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Zum sechszigsten Geburtstage eines Künstlers

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Textdaten
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Autor: Moritz Fürstenau[1]
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Titel: Zum sechszigsten Geburtstage eines Künstlers
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 819–821
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[819]
Zum sechszigsten Geburtstage eines Künstlers.


Julius Rietz.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Die Kunst bleibt Dunst, und wer sie nicht durchdacht,
Der darf sich keinen Künstler nennen.

Goethe.

Es war während des Winterhalbjahres 1839 bis 1840, als in einem der Gewandhausconcerte zu Leipzig zum ersten Male die Concertouvertüre eines jungen achtundzwanzigjährigen Componisten aufgeführt wurde. Allgemeiner Beifall ward dem Werke, damals ein Erfolg, der nicht zu unterschätzen war, denn wer einen solchen errang, dem war der Paß für die ganze gebildete musikalische Welt des Continents ausgestellt. Der glückliche Empfänger dieses Passes war Julius Rietz, zu jener Zeit städtischer Musikdirector in Düsseldorf. Robert Schumann schrieb nach der Aufführung in der Leipziger neuen Zeitschrift folgende Beurtheilung von höchster Wichtigkeit für den jungen Componisten:

„Sehr bedeutend schien mir die Ouvertüre, eine durch und durch deutsche, kunstreiche, im Detail noch etwas überladene Arbeit, die nach einmaligem Anhören kaum ganz zu ergründen war; dem Charakter nach eine Orchesternovelle, mit der man eben so gut ein Shakespeare’sches Lust- oder Schauspiel eröffnen könnte. Der Titel (Concertouvertüre) besagte nicht, ob sie zu einem besonderen Sujet gedacht sei; wie gesagt, wir hätten Verdacht auf Shakespeare. Möchte sie doch bald veröffentlicht werden.“

Doch nicht Schumann allein brach für den deutschen Kunstnovizen eine Lanze. Leipzig war damals in der beneidenswerthen Lage, zwei Musiker von Gottes Gnaden zu besitzen, welche der deutschen Nation wie der ganzen gebildeten Welt die herrlichsten Blüthen deutschen Fleißes und deutschen Geisteslebens boten: mit Schumann vereint baute damals Felix Mendelssohn-Bartholdy am herrlichen Baue des wahren echten Kunsttempels. Der liebenswürdige [820] Meister war dem jungen Düsseldorfer Musikdirector schon längst ein wahrer Freund und Schützer geworden. Am 22. April 1841 dirigirte Mendelssohn im Gewandhausconcert zu Leipzig seines jungen Freundes Ouverture zu „Hero und Leander“ und dessen seitdem so berühmt und beliebt gewordenen „Schlachtgesang“. Am andern Tage schon schrieb er an Rietz nach Düsseldorf: „Gestern haben wir Ihre Ouverture zu ‚Hero und Leander‘ und den ‚Schlachtgesang‘ beide mit allgemeinem, lautem Beifall, mit einstimmiger Anerkennung der Musiker und des Publicums aufgeführt. – Ich habe sehr große Freude in allen Proben und der Aufführung daran gehabt; es ist etwas so echt Künstlerisches, so echt Musikalisches in Ihren Orchesterwerken, daß mir beim ersten Tact wohlig wird und daß mich’s fesselt und interessirt bis zum letzten.“

Mendelssohn wird damals nicht daran gedacht haben, daß Der, an welchen er diesen in seinem weiteren Inhalte nicht minder aufmunternden und belehrenden Brief schrieb, bald an dem Platze stehen sollte, dem er in voller Manneskraft durch den Tod so schnell entrissen werden sollte.

Am 1. October 1848 dirigirte Julius Rietz zum ersten Male das Gewandhausconcert zu Leipzig, nachdem er dorthin schon das Jahr vorher an Stegmayer’s Stelle als Capellmeister am Stadttheater berufen worden war und zur selben Zeit die Leitung der dasigen Singakademie übernommen hatte. Welche Gefühle der Pietät, aber auch männlichen Stolzes mögen den wackern strebsamen Künstler erfüllt haben, als er zum ersten Male an der Stelle stand, welche sein berühmter Meister und Freund fast zehn Jahre lang zum Wohle der Kunst, zum Ruhme Leipzigs eingenommen hatte!

Der Weg bis zu diesem ehrenvollen Ziele war für Julius Rietz nicht immer eben und glatt gewesen. Geboren zu Berlin am 28. December 1812 als jüngerer Sohn des königlich preußischen Kammermusikus Johann Friedrich Rietz, wurde seine früheste musikalische Bildung durch den Vater und den älteren Bruder Eduard gefördert. Letzterer, ein ausgezeichneter Geiger, im Besitze einer universellen Bildung, übte durch diese Eigenschaften sowie durch edelstes, reinstes Kunststreben, durch echten Mannesmuth und festen Charakter den förderndsten Einfluß auf seinen Bruder aus. Sein Andenken wird verklärt durch die sinnige Freundschaft mit Felix Mendelssohn-Bartholdy, der für ihn sein Octett für Streichinstrumente schrieb. Als Eduard Rietz am 23. Januar 1825 gestorben, übertrug Mendelssohn seine Liebe auf Julius und blieb ihm bis zu seinem Tode ein treuer Freund und Beschützer.

Unter den Musikern Berlins nahm sich Zelter des jungen Künstlers an und unterwies ihn in der Theorie; im Violoncellspiel unterrichteten ihn Kammermusikus Schmidt, Bernhard Romberg und kurze Zeit auch Moritz Ganz. Gezwungen durch den frühzeitigen Tod des Vaters (1828), mußte sich Rietz schon im zarten Jünglingsalter nach Erwerb umsehen, und so finden wir ihn denn bereits im sechszehnten Lebensjahre als Violoncellist im Orchester des Königsstädter Theaters angestellt. Bald darauf versuchte er sich zuerst als Componist; seine Musik zu Holtei’s „Lorbeerbaum und Bettelstab“ ward beifällig aufgenommen. Im Jahre 1834 berief ihn Mendelssohn, der damals als städtischer Musikdirector in Düsseldorf lebte, gleichfalls dorthin, um ihn als Musikdirector bei dem von Immermann gegründeten Theater zu unterstützen. Bekanntlich trennte sich Mendelssohn bald von Letzterem, und Rietz übernahm nun die alleinige Leitung der Opern. Nach Mendelssohn’s gänzlichem Weggange von Düsseldorf, welcher im nächsten Jahre, kurz vor Auflösung des Theaters erfolgte, legte auch Rietz seine Stelle nieder (1836) und übernahm in dem jugendlichen Alter von fünfundzwanzig Jahren den Posten als städtischer Musikdirector daselbst. Von da an stieg die Lebenswage des jungen Mannes. Das frische, geistig belebte Künstlerleben in Düsseldorf, die liebenswürdige Leichtlebigkeit des Rheinländers, die sagen- und poesievolle Färbung des herrlichen deutschen Stromgebietes, regte seine Productionskraft ungemein an. In Düsseldorf entstanden jene beiden Ouverturen, welche im Eingang dieser Skizze erwähnt sind, sowie die Lustspiel-Ouverture und viele andere seiner besten Compositionen. In Düsseldorf auch bildete sich in der Leitung der städtischen Concerte und einiger niederrheinischen Musikfeste sein eminentes Directionstalent aus. Daneben trat er auch noch als Violoncellvirtuos auf; man rühmte seinen „vollen kräftigen und elastischen Ton, sein geist- und gemüthvolles, echt künstlerisches Spiel“.

Ungern sah man am Rhein den geistvollen und kunstgebildeten Musiker nach Leipzig ziehen. Dort wußte Rietz bald feste Position in den musikalischen Kreisen zu fassen, nach Mendelssohn’s Vorgange keine gar zu leichte Aufgabe. In den Jahren 1852 und 1853 führte er das Capellmeisteramt am Theater allein fort; das Jahr darauf gab er dasselbe ganz auf und widmete seine Thätigkeit dem Gewandhause und der Singakademie, zugleich als Lehrer der Composition im Conservatorium für Musik wirkend. Auch als solcher erlebte er Freude und Erfolg. Unter seinen Schülern sind zu nennen: Normann, Capellmeister in Stockholm, Levy, Capellmeister in München, Radecke, Musikdirector in Berlin, Desoff, Capellmeister in Wien, Bargiel, Director des Conservatoriums in Rotterdam, Nicolai, Director des Conservatoriums im Haag, Rudorff, Professor an der Hochschule für Musik in Berlin, von Sahr, jetzt in München lebend, Eichberg, Director des Conservatoriums in Boston, Franz von Holstein und viele Andere.

Rietz fand, wie am Rhein, so auch in Leipzig viel Anregung. Frohe Tage verlebte er im Kreise hochgebildeter Kunstgenossen und Freunde. Hauptmann, David, Moscheles, Schleinitz, Petschke, Raimund und Hermann Härtel bildeten einen Kreis, der ihn zu reicher Thätigkeit und frischem Schaffen anfeuerte. 1850 brachte Rietz in Leipzig seine Oper „Der Corsar“ zur Aufführung; 1859 folgte in Weimar die einactige Oper „Georg Neumark und die Gambe“ von Pasqué. Außerdem schrieb er mehrere Ouverturen und Sinfonien, Concertstücke für Violine, Violoncell, Oboe und Clarinette, viele Lieder, Männergesänge etc. Auch seine segensreiche kritische Thätigkeit begann Rietz in Leipzig als Mitglied der Bach- und Händel-Gesellschaften, sowie als Herausgeber von zwölf Sinfonien von Haydn und zwölf Concertarien von Mozart.

Im Februar des Jahres 1860 ward Rietz an Reissiger’s Stelle als Hofcapellmeister nach Dresden berufen, wo er noch mit ungeschwächter Künstlerkraft an der Spitze der königlichen Capelle und des Hoftheaters wirkt. Seit zehn Jahren ist er auch artistischer Director des unter dem Protectorate des Kronprinzen Albert stehenden Conservatoriums für Musik.

Ein angestrengter amtlicher Wirkungskreis und eine bewundernswerth fleißige kritische Thätigkeit hat ihn in Dresden nicht zu so reicher Production kommen lassen wie in Düsseldorf und Leipzig. Einige sehr gelungene Gelegenheitscompositionen abgerechnet, sind besonders zu erwähnen eine große Messe in F-dur, ein Te Deum für Männerchor und Blechinstrumente zum Dresdener Sängerfeste 1865 und eine Hymne „Das große deutsche Vaterland“ von J. Pabst, für Baßsolo componirt während der Auferstehung des deutschen Volkes im Jahre 1870. In neuerer Zeit hat der Meister bei etwas mäßiger gewordener Amtsthätigkeit wieder mehr Muße gefunden und Mancherlei geschaffen, so eine Sonate für Pianoforte und Violine, eine desgleichen für Pianoforte und Flöte, eine Festouverture zur goldenen Hochzeitsfeier des sächsischen Königspaares und vieles Andere. Zum großen Theil ward der treffliche Künstler in seiner dienstfreien Zeit von der kritischen Redaction der Beethoven-Ausgabe (neun Sinfonien, zehn Ouverturen, sowie alle übrigen Orchesterwerke und Gesangssachen mit Orchester) und die Partitur-Ausgabe der Mozart’schen Opern bei Breitkopf und Härtel in Leipzig in Anspruch genommen. Es sind dies unvergängliche Denkmäler deutschen Fleißes, deutscher Pietät und einer umfassenden musikalisch-philologischen Bildung. Otto Jahn hatte Recht, als er von seinem Freunde Rietz sagte, „daß in ihm ein Philolog verloren gegangen ist, was sehr zu bedauern sein würde, wenn er nicht Musiker geworden wäre.“

Dem theilnehmenden Leser dieser Skizze wird die künstlerische Thätigkeit Rietz’s in fünffacher Art klar geworden sein: der Meister füllte würdig seinen Platz als tüchtiger Violoncellist aus, er schenkte der musikalischen Welt eine Reihe trefflicher Compositionen und ermöglichte, im Besitze einer umfassenden musikalisch-philologischen Bildung, seinen Zeitgenossen die genaue, von allen Schlacken freigewordene Kenntniß vieler Meisterwerke der classischen Musikperiode, er wirkte und wirkt noch segensvoll als Lehrer, in unübertrefflicher Weise aber als Dirigent. Es hieße Eulen nach Athen tragen, in letzterer Beziehung noch Worte zu verlieren, die Musikkreise Düsseldorfs, Aachens, Leipzigs und Dresdens [821] mögen hierfür Zeugniß ablegen. Als Componist erscheint Rietz als Schüler und Jünger Mendelssohn’s, ohne sich jedoch in erfindungslose, sclavische Nachahmung zu verlieren. Im Besitze vollständiger Beherrschung aller Formen- und Kunstmittel, wußte er aus jeder seiner bedeutenderen Compositionen ein Product einer durchempfundenen, selbsterlebten Seelenstimmung zu machen, so daß dieselben deshalb sämmtlich als wahr und tiefgefühlt erscheinen. Viele seiner Schöpfungen sind völlig populär geworden, worunter die Concert-Ouverturen, die Lustspiel-Ouverturen, der „Schlachtgesang“, die „Dithyrambe“ Schiller’s, das „Lied vom Wein“ und andere zu rechnen sind.

Rietz steht mit vollem Mannes- und Künstlerbewußtsein auf „classischem Boden“, ohne jedoch in starrer Abgeschlossenheit sich den Schöpfungen der Gegenwart zu verschließen; dafür sprechen die Programme der Concerte, welche er in Düsseldorf, Leipzig und Dresden dirigirte; dafür spricht seine Thätigkeit als Opern-Dirigent, insbesondere in der sächsischen Residenz, wo er Wagner’s „Tannhäuser“, „Fliegenden Holländer“ und „Die Meistersinger“ mit gewissenhaftester Objectivität und entschiedenem Interesse leitet. Charakteristisch bezeichnet das Ehren-Doctordiplom der Universität Leipzig ihn als Mann, „dessen Streben in der Theorie wie in der Praxis, im selbstständigen Schaffen wie im Leiten der Ausführung fremder Tonwerke unverrückt dem Hohen und Schönen zugewandt ist und sich dem Echten in jeder Kunst ebenbürtige Ziele setzt“.

Der Meister erschien bis jetzt als weißer Rabe unter seinen Capellmeistercollegen: er hatte keinen Orden. Leicht wäre es ihm gewesen, durch Widmung seiner zahlreichen Compositionen an fürstliche Personen ein oder das andere Bändchen zu erlangen; ihm fehlte dazu alles und jedes Zeug. Der sonderliche Mann hat die Marotte, seine Compositionen nur guten Freunden zu widmen. Erst in neuester Zeit hat ihm König Johann bei Gelegenheit seiner goldenen Hochzeitsfeier das Ritterkreuz des Albrechtsordens verliehen.

Daß Rietz niemals um Fürstengunst gebuhlt hat, ist ein Umstand, der ganz von selber von dem Künstler Rietz auf den Menschen Rietz hinüberweist. Hut ab vor ihm, in letzterer Beziehung nicht weniger als in ersterer! Dort wie hier sind Lauterheit, Biederhaftigkeit und Ueberzeugungstreue seine vornehmlichsten Charakteristica. Was Rietz im Leben wie in der Kunst einmal für wahr und gut erkannt hat, das vertritt er mit Mannhaftigkeit und edlem Eifer, und wiederum was ihm im Lichte der Verwerflichkeit und Schädlichkeit erscheint, das hat in ihm den unerbittlichsten Gegner, einen Gegner, der vom feigen Temporisiren und Vermitteln nichts wissen will und der von Scheingründen, seien diese auch noch so blendend aufgetischt, sich nicht beirren läßt. Daß er ferner auch durch den Köder materieller Vortheile sich nicht zum Abweichen von der Bahn seiner Ueberzeugung hat verlocken lassen, ist nach allem Vorhergesagten eigentlich selbstverständlich, wie auch dafür sein ganzes Leben und Wirken den schlagendsten Beweis giebt. Ist nun somit Rietz ein im wahrsten Sinne des Wortes nobler Charakter, so verbindet sich auch mit dieser Eigenschaft die einer liebenswürdigen Persönlichkeit. Aber die Liebenswürdigkeit liegt nicht gleich auf der Oberfläche; sie will zu ihrer Entfaltung erst den richtigen Boden haben – den der Gleichartigkeit der Gesinnung und der längern Bekanntschaft. Rietz muß sich erst für Jemanden in irgend einer Weise interessiren, oder dieser Jemand muß mit dem Geistes- und Gefühlsleben Rietz’s Verwandtes offenbaren; erst dann thaut er gewissermaßen auf und verscheucht das Vorurtheil, das man anfänglich vielleicht gegen ihn als Schroffen und Unzugänglichen haben mochte, erst dann spendet er mit freigebigster Hand aus dem reichen Schatze seines Wissens, seiner Erfahrungen und – seines Witzes. Namentlich kennzeichnet letzterer ihn als echtes Berliner Kind, und zwar als ein Berliner Kind, das trotz des langjährigen Fernseins von der heimathlichen Brutstätte des Witzes und Sarkasmus an Schärfe und Schlagfertigkeit keine Einbuße erlitten hat.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. In der Gartenlaube selbst nicht genannt, schreibt Fürstenau am Schluss des von ihm verfassten ADB-Artikels über Julius Rietz (Band 28, 1889, S. 603–606): „Vgl. meinen Artikel in Gartenlaube 1872, Nr. 50.“