensch gehangen, da der Teufel auch damit seinen Spuk treibe. Unglücklicherweise war jenes Bret mit zu Brennholz verhackt worden. Sie ahnte dies nicht und wollte eines Abends spät, nachdem schon alle Anderen sich schlafen gelegt, noch für den folgenden Tag Kaffee brennen. Das Feuer fängt an zu flackern, kaum hat sie die Kaffeetrommel einige Male gedreht, da – ein furchtbarer Knall und – die Holzscheitel fliegen brennend zur Esse hinaus! – – Sie waren von dem Bret, an dem sich der Großvater gehängt!
Einfache Bauersfrau, hatte sie doch ein warmes deutsches Herz und fragte bald, ob ich auch Schleswig und Holstein gesehen hätte. Sie trug einen tiefen Dänenhaß in sich, der ihr in der schönen, wenn auch schlichten Weise, in welcher sie vom letzten Kriege der deutschen Truppen sprach, sehr wohl anstand und manche stolze Frau der Städte beschämte, deren ganzes Vaterland im Putzzimmer liegt. Sie hatte mir schon früher offenbart, daß sie mehrere Sprüche besäße, welche mich gegen Gefahren jeder Art schützen würden. Ich hatte mir allmählich ihre Liebe erworben. So oft ich von der Universität kam, schickte sie mir des Sonntags früh zur Kirche ein „Sträuchel“ (jeder Mann nimmt auf den dasigen Dörfern einen Blumenstrauß mit in die Kirche, der während des Gottesdienstes die Runde unter den Kirchnachbarn neben der Tabaksdose macht); so oft ich wieder zurückging, mußte ich jederzeit eine Wurst oder sonst etwas aus der Esse zum Abschied nehmen; das eine Mal sogar, da es ihr an Consumtibilien fehlte, – ein Fläschchen Magentropfen aus ihrer eigenen Apotheke.
Ich hatte also auch ihr mütterliches Vertrauen, und diesem verdanke ich den folgenden Freibrief. Bei allen diesen Dingen halten solche Leute ungemein zurück, und es wird einem Culturhistoriker sehr schwer werden, zu diesem oder jenem Aberglauben in seiner wahren Gestalt zu gelangen, wenn er nicht, auf dem Lande selbst geboren, schon hierdurch dem Volke näher steht.
Sie zeigte mir nun eines Tages mehrere schmale Papierstreifen, auf denen ich zu meiner Verwunderung griechische Buchstaben geschrieben sah. Die Zettel waren also jedenfalls ursprünglich von einem gelehrten Betrüger und mochten vielleicht viele Menschenalter hindurch von den Landleuten nachgemacht worden sein. Es ließen sich nämlich die Worte nicht mehr entziffern. „Die Zettel helfen,“ sagte mir meine alte Freundin, „gegen gewisse Fieber, bei deren Epidemien man sie bei sich zu tragen habe, vollständig alsdann gegen Ansteckung geschützt.“
Im Vertrauen theilte sie mir nun mit, daß, wenn ich einmal Nachts durch einen Wald oder sonst in einem fremden Lande reise, ich nur einen der folgenden Sprüche sagen möge:
„Gott der Vater vor mir,
Gott der Sohn über mir,
Gott der heilige Geist hinter mir,
Wer mehr Macht hat, als diese drei Personen,
der greife nach mir!“
oder ich solle vor mich Hinsprechen:
„Zu jeder Zeit und Stelle
Sei Gott Vater mein Geselle,
Christi Kreuz mein Schild und Schwert,
So ich überall wohlbewehrt!“
Ich möge nur daran glauben, so werde mich kein Räuber anzufallen wagen. Sie habe genügende Beweise der Kraft solcher Sprüche. Die sämmtlichen aus dem Dorfe gebürtigen Soldaten seien aus dem schleswig-holsteinschen Kriege unversehrt zurückgekehrt, und zwar – mit ihrer Hülfe. Sie offenbarte mir nun auf mein Befragen, daß sie noch einen uralten Freibrief besitze, der kugel-, hieb- und stichfest mache. Auf meine Bitte brachte sie ihn mir eines Tages, und ich theile ihn hier der Merkwürdigkeit wegen mit, da ich glaube, daß es wenig solcher Documente mehr geben, seltner aber noch eines derselben zu Gesicht der gebildeteren Stände kommen wird. (Für Culturhistoriker hier gleichzeitig das Anerbieten, daß ich auf weitere etwaige Anfragen unter Vermittlung der geehrten Redaction gern bereit bin.)
im
Namen Gottes des Vaters und des Sohnes
und des heiligen Geistes,
Amen.
„Das Blut Jesu, der wahrer Mensch und Gottes Sohn ist, behüte mich.
vor allen Waffen und Geschoß, langen oder kurzen Schwerdtern und Degen, Karbienern und Feltpanzern, Bley und dergleichen. So sei der Herr Christus bei uns und verschone uns vor allen, es sei von Eisen oder Stahl, Metall oder Ertz, es sei Kugel, Messing oder Holz. Jesus Christus, der behüte mich. †. †. †. vor allen bösen Brauchstücken. (?) O Heiland Jesu, verlaß mich nicht und laß mich nicht verdammet werden, noch verloren gehen und sei bei mir bis an mein letztes Ende und laß mich nicht sterben ohne Dein heiliges Sacrament. Das helfe mier die Heilige Dreifaltigkeit und Gottheit; sey bei mir auf Wasser und Lande, in den Haus, in derselben Stadt oder Dorf oder wo ich mich befinde, gehe oder stehe, wo ich bin.“
„Der Herr Jesus Christus, der behüte mich †. †. †. vor allen sicht- und unsichtbaren Feinden, es bewahre mich die ewige Gottheit und Heilige Dreifaltigkeit, durch das bittere Leiden und Sterben Jesu Christi und sein rosinfarbenes Blud, das er am Stamme des heiligen Kreuzes vergossen hat. Jesus Christus, vom heiligen Geist empfangen, zu Bethlehem gebohren, zu Jerusalem gekreuziget worten und gestorben, das sind wahrhaftige Worte, also müssen auch wahrhaftige Worte sein, welche hier geschrieben sind, (!) daß es helfe den Menschen vom Gefangenen und Gebundenen, oder, wenn ich in Gefahr komme, so müssen weichen von mier † † †[1] daß Geschütz, Gewehr und Waffen keines an mir hafte, daß sie von mier weichen und ihre Kraft verlieren, wie Pharao sein Gewand verloren hat. (?) Blut und Geschoß (?), meine Schutzheit müsse ganz an seine heilige fünf Wunden angereimet und gebunden sein, alles Geschütz müsse verschwinden, wie der Mann, der dem Herrn Jesum seine rechte Hand both. (?) Geschoß, behalte (beachte?) den Schutz bei dem gemelteten Heiligen Band, (?) wie der Sohn Gottes gehorsam war bis in den Tod †. †. †.“
„Es müsse von mier alles weichen und alles Geschütz und Geschoß verschwinden im Namen Jesu. Jesus ging über das Rote Meer, er fuhr in das heilige Land, er sagt, es müssen zerreißen alle Strick und Band, zerbrechen alle Geschoß und Gewehr, Herr Jesu, behüte mich, daß mich kein Feindfall (Feindüberfall) [239] bedrift, daß mich kein Wassers- noch Feindesnoth übereilt, daß mich alle Waffen scheuen, es sei Stahl oder Eisen, Metall oder Blei, Kanonen oder Flinten, Kugeln, Messing oder Kupfer,
„daß ich so voll gesegnet sey
„als der Kelch und der heilige Wein
„als das ware Himmels Brodt,
„das Herr Jesu Jüngern both. †.†.†.
„Den Segen, den Gott über den ersten Menschen that, da er ihn erschaffen hat, den Segen, den Gott über den Ertz-Engel that, da er Maria den Genuß bezahlte. (– – –).
„Gehe durch das Feindes Land
„trag das Rohr in Deiner Hand.“
„Daß mich kein Wolf zerreiße, deß behüte mich †. †. †. Jesus von Nazareth.“
Sohnes, des Heiligen Geistes, Amen.
†. †. †.
Rex.“
Diejenigen Leser, welche die Worte den Freibriefes etwas genauer prüfen, werden zu erkennen vermögen, daß der Verfasser desselben ein gelehrter Schalk gewesen sein muß, den man hinter den Zeilen über den Betrug an dem thörichten Volk, welches ehemals diese Briefe jedenfalls um theures Geld kaufte, lachen sieht. Der Schluß läßt auf einen Juristen schließen.
Der Brief ist jedenfalls alt, wie die Erwähnung des „Feltpanzers“ und reißenden Wolfes, außerdem auch die juristische Sprachweise des Schlusses, welche nicht ganz verständlich erscheint, beweisen. Jedenfalls mag er oft wieder abgeschrieben und so der Text verunstaltet worden sein. „Ehelich“ heißt ursprünglich rechtlich, wie das Wort „Ehe“ Recht, Gesetz, „Titel“ Erwerbungsart. Die Erklärung des Satzes muß ich indessen Culturhistorikern überlassen. Der Brief ist vielleicht anfänglich in lauter Versen geschrieben gewesen, wenigstens finden sich noch eine Anzahl Reime darin, der mir vorliegende Text ist indessen in fortlaufenden Zeilen, und habe ich nur, wo die Verse noch ganz unverkennbar waren, dieselben als solche angeführt.
- ↑ Wohl der unausgesprochene Name den Teufels.