Zu spät!
Ich habe kaum ein Wort mit dir gesprochen,
Ich habe kaum ins Auge dir gesehn,
Und dennoch hast du meinen Stolz gebrochen –
Ein süßes Wunder ist an mir geschehn;
Von scharfer Sichel nieder auch gemäht –
Wir werden nicht durchs Leben als Genossen
Vereinigt gehn. Wir finden uns zu spät!
Du solltest nicht an meiner Stimme Zittern
Du sahst die Blätter zaudernd mich zerknittern;
Ich sollte lesen, – mochte nicht und schwieg.
Ich weiß zu gut, wie viel ein Blick verräth,
Uns winkt kein Glück. Wir finden uns zu spät.
Hast du geahnt, was schweigend ich empfunden?
Hat sich die Trauer auch in dir geregt?
Sag’ nein, mein Kind! Sonst hätten diese Stunden
Doch ach, ich weiß, du hättest meinem Werben
Voll Lust gelauscht und nimmer mich verschmäht.
Du nickst mir schluchzend? Traurig ist zum Sterben
Dies eherne: „Wir finden uns zu spät.“
Die Nacht durchirrt’ ich ohne Ziel und Weg
Und in des Wildbachs Tosen sah in Schmerzen
Ich düster nieder von dem schwanken Steg.
Aufs Lager sank ich hilflos und zerrissen,
Da stöhnt’ ich noch auf thränenfeuchten Kissen
Mit bleichem Mund: „Wir finden uns zu spät!“
Ich muß dich fliehn, um so vielleicht zu wahren
Den lieben Augen ihren lichten Schein;
Doch sollst du ewig mir gesegnet sein.
Vor meinem Blicke wird dein Antlitz stehen,
Wehmüthig-lieblich, ernst und still und stät –
Und wenn dir Nachts die Augen übergehen,
Anmerkungen (Wikisource)
Ebenfalls abgedruckt in:
- Die Neue Welt. 1878, Nr.21, S.251.
- Edelsteine deutscher Dichtung. Sammlung bester lyrischer und lyrisch – epischer Gedichte", Bruno Geiser, 1880, Druck und Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei.
- Illustrirte Zeitung für Gabelsberger'sche Stenographen. 6.Jahrgang, 1883, Nr.3, S.40.