Zugvogel
Zugvogel.
Es war im Sommer des Jahres 1817. Theuerung und Noth, verursacht durch zwei auf einander folgende Mißernten, hatten fast überall in Deutschland den Bestand der Theaterunternehmungen in Frage gestellt. Ich kam von einem bekannten Stadttheater am Rhein, dessen Director durch die in solcher Zeit leicht erklärliche Theilnahmlosigkeit des Publicums bankerott geworden war, und sah mich nun nach einem bescheidenen Engagement um, wo ich eine günstige Wendung der Verhältnisse abwarten konnte. Ein Theateragent legte mir ein langes Verzeichniß von Vacanzen vor, verschwieg mir aber nicht, daß alle ihm bekannten Directionen tief verschuldet wären, und daß außer den Hoftheatern nur diejenigen Bühnen von der drohenden Katastrophe verschont bleiben könnten, die für die ganze Dauer der diesmaligen Sommersaison ihre Pforten geschlossen hätten. Hoffnungslos kehrte ich in den Gasthof zurück, und da es gleichgültig war, wohin ich mich wandte, so bestieg ich eine Stunde später ein Dampfschiff, um anderswo mein Heil zu versuchen. Ich mochte ein paar Stunden lang auf dem Verdeck meinen Gedanken Audienz gegeben haben, als das Läuten der Schiffsglocke die einförmige Fahrt auf eine kurze Weile unterbrach. Ich fragte, welche Station wir erreicht hätten, und man nannte mir einen Namen, der in einem sehr ausführlichen geographischen Handbuche gewiß zu finden, mir aber so neu war, wie irgend ein Weiler im Innern Australiens. Am Ufer sammelte sich, wie gewöhnlich, ein müßiger Haufe, der das täglich um dieselbe Stunde wiederkehrende Ereigniß wie etwas nie Dagewesenes anstaunte; eilfertige Passagiere gingen und kamen, und neugierig betraten Andere das Verdeck des Schiffes, um während der schnell verrinnenden Pause nach irgend einem erwarteten [751] Bekannten oder Verwandten auszusehen. Unter diesen Letzteren bemerkte ich einen etwas auffallend gekleideten Mann, der hastig auf einen der Schiffsleute zulief mit der Frage: „Haben Sie die Zettel?“ Der Gefragte winkte bejahend und übergab ein längliches Paguet, wofür er ein Trinkgeld empfing.
Der Mann in ungewöhnlicher Tracht und „Zettel“? Nichts Anderes als ein Theaterdirector und Theaterzettel, die anderswo gedruckt sind, weil das Städtchen zu klein ist, um eine Druckerei zu unterhalten! rief mir mein spiritus familiaris zu. Halb willenlos griff ich in demselben Augenblicke nach meinem Mantelsack und eilte, als das Schiff sich eben wieder in Bewegung setzen wollte, über die Landungsbrücke dem Unbekannten nach. Ich hatte mich nicht geirrt. Hocherfreut reichte er mir die Hand und gab sich mir als Principal einer wandernden Truppe zu erkennen, die in diesem Städtchen seit einiger Zeit Vorstellungen gab.
„Sie kommen wie ein Gesandter des Himmels!“ rief er voll Emphase aus. „Ich soll an diesem Abend die Räuber geben und habe keinen Carl. Im Nothfall müßte ich ihn spielen, denn das Publicum will sich nun einmal nicht mit kleinen Stücke abfertigen lassen. Sie werden den Carl spielen, und ich kann an der Casse bleiben.“
Ohne meine Antwort abzuwarten, führte mich der Impresario nach dem Theaterlocal, d. h. in einen Gasthofssaal, in welchem eine Bühne aufgeschlagen war, und stellte mich dem bereits versammelten, aus sieben Männern und fünf Damen bestehenden Personal vor.
„Sieben Männer und die Räuber!“
„Warum nicht? Es giebt sinnreiche Auskunftsmittel, um fehlende Darsteller zu ersetzen. Man läßt mehrere Rollen von einer Person spielen. Ich kannte einen alten Komödianten, der sein Leben lang keine Ortschaft von mehr als 3000 Einwohnern gesehen hatte und nicht froher war, als wenn ihm drei Rollen in einem Stücke zugetheilt waren. Was Andern nur als ein widerwärtiger Nothbehelf erschien, war ihm Sache des Ehrgeizes, denn er suchte ein künstlerisches Verdienst darin, durch den Wechsel des Anzuges und der Schminke seine Person unkenntlich zu machen.
Er spielte in „Kabale und Liebe“ sämmtliche Kammerdiener des Präsidenten und der Lady Milford und glaubte dadurch, daß er in den Zimmern des Präsidenten Schuhschnallen, bei der Lady aber keine trug, alle Zuschauer über die Identität besagter Kammerdiener zu täuschen. Zu einer Posse hatte derselbe Mime einen Schreiber und einen Postbeamten zu spielen. Beide kamen rasch aufeinander; zum Umkleiden war also nicht Zeit. Was that unser Roscius? Er nahm als Schreiber den Hut unter den rechten, als Postbeamter aber unter den linken Arm und blickte mit triumphirender Miene in’s Publicum, als wollte er sagen: „Es erkennt mich Niemand!“ Und das Alles vollführte dieser erfinderische Genius mit einem treuen Pflichteifer, einem naiven Ernste, der einer höheren Aufgabe würdig gewesen wäre. Er hatte niemals den Gegensatz größerer Theater erfahren und verstand daher unser Lachen nicht, wenn er sich vor uns in der ganzen Glorie seines künstlerischen Bewußtseins spreizte. Unvergeßlich bleibt er mir in der Rolle des Geistes im Hamlet. Schon einige Tage vor der Aufführung hatten wir ihn nachdenkend umhergehen sehen, so daß wir auf große Dinge gefaßt sein durften. Und richtig – so war es! Nach langer Erwägung, wie sich die Schauer der Geisterwelt am passendsten versinnlichen ließen, beging unser College, von den Eingebungen einer unerschöpflichen Phantasie getrieben, folgenden Meisterstreich. Er band an die Spitzen seiner gelben Sandalen ein Paar gelblackirte, offene Blechdosen und füllte diese mit Räucherkraut, das er kurz vor dem Auftreten anzündete. Und wirklich war es grausig anzusehen, wie vor den Füßen des weitausschreitenden Phantoms Rauchwolken aus dem Boden zu steigen schienen.
Kaum aber begann der Geist „das Innere seines Kerkers zu enthüllen“ und Dinge zu erzählen, „deren kleinstes Wort die Seele zermalmte“, als er an den Fußzehen eine glühende Hitze verspürte und mitten in seiner Rede zur großen Belustigung aller die Sandalen ausziehen mußte, um sich die Füße nicht zu verbrennen. – Ich könnte noch einen ganzen Glorienschein solcher Geschichten um das Künstlerhaupt meines nun längst verschollenen Collegen weben; ich könnte Euch noch mehr von ihm erzählen, als daß er in einem großen Ritterschauspiele in der vierten Scene in gelben Ritterstiefeln erschlagen wurde und in der fünften in schwarzen Stulpen seinen eigenen Tod meldete – aber ich mochte doch vor Allem noch meines alten Freundes und Collegen Zugvogel gedenken, den ich in jenem Städtchen zum ersten Male traf.
Ich trat in die Garderobe. An einem langen Tische saßen vor ihren Toiletten, resp. Spiegelscherben, die sieben Männer, welche Schiller’s dramatisches Erstlingswerk darzustellen bestimmt waren. Franz Moor zupfte schwarze Wolle zu einem Knebelbart zurecht und zog sodann einen schwarzen Tuschstrich über die untere Hälfte der Augenringe, um sich jenen wüsten, unheimlichen Blick zu verleihen, der dem Bösewicht eigen ist. Neben ihm saß Zugvogel, dessen zaghaftes, wortkarges Benehmen mitten in diesem Kreise redelustiger Genossen meine Aufmerksamkeit erregte. Er hatte erst vor Kurzem, wie ich nach der Vorstellung erfuhr, mit seinen abnehmenden Kräften ein Engagement bei dieser Truppe gefunden und mußte, da sein Gedächtniß ihn nicht mehr zum Auswendiglernen befähigte, sich zu allen möglichen theatralischen Hülfsleistungen bequemen. Auf dem linken Ohr hörte er schlecht – spottlustige, jüngere Mitglieder sagten, der Souffleur habe es ihm taub geschrieen – und so bildete er stets, das rechte Ohr zum Souffleurkasten gewandt, mit dem Publicum einen rechten Winkel. Wenn ein verliebter Geck Schläge bekommen sollte, so war Zugvogel sicher, ihn zugetheilt zu erhalten; er spielte, was kein Anderer mochte: die kläglichen, zärtlichen Väter. Für diesmal hatte er den alten Moor und nebenbei einen Räuber und den Daniel zu spielen. Er bedurfte nicht der weißen Perrücke, um seinem Haare die Farbe des Alters zu geben, und seine zitternde Greisenstimme war keine Verstellung. Da zu seinem Ressort auch die Beleuchtung gehörte, so begab er sich früher als alle Uebrigen auf die Bühne, um die Lampen anzuzünden und so lange auf- und niederzuschrauben, bis das richtige Maß der Helle erzielt war. Bald darauf verließ auch ich die Garderobe, um mir die Räumlichkeiten unseres Bretergerüstes etwas näher anzusehen. Zugvogel stand an eine Coulisse gelehnt, seine Züge verriethen eine feierliche, sonntägliche Stimmung – er mochte das Elend seiner Existenz vergessen und sich zurückträumen in eine längst verflossene Blüthenzeit. Die Ausführung nahm ihren gewöhnlichen Verlauf. Nur im vierten Act trat eine Störung ein, die ich versucht wäre, komisch zu nennen, wenn sie mich nicht schmerzlicher Weise an Zugvogel’s Altersschwäche erinnert hätte. Es war, da das Räuberpersonal gar zu winzig ausfiel, auf der Probe die Verabredung getroffen worden, das bekannte Räuberlied zu Anfang des vierten Actes wegzulassen. Zugvogel, der den alten Moor spielte und der Handlung gemäß im Thurm saß, war seit Jahren gewohnt, da er in seinem Kerker den Zuschauern ohnehin unsichtbar war, den Chor durch Mitsingen zu verstärken. Der Vorhang rollte in die Höhe – und unser Kunstinvalide, dessen Gedächtniß die getroffene Uebereinkunft entfallen war, intonirte mit seiner zitternden Stimme das Räuberlied. Nun denke man sich den Jubel des Publicums, das den alten, halbverhungerten Grafen von Moor in seinem Kerkerthurm singen hörte: „Ein freies Leben führen wir!“ Es war komisch genug, und ich mußte in das allgemeine Gelächter einstimmen, als der alte Moor von einem „freien Leben voller Wonne“ sang, aber wie tief ergriff es mich, als ich von der Coulisse aus den Ausdruck der tiefsten Verlegenheit auf Zugvogel’s Gesicht las und den hülflosen Mann die zitternde Hand erheben sah, als wollte er dem schallenden Gelächter, das aus Coulisse und Zuschauerraum auf ihn eindrang, Halt gebieten!
Ich begleitete den bedauernswerthen Veteranen an demselben Abend nach Hause, um mich von ihm über die näheren Verhältnisse der Theaterentreprise unterrichten zu lassen, und benutzte diese Gelegenheit, seine niedergeschlagene, trostlose Stimmung durch den Hinweis auf eine bessere Zukunft zu verscheuchen. Aber Zugvogel kannte seine Lage zu wohl, um sich durch solchen Trost täuschen zu lassen.
„Sie wissen nicht,“ erwiderte er mir, „wie viel Bitteres und Herbes ich erfahren habe seit jenem Tage, da ich zum ersten Male die Breter betrat bis zu dieser Stunde, da ich, ein Bild des tiefsten Verfalls, Ihnen gegenübersitze. Ich war nicht ohne Begabung und durfte mich der Hoffnung hingeben, dereinst unter den wahren Jüngern der Kunst genannt zu werden, und doch mußte ich elend untergehen, weil ich nirgends ein Verständniß meiner reinen Intentionen fand. Bei kleineren Bühnen zu selbstbewußt, um mich zum Coulissenreißer zu entwürdigen, und in besseren Verhältnissen zu stolz, den gehorsamen Diener hochnäsiger Directoren und adliger Intendanten zu spielen, sah ich mich zu einem Wandern ohne Ende [752] und Ziel verdammt. Nur einmal stieg an meinem Lebenshimmel ein helleres Gestirn auf und schien mir jenen beseligenden innern Frieden zu verheißen, der allein des Künstlers Streben und Schaffen die rechte Weihe verleiht. Ich war an einem mittleren Hoftheater angestellt, und meine Leistungen erfreuten sich einer so beifälligen Aufnahme, daß mir von der Intendanz ein Contract von längerer Dauer in Aussicht gestellt wurde. Ich begrüßte diese glückliche Wendung meiner Laufbahn mit hoher Freude, denn ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als mir einen eigenes Heerd zu gründen und in dem Genusse häuslichen Glücks eine Befriedigung zu gewinnen, die mir der Umgang mit meinen Collegen nicht gewähren konnte. Seit längerer Zeit hatte ich ein stilles Einverständniß mit einer gleichgestimmten jungen Schauspielerin unterhalten; was stand jetzt, da mir eine gesicherte Stellung zugesagt war, im Wege, uns dem Personal der Hofbühne als Brautleute vorzustellen? Es geschah – doch kaum hatte der Intendant unsere Verlobung erfahren, als er sein bisheriges Benehmen gegen uns urplötzlich änderte. Wir sahen uns den erbärmlichsten Chicanen und Zurücksetzungen preisgegeben; Rollen, in denen wir früher die ehrenvollste Aufnahme gefunden hatten, wurden uns abgenommen und an Unfähigere vertheilt, bezahlte Federn wurden in Bewegung gesetzt, um unsere Leistungen in den Augen des Publicums durch hämische Angriffe herabzusetzen, und schmutzige Geschichten erfunden, um unser Privatleben zu verdächtigen. Zu spät erfuhr ich von meiner Verlobten, daß der Intendant sie seit langer Zeit schon mit den zudringlichsten Anträgen verfolgt und sie mir diese nur verschwiegen hatte, um mich vor unbesonnenen Schritten, die meine Stellung gefährden konnten, zu bewahren. Die Veröffentlichung unserer Verlobung, hatte sie geglaubt, würde den Nachstellungen des Unverschämten ein Ende machen und diesen für immer in die gebührenden Schranken zurückweisen. Wie sehr hatte sie sich getäuscht! Der elende Höfling, der es nicht ertragen konnte, die redlichen Bewerbungen eines bescheidenen Schauspielers seinen unverschämten Anträgen vorgezogen zu sehen, vergällte uns unsere Stellung derart, daß wir entschlossen waren, dieselbe um jeden Preis aufzugeben. Wir forderten unsere Entlassung, die uns auch bereitwilligst gewährt wurde. Wenige Tage darauf ließen wir uns trauen und sagten dem Schauplatze unserer schmählichsten Enttäuschung Lebewohl. Da unsere beiderseitigen Ersparnisse uns in den Stand setzten, eine günstigere Wendung der Dinge abzuwarten, so durften wir allerdings der nächsten Zukunft ruhig entgegensehen. Wir lebten der Hoffnung, ein Engagement, ähnlich dem, welches wir aufgegeben hatten, wieder zu finden, aber weder Reisen noch Correspondenzen führten ein nennenswerthes Resultat herbei. Der Winter rückte heran, und ich war froh, wenigstens für mich ein Engagement bei einer reisenden Gesellschaft zu finden, da meine Frau, die sich Mutter fühlte, nicht im Stande war, die Breter zu betreten. Der Augenblick der Entbindung kam; die trüben Erlebnisse des letzten Jahres hatten die Aermste zu tief gebeugt und ihr alle Kraft vorweggenommen – die Stunde, welche mir eine Tochter schenkte, brachte mich um die Mutter… Es war mir wehe um’s Herz, als ich der theuern Leiche die Augen zudrückte und rathlos auf das nackte kleine Wesen blickte, dein ich keine Pflege bieten konnte.
Glücklicherweise erbarmte sich meiner eine entfernt wohnende Verwandte, an die ich unter dein vollen Eindruck der ersten Verzweiflung geschrieben hatte. Sie unternahm die weite Reise zu mir und enthob mich der Sorge für mein hülfloses Töchterchen, dem ich nichts, gar nichts mitzugeben hatte, als ein Medaillon mit dem Bilde der verblichenen Mutter. Ich habe mein Kind seit jenem Tage nicht wiedergesehen. Jene Verwandte, eine herzensgute, aber beschränkte Frau, fürchtete, daß mein persönliches Erscheinen die Neigungen des Kindes den Kreisen des bürgerlichen Lebens entführen und dem Schauspielerstande zuwenden möchte, und beschwor mich daher in ihren Briefen, meine väterliche Sehnsucht zu beherrschen, bis meine Tochter erwachsen wäre und eine passende Versorgung gefunden hätte. Was sollte ich thun? Ich mußte mich dem Wunsche der guten Frau fügen, denn welche Erziehung hätte ich aus meinen planlosen Kreuz- und Querfahrten meinem Kinde bieten können? Ich blieb nach wie vor auf briefliche Mittheilungen beschränkt – aber eben durch diese erfuhr ich von meiner Verwandten, daß ihre vorsichtige Erziehung keineswegs von dem erwünschten Erfolge begleitet war. Je mehr meine Emilie heranwuchs, desto häufiger wurden die Klagen über ihren unlenksamen Sinn und hartnäckigen Widerstand gegen Alles, was herkömmlicher Sitte und Gewohnheit ähnlich sah. Das Blut der Eltern war zu mächtig in dem Kinde, als daß es sich je in die beschränkten Verhältnisse des kleinbürgerlichen Lebens hätte fügen können. Plötzlich und unerwartet empfing ich die Nachricht von dein Tode der guten Verwandten. Ich brach schleunig auf, um meine Tochter, die ich vor achtzehn Jahren in den ersten Wochen ihres Lebens von mir gegeben hatte, endlich in meine Arme zu schließen – aber welche Enttäuschung stand mir bevor! Kaum war ich in dem Städtchen angekommen, als ich erfuhr, daß das tolle Kind auf und davon gegangen war. Nur einige Zeilen hatte sie für mich zurückgelassen. „Nur mit blutendem Herzen,“ so schrieb mir mein böses Kind, „gehe ich der Begegnung mit Dir, aus dem Wege, die nur dazu führen könnte, mich in meinem längst gefaßten Entschlusse, Schauspielerin zu werden, zu erschüttern. Forsche nicht nach mir! Unter fremdem Namen werde ich die Bühne betreten und meinen Vater nicht sehen, bis ich als ruhmgekrönte Tochter zu ihm treten und die Tage seines Alters verschönern kann.“ Das also war die ganze Ausbeute achtzehnjähriger Hoffnungen! Meine Tochter auf demselben abschüssigen Wege zum Untergange, den ihre unglücklichen Eltern einst betreten hatten – und ich an der Schwelle des Alters, ohne Hoffnung, sie je wieder zu sehen! … Acht Jahre sind seitdem vergangen, doch meine Emilie habe ich nicht wieder gesehen. Ich fühle mich hinfällig und dem Ende nahe und will gern die Breter, auf denen ich ein freudenarmes Leben hingebracht, mit der letzten kahlen Breterwohnung vertauschen, wenn ich vorher nur einmal mein Kind wiedersähe, wenn ich nur wüßte, daß die liebevollen Blicke meiner Emilie den meinen begegneten, ehe sie für immer erlöschen. Dann mag der alte Regisseur da oben immerhin zum Schluß klingeln und den Vorhang fallen lassen über das traurigste Stück, das je gespielt worden.“
So schloß mein guter, unvergeßlicher Zugvogel. Ich aber nahm kurze Zeit darauf Abschied von ihm und den übrigen Mitgliedern, deren ordinärer Ton mir als die widerwärtigste Carricatur auf ihren Stand erschien und mir allen längern Aufenthalt gründlich verleidete.
Zugvogel hat seine Tochter wieder gesehen, aber in einer Weise, die er nicht geahnt hatte. Ungefähr sechs Monate nach jener Räubervorstellung erfuhr ich Zugvogel’s Tod und die merkwürdigen Umstände, unter welchen derselbe erfolgt war. Der gute Alte hatte nach meiner Abreise ein anderweitiges Engagement bei einem kleinen Stadttheater gefunden und von der Direction die Vergünstigung eines Benefizabends erhalten. Um sich eine erträgliche Einnahme zu verschaffen, hatte er sich an mehrere Mitglieder eines benachbarten Hoftheaters mit der Bitte gewandt, ihn in dieser Vorstellung durch ihre Mitwirkung zu unterstützen, und freundliche Zusage empfangen. Unter den Stücken, welche für jenen Abend gewählt waren, befand sich auch das alte Kotzebue’sche Schauspiel „der arme Poet“. Zugvogel, der in besseren Tagen die Titelrolle mit großem Erfolge gespielt hatte, schien angeregter als je und spielte mit überraschender Rüstigkeit und Frische. Die Scene, in welcher der alte Poet seine verloren geglaubte Tochter – diesmal von einer der Hofschauspielerinnen dargestellt – wieder erkennt, kam heran. Zugvogel hatte die Worte zu sprechen: „So bist Du meine Tochter?!“ In der vollen Wärme seines naturwahren Spiels schwankte er der Schauspielerin entgegen, um sie zu umarmen – da plötzlich fielen seine Blicke auf ein Medaillon, das sie an ihrem Halse trug … die Kapsel war aufgesprungen, er erkannte das Bild seines längst entschlafenen Weibes … kein Zweifel – es war seine Tochter, die vor ihm stand. Die zitternden Lippen wollten ansetzen: „Du bist – Du bist –“ mehr konnte er nicht hervorbringen, seine Arme fielen schlaff herunter, seine Augen schlossen sich und machtlos sank er in seinen Sessel zurück. Schauspieler und Zuschauer verstummten vor der ergreifenden Wahrheit dieser Darstellung – Keiner ahnte, daß in diesem Moment Dichtung und Wahrheit einander die Hände reichten, und daß hier eine Scene voll erschütternder Wirklichkeit gespielt worden. Erst als Minute auf Minute verrann und Zugvogel immer noch bewegungslos dasaß, durchzuckte die Mitspielenden eine Ahnung des Vorgefallenen. Man ließ den Vorhang fallen … In dem Sessel des alten Poeten saß eine Leiche.“