Zur Erinnerung an Emanuel Geibel
Zur Erinnerung an Emanuel Geibel.
Seit am Palmsonntagmorgen 1884 dem deutschen Volke Emanuel Geibel entrissen wurde, fehlte wohl allen denen in unserem alten Lübeck, die ihn gekannt und geliebt hatten, seine theure Gestalt schmerzlich. Wir hatten ihn so oft unsere hochgiebeligen Straßen durchwandern sehen, er und die Stätten, die er hier besungen, gehörten so eng zusammen, es war anfangs gar nicht auszudenken, daß wir ihn nun nie wieder sehen sollten, und wie manches junge Gemüth, das bis dahin wohl glückselig ausgerufen hatte: „Heute bin ich Geibel begegnet, heute habe ich einen glücklichen Tag gehabt!“ empfand ein bitteres Heimweh nach den theuren Zügen. Wie vermißte ihn das Auge an seinem gewohnten Platz im Theater, im Konzertsaal, auf der Lachswehr, überall war eine Leere! Und nun – eher als unsere kühnsten Wünsche es zu hoffen wagten, ist sein Denkmal unter uns aufgerichtet worden, und herrlich hat es der Bildhauer verstanden, durch die Kunst verklärt, die geliebte Dichtergestalt uns wiederzugeben in ihrer schlichten Würde, ihrem stillen Adel.
Professor H. Volz in Karlsruhe ist der Schöpfer des Denkmals und in der Erzgießerei von Gladenbeck in Berlin ward es aus Bronze gegossen. Auf einem Felsblock sitzt der Dichter, gleichsam rastend, in der rechten Hand Buch und Stift, die Linke gegen die Brust gehoben. Die sinnenden Augen sind auf sein einstiges Wohnhaus gerichtet. Um die Schultern wallt ihm ein weiter Mantel, seine Haltung ist frei und natürlich, der Kopf von sprechender Aehnlichkeit. Unten an dem granitenen Sockel schlummert der Genius der Dichtkunst, die Leier, das Sinnbild der Lyrik, und die Maske, das Sinnbild des Dramas, in seinen Händen haltend. Der Platz, auf welchem das Denkmal steht und der seither den Namen „Koberg“ führte, wird künftighin „Geibelplatz“ heißen.
Nicht oft ist wohl in unserem Volke das Standbild eines Dichters so bald nach seinem Hinscheiden erstanden, und während es sonst eine alte Erfahrung ist, daß der schaffende Künstler nirgends so scharf wie in seiner Heimath beurtheilt zu werden pflegt, hat hier die Vaterstadt gerade mit einer so einmüthigen Begeisterung die Feier der Enthüllung dieses Standbildes begangen, daß man wohl sagen darf, würdiger und herzerhebender hätte sie gar nicht erdacht und ausgeführt werden können.
Mit wahrem Feuereifer hatte die gesammte Bevölkerung sich aufgemacht, die Stadt festlich zu schmücken, um ihren Dichter an diesem Tage so hoch zu ehren, wie sie es vermochte. Und hatte er es nicht verdient? Wenn wir auf sein Schicksal zurückschauen und nach dem Leitstern seines Lebens fragen, so erkennen wir, daß der ungewöhnliche Erfolg, der ihm zutheil geworden ist, nicht aus einem launenhaften äußerlichen Glück entsprang, das ihn zufällig bevorzugte, während es andere ebenso begabte Poeten oft so grausam leiden ließ, sondern daß dieser Erfolg doch in einem tiefen inneren Zusammenhang mit seinem ganzen Wesen stand und die Eigenart seiner Poesie und seines Schaffens ihm diese beispiellose Wirkung auf alle zu jugendlicher Begeisterung fähigen Gemüther eintrug.[1] Durch alle Briefe von [780] Geibel, die mir seine Tochter Marie und deren Gatte, Rechtsanwalt Dr. Fehling, in dieser Zeit zur Einsicht gaben, zieht sich wie ein rother Faden ein tief religiöses Empfinden, das auch in dichterischen Werken des Mannes so oft einen ergreifenden, zum Herzen sprechenden Ausdruck findet.
In einem seiner bis jetzt noch ungedruckten Aphorismen sagt Geibel: „Religion ist die Musik der Geister. Das Bekenntniß verhält sich zu ihr wie der untergelegte Text zu einer Symphonie.“ Dies Wort zeigt, worin er mit seinem Vater Johannes übereinstimmte und worin er in seiner Auffassung von jenem abwich, seit er die Pforte seines Geburtshauses verließ, jenes alterthümliche, reichgeschnitzte Hausthor in der Fischstraße, über dem sich zwei Genien mit Palme und Kranz in der Hand freundlich einander zuneigen, gleich wunderbaren Symbolen seines Lebens.
Geibels Vater, dessen wohlgetroffenes Bildniß wir den Lesern auf Seite 773 vorführen, war zweiundfünfzig Jahre lang, von 1797 bis 1849, Geistlicher der reformirten Gemeinde zu Lübeck und als solcher predigte er in einer Kapelle, die nach dem damaligen Zeitgeist keinen Thurm und kein Glockengeläute haben durfte; aber wenn dieses allerschlichteste, damals nur geduldete Gotteshaus auch nur schweigend zur Sonntagsfeier einlud, in dichten Scharen zogen gerade zu ihm, wenn die Glocken in die andern Kirchen riefen, die Bewohner Lübecks, und Johannes Geibel gebührt das Verdienst, der erste gewesen zu sein, der das völlig eingeschlummerte religiöse Leben hier mit seiner feurigen Begeisterung in der Zeit der Erniedrigung Deutschlands und der Befreiungskriege neu anzufachen verstand.
Nach dem Tode seines Vaters im Juli 1853 schreibt Geibel: „Ich hab’ es oft gesagt, daß ich unter allen Kindern wohl am meisten der Sohn meines Vaters war . . . ja, daß ich selbst in meinen körperlichen Anlagen und Gebrechen oft bis ins kleinste hinein das Bild der seinigen wieder erkennen mußte. Neben dem tiefen Zuge des Herzens nach göttlichen Dingen, neben dem ernstesten Ringen nach den Gütern des Himmels, neben einer Flugkraft des Gedankens und der gläubigen Empfindung, die ihn höher hinauftrug, als den meisten Sterblichen zu streben vergönnt ist, trat bei ihm im häuslichen Leben nicht selten eine fast harte Unfügsamkeit, ein Mangel an Selbstbeherrschung, eine augenblickliche Maßlosigkeit hervor, die ihm und uns manches Herzeleid bereitete. Gewiß, er hat das in seinen letzten einsamen Leidensjahren mehr als völlig abgebüßt, und ich spreche dies hier wahrlich nicht aus, um auf den Verklärten einen Makel zu werfen, sondern nur, weil ich, ach, allzutief fühle, daß ich gerade auch in diesen Fehlern sein getreuer Abdruck bin. Darum bitte ich Gott von Herzen, daß er mir seinen gnädigen Beistand schenken möge, diese Erbsünde mehr und mehr zu überwinden.“
Diese Worte beweisen, wie weit Geibel von eitler Selbstgerechtigkeit entfernt war, und wie ernst er es nahm, sich gerade in seinen Fehlern zu erkennen und zur inneren Veredlung durchzuringen.
Schon mit 15 Jahren dichtete Geibel oft und gewann sich dadurch die Herzen seiner Mitschüler. Mit Vergnügen dachte Geibel an jene Zeit zurück, und ich weiß noch, wie er mir eines Abends im Scherz ein Gedicht von damals in demselben Pathos vortrug, mit dem er es, wie er sagte, seinen Freunden in der Sekunda vorgelesen hatte. „Seine Augen glühten wie zwei Kohlen,“ hieß es darin, und während der greise Dichter humoristisch mit rollenden Augen und donnernder Stimme diese Verse deklamirte, konnte man sich lebhaft vorstellen, welch ein feuriger Junge er gewesen war.
Als Geibel dann in der Vollkraft seines Schaffens stand, eine Auflage seiner Gedichte der andern folgte, als er sein erstes Drama schuf, seine patriotischen Gesänge zündeten und König Max ihn nach München berief, da ward er überall der verwöhnte Liebling der Menschen und besonders der Frauenwelt.
In den Jahren vor seiner Uebersiedelung nach München verkehrte er viel im Hause der verwitweten Doktorin Trummer zu Lübeck. Auch deren Tochter Amanda schwärmte für ihn, aber sie war erst 15 Jahre alt, und wie durfte sie an ihn denken, an ihn, der die Herzen so vieler Schönheiten eroberte, dem so manches junge Gemüth in der vornehmen Welt zuflog, ja, von dem selbst die vielumworbene, gefeierte schwedische Nachtigall, Jenny Lind, hingerissen war! Nein, Amanda wollte sich alle thörichten Wünsche aus dem Sinne schlagen. Aber Geibel dachte darüber anders. Gerade sie mit ihrer weichen, innigen Demuth gefiel ihm besser als irgend eine andere, und nachdem leidenschaftliche Jugendstürme in ihm ausgetobt hatten, erwuchs in ihm die geläuterte Liebe zu diesem reinen Gemüth, und so gestand der sechsunddreißigjährige gereifte Dichter dem siebzehnjährigen jungen Mädchen seine Neigung und gewann ihre Hand.
Schon am Tage nach seiner Verlobung zwangen ihn Verhältnisse, abzureisen. Der kleine vergilbte Brief liegt vor mir, in dem am 21. November 1851 Amanda [781] zum erstenmal ihrem Emanuel schreibt, wie sie ihr Glück nicht fassen kann.
„Es ist mir unglaublich noch,“ gesteht sie, „daß nun in Wirklichkeit alles so gekommen ist, wie ich es mir so gern ausmalte und doch immer wieder ausreden wollte. Ich habe heute nacht wenig geschlafen, es war aber doch die seligste Nacht meines ganzen Lebens, ich habe Gott von ganzem Herzen um seinen Segen gebeten und um Kraft, alle neuen Pflichten treu zu erfüllen. Als Du gestern fort warst, hätte ich traurig sein sollen über den Abschied; ich konnte aber nicht, ich war zu selig und überrascht. Gottlob[2] sagte mir heut morgen, wenn ich ausginge, würden alle Menschen mir mein Glück ansehen, sie ermahnen mich immer, ich sollte nicht so strahlen, ich kann’s aber nicht lassen, denn ich weiß es gar nicht.“
Geibel war den nächsten Winter längere Zeit in Berlin und eine Fülle von Anregung und Genuß stürmte auf ihn ein; aus allem diesem mitten heraus schreibt er ihr am 14. März 1852: „Ach Kind, all das Leben hier ist wohl schön und bunt und reich, aber mich verlangt nach Dir, und Du fehlst mir an allen Enden, sobald ich nur einen Augenblick zur Besinnung komme. Wie werd’ ich mich der guten Gaben erst recht freuen können, wenn ich Dich hier habe und alles mit Dir theilen darf!“
Das Glück, das Geibel in Amandas Besitz empfand, die er von jetzt an Ada nannte, gab uns Deutschen seine unvergänglichsten, zartesten Lieder. Aber nicht ungetrübt sollten die beiden ihren Brautstand genießen dürfen. Eine schwere Sorge zog über ihnen auf, die, was aus seiner Gesundheit werden würde. Es hatte sich ein organisches Leiden bei ihm entwickelt, und wenn die verordnete Badekur ihm nicht half, so traf ihn die harte Prüfung, seine frische Kraft gerade in der Zeit für immer untergraben zu fühlen, in der er seine Braut heimzuführen hoffte und in seinem reifsten, inhaltsvollsten Schaffen stand.
Ergreifend wirkt es darum, zu lesen, wie er aus Tübingen den 15. Juli 1852 an Ada schreibt:
„Geheilt hat mich also die Emser Kur nicht und wir müssen zufrieden sein, wenn es hinfort nur erträglich geht. Daß ich dabei nicht gar froh bin – um meinet- und Deinetwillen – magst Du denken, aber ich ringe danach, geduldig und ergeben zu sein! Das ist mein Trost und das muß auch der Deine sein, daß wir wissen, daß der Vater im Himmel uns kein Leid auflegt, was nicht so oder so zu unserm Besten dient. In dem Gedanken rüste ich mich wie in einen festen Harnisch . . . Zu berichten hab’ ich nichts mehr, so setz’ ich Dir noch ein paar Verse her:
Kann es sein, so laß, o Herr,
Diesen Kelch vorübergehen!
Heb’ noch einmal mich empor
Aus dem Abgrund meiner Wehen.
Gieb mich meinem Kind zurück
Meinem Kind und seiner Liebe,
Ach so spät erst ging mir auf
Dieser Stern im Weltgetriebe.
Laß mich nicht verdorren, Herr,
In der Mitte meiner Tage;
Viel noch drückt mir in der Brust,
Daß ich’s schaffe, daß ich’s sage.
Diesen Kelch des bittern Leids,
Nimm’ ihn von mir um mein Flehen;
Kann es sein, so hilf, o hilf!
Doch Dein Wille soll geschehen!“
Von dem Gedicht, aus dem wir nur diese Verse mittheilen, schreibt Geibel, daß es ihm tief aus der Seele gekommen sei, er will es sonst aber nicht für Poesie gelten lassen, weshalb er es auch nie dem Druck übergeben hat, und das kennzeichnet so recht seine Gesinnung. Der Oeffentlichkeit gab er nur das ganz Vollendete, nie konnte er strenge genug feilen und manche schöne Dichtung behielt er noch, nachdem sie abgeschlossen war, viele, viele Jahre zurück, immer in der Furcht, sie noch nicht rein genug ausgestaltet zu haben. Ein Beispiel mag hier für viele genügen. Das herrliche Gedicht „Nausikaa“ vollendete er schon im Jahre 1858, im Jahre 1877 ließ er es erst in den Spätherbstblättern erscheinen. In seinem ungedruckten Nachlaß befindet sich darum auch noch manches goldene Wort, z. B. unter dem Titel „Aphorismen“. Dort sagt er: „Wer seine künstlerische Kraft nicht zu sammeln versteht, wird sie leicht in untergeordneten Schöpfungen verpuffen.“
Ferner: „Ich bin, wenn ich von einzelnen kleineren lyrischen Ergüssen absehe, selten imstande gewesen, aus der ersten überwältigenden Empfindung des Augenblicks heraus poetisch zu produciren. [782] Große Eindrücke, die mich dichterisch bewegten, trug ich meist längere Zeit mit mir herum, und oft erst nach Jahren, wenn eine verwandte Saite leiser angeschlagen wurde, vermochte ich sie, allerdings durch das Gegenwärtige angeregt, aus der Erinnerung rein auszusprechen.“
Und: „Ein wesentlicher und unentbehrlicher Theil des Genius ist – Geduld im rechten Augenblick.“
Und ein anderes Mal: „Damit Du Deine Zeit verstehst, verkehre in der Jugend gerne mit Aelteren, im Alter mit Jüngeren.“
Im Verkehr mit Jüngeren suchte er freilich seinesgleichen, darum wurde auch seine Ehe mit Ada zu einer so wahrhaft idealen. Er nannte Ada in der Zärtlichkeit wohl sein Kind, aber er behandelte sie trotz ihrer Jugend wie eine Ebenbürtige und zog sie von Anfang an zu den höchsten Interessen, die ihn erfüllten, empor. Darauf ganz einzugehen, war ihr einziger Wunsch. Als er, getrennt von ihr, seiner Gattin einst mittheilt, wie eifrig er an seinem Drama „Brunhild“ arbeitet, bittet sie ihn, sie nicht mehr mit so langen Briefen zu verwöhnen. Mit zwei Zeilen will sie sich begnügen. Denn: „wenn Du erst ans Schreiben kommst, trete ich alle meine Ansprüche an Chriemhild ab.“
Nur allzu kurz war ihm sein Glück beschieden, und als er Ada nach dreijähriger Ehe schon verlor, stand er an ihrer Hülle als ein schier verzweifelnder Mann. Moritz von Schwind versuchte, Adas Züge, so, wie sie im Sarge ruhte, wiederzugeben, aber wie sie so marmorblaß und edel da lag, warf er mitten in der Arbeit den Pinsel mit den Worten fort: „Nein, diesen Engel kann keiner malen!“ Schwinds Schüler Correns zeichnete sie darauf, und da Geibel die Skizze ähnlich fand, schuf Correns später danach jenes Bild, das sie uns mit dem weißen Rosenkranz im Haar und den auf der Brust gefalteten Händen so rührend darstellt.
Seinen Schmerz wußte Geibel nur im Trost des Schaffens zu lindern und je mehr er selbst verloren, um so Tieferes suchte er seinem Volk zu geben. So wuchsen seine Werke zu immer köstlicherem Gehalt und immer reinerer Vollendung heran. Alles, was das deutsche Volk in schweren und hernach in großen Tagen erlebte, und wie die Seele des Volkes es erlebte, das drückt sich aus in dem wundervollen Gesang, mit dem Geibel, unser deutscher Reichsherold, es begleitete. Sein Saitenspiel ist jetzt verstummt. Schmerzlich haben wir es empfunden, als wir blutenden Herzens unsern unvergleichlichen Heldenkaiser zu Grabe tragen sahen, als Kaiser Friedrichs tragisches Geschick uns bis ins tiefste Mark erschütterte.
Doch muß die Gegenwart auch seine Stimme entbehren lernen, aus seinen Werken tönt sie uns fürder allezeit entgegen, und wenn sie uns anspornt in allem unserm besten Sein und Streben, dann wird der Dichter, der seiner Kunst wie ein reiner Hoherpriester waltete, auch für uns nicht umsonst gesungen haben:
„Zieh ein zu allen Thoren,
Du starker deutscher Geist,
Der, aus dem Licht geboren,
Den Pfad ins Licht uns weist.“
Am 17. September 1855 schrieb Geibel aus Stuttgart an Ada: „Diese Stadt hat es mir einmal angethan, vielleicht weil mein großer Vater Schiller in Erz gegossen dort steht und sich ärgert, daß aus seinem Sohn Emanuel nichts geworden ist als ein Lyriker.“ Am 18. Oktober 1889 sank unter dem brausenden Gesang voller Männerchöre, dem unermeßlichen Jubel der Bevölkerung und dem vollen Glockengeläute sämmtlicher Thürme Lübecks die Hülle von Emanuel Geibels Denkmal, und so steht sein Standbild jetzt in Erz gegossen da, ein redendes Zeugniß dessen, daß Geibel seines großen Vaters Schiller werth geworden ist und die Nachwelt ihm für alle die köstlichen Gaben, die er uns geschenkt hat, für die zarten Lieder, die kräftigen vaterländischen Gesänge und die formenschönen, reichbewegten Dramen, freudig den vollen Lorbeerkranz ertheilt.