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Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten (4)

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Textdaten
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Autor: Udo Brachvogel
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Titel: Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 589–591
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[1]

Von Udo Brachvogel. Mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
IV.
Von den Mammuth-Thermen nach den Geysern. – Der „Feuerloch“-Fluß und sein feuriges Geleit. – „Des Teufels halber Acker“. – Unter den Granden der Geisterwelt. – Abschied vom Wunderlande.

Wir wandern weiter durch das Yellowstone-Land, um in die am Madisonfluß gruppirte Thermen- und Geyserwelt einzudringen, in welcher sich jetzt das ganze in wildester Leidenschaft fiebernde und rasende Herz dieser vulcanischen Großnatur und damit zugleich die überwältigend-ungeheuerliche Schlußdecoration des gesammten Wunderlandes vor uns aufthut!

Der bisjetzt zugleich die Hauptwagenroute des ganzen Nationalparks bildende Weg von den Mammuththermen nach dem großen Geyser-Becken des Madisonflusses mißt etwa dreißig Meilen. Die nichts weniger als bequeme und ungefährliche Wildstraße, welche dafür auch des Vorrechts genießt, nur von Felsengebirgspferden und -Kutschern befahren zu werden, von deren unscheinbarem Aeußeren man „draußen“ im Flachlande der alten und neuen Welt sich ebenso wenig etwas träumen läßt, wie von ihrer Unfehlbarkeit, leistet im Uebersteigen von steilen Graten, im ungenirten Hinführen an Abgründen und im Durchkreuzen brückenloser Gebirgsströme das Außerordentlichste.

In der Geyserwelt des Nationalparks von Yellowstone.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Aber durch welchen Wechsel der Scenerien führt sie dafür auch hin! Das Wildeste giebt, fast übergangslos, dem Lieblichsten Raum, und idyllischste Naturparkstrecken lösen die grimmigste Hochwildniß oft so unvermittelt ab, daß man sich auf einer Traumfahrt zu befinden vermeint. Auch an einer Anzahl eigentlicher Naturmerkwürdigkeiten geht dieser Weg vorüber, welche man nur in einem solchen Reich der Wunderverschwendung auch mit einer lediglich vorübergehenden Erwähnung abthun darf. So an dem Gibbon-Cañon mit dem Gibbon-Fall, so an dem in smaragdne Wald- und Wiesenumgebung eingebetteten „Beaver-Lake“ mit seinen grün leuchtenden Biberdämmen; und so namentlich an der Riesenklippe aus schwarzschimmerndem Naturglas – Obsidian – aus welchem einst der Indianer dieser Gegenden seine Speer- und Pfeilspitzen anfertigte, während sein weißer Nachfolger aus ihren losgesprengten Abfällen die sich um das drohende Vorgebirge herumwindende Straße aufschüttete.

Endlich, nach einer vollen Tagefahrt, ist das erste große Thermenfeld der Madison-Region erreicht.

Der Madison ist der südlichste der drei Quellflüsse des Missouri. Wie er weiter nördlich mit seinen beiden Gefährten, Jefferson und Gallatin, zu ihrem Hauptfluß zusammenströmen soll, so sind es auch drei Quellarme, die sich zu seiner Bildung vereinigen. Der mittelste derselben aber, der eigentliche, dem 7200 Fuß hoch gelegenen Madisonsee entspringende Madison, führt den von den Indianern überkommenen Namen des „Fire hole river“ (Feuerloch-Flusses). Dieser Name ist nicht gerade schön, aber er ist so bezeichnend und schließt so sehr ein ganzes Programm in sich, daß die ersten weißen Männer, welchen hier in den Jahren 1870 und 1871 die verschiedenen officiellen Taufacte oblagen, thatsächlich nichts Besseres thun konnten, als in diesem Falle die von ihren rothhäutigen Vorgängern instinctiv gewählte Bezeichnung beizubehalten. Es ist in der That ein einziges ungeheures Feuerloch, über welches sich hier auf Quadratmeilen und Quadratmeilen eine kalkige Erdkruste aufgewölbt hat, die, gleich einem gigantischen Siebe durchlöchert, die Gluthgeheimnisse des Erdinnern in allen nur denkbaren Aeußerungsformen wasservulcanischer Thätigkeit zu Tage treten läßt. Wie ein unabsehbarer grauweißer Kochherd stellt sich diese nach allen Richtungen der Windrose qualmende und dampfende Kraterwelt auf beiden Seiten des eiskalten Madison dar, um in jenem „Oberen Bassin“ ihren jüngsten Gerichtsabschluß zu finden, neben dessen tobenden Geyserheerschaaren das gepriesene [590] Naturmirakel Islands in seiner Vereinzeltheit ebenso verschwindet, wie in seinem Umfang.

Die drei großen, die Wunderwelt des Feuerloches bildenden Geyserbecken liegen, in unregelmäßiger Umrandung von Wald- und Wiesenland eingefaßt und durch breite Querstreifen desselben getrennt, nur wenige Meilen von einander. Das „Untere Bassin“ ist räumlich das größte. Es bedeckt dreißig englische, etwa anderthalb deutsche Quadratmeilen, und man will Alles in Allem zwölfhundert thätige Krater darauf gezählt haben. In allen Größen und Thätigkeitsstadien treten sie auf. In sieben verschiedene Hauptgruppen gesondert, wachsen sie vom handbreiten Schmutzspeier bis zum ausgewachsenen Geyser; vom farbigen Schlammvulcan, der sich in die zartesten Rosa- und Violettinten kunstvoll gefärbten Mörtels hüllt, bis zum zerbröckelnden Sinterkegel, dessen versiegende Fluth längst erkaltet ist; vom schüsselgroßen, aber darum nicht weniger siedendheißen Sprudel bis zu jenen märchenartigsten aller heißen Quellen, welche mit ihren ungeheuren mit azurner Fluth angefüllten Kratern wie die endlich gefundene blaue Blume der Romantik vor dem Wunderlandpilger daliegen.

Doch wer wollte an dieser Stätte den Geheimnissen der Romantik nachsinnen, wer in diesem Augenblick ihrer blauen Blume nachträumen? Läßt uns doch die schneeweiße Wand, welche eben über dem südlich vor uns liegenden Tannenstreifen emporsteigt, zu keinem Sinnen und Träumen überhaupt kommen! Diese schneeweiße Wand, von der es einen Moment lang scheint, als wolle sie den ganzen Horizont überströmen, ist eine einzige, compacte Masse wirbelnden Dampfes. Und es ist das Hauptwunder – oder sollen wir es nicht lieber den Hauptspuk nennen? – des mittleren, des Norris-Geyserbassins, was uns in dieser zum Himmel sich wälzenden Dampf- und Qualmlawine seine Grüße herübersendet. Sie kündigt uns an: daß eben der unter dem verdient infernalischen Namen von „des Teufels halbem Acker“ („Devil’s half acre“) bekannte heiße See einen jener alle neunzig Minuten wiederkehrenden Ausbrüche hat, bei welchen sich die unterirdischen Wasserkünstler des Feuerlochs nicht mehr damit begnügen nur einen Strahl des siedenden Elements in die Luft zu schleudern, sondern das ganze, nicht nur halb-, sondern in Wirklichkeit mehr als ackergroße[2] Gewässer in geschlossener Masse bis zu fünfzig Fuß emporheben!

Und mit solcher kopfgroße Steine und Erdstücke wie Kinderbälle mit sich reißender Furie geschieht dies, daß von den zurücksinkenden Fluthen ein ganzer zweiter Fluß über die grauweiße Sinterwand in den hier dicht vorüberfließenden Fireholefluß geworfen wird, in dessen Bett man fortan auf ein paar Meilen die grünlichen, kochenden vulcanischen Fluthen neben den dunkelkalten Gebirgsstromwassern verfolgen kann.

Muß man diesem „halben Acker Beelzebubs“ unter den Phänomenen des Nationalparks den Preis der Unheimlichkeit zuerkennen, so ist ihm in unmittelbarster Nachbarschaft ein anderes Wassergebilde gesellt, welchem man gleich mit derselben Hand die Palme aller Lieblichkeit zu reichen hat: das Feengewässer des „Crystal Lake“.

Der Krystallsee – kein Zweifel, daß die Bezeichnung von ihren Urhebern auf’s Beste gemeint war. Aber wie wenig besagt sie, was sie sagen oder doch zum Mindesten andeuten sollte! Nirgends in der Wasserwunderwelt des Yellowstonegebietes entfalten sich die Farbenzauber, welche bereits an den Mammuth-Thermen den ganzen Cultus des Beschatters herausforderten, blendender, verschwenderischer und nachhaltiger, als in diesem zehn Acker großen und dort, wo seine heißen Fluthen aus der Tiefe emporwallen, dreihundert Fuß tiefen Seekrater.

Wo bleibt die schöne, aber doch nur weiße Leuchtkraft des Krystalls neben dem bunten Bachanal aller nur denkbaren Tinten und Schattirungen, welches sich in der steten Bewegtheit dieser Wasser entfesselt? Und so intensiv ist das hier der Fluth innewohnende Farbenleben, daß es sich, fast ungeschwächt, auch den über ihrem Spiegel aufsteigenden Dampfgewölken mittheilt, auch in ihnen ein rastloses Weben und Wallen buntschimmernder Phantome wachruft, wie es selbst dem glücklichsten Maler in seinen glücklichsten Visionen noch nicht aufgegangen,

Aber an dem, was hier eine wie vom eigenen Dämonismus und der eigenen Schönheit zugleich berauschte Natur für die Grenze des ihr Möglichen erachtet, sind wir doch noch nicht angelangt. Dieses Letzte und Größte hat sie auf dem kaum vier englische Quadratmeilen messenden Allerheiligsten des Oberen Geyserbassins zusammengedrängt. Da reihen sie sich, ein vollkommener Herrscherolymp ihres Geschlechts, fast Seite an Seite, der „Fächer“-, der „Grotten“-, der „Riesen“- und der „Kometen-Geyser“, der „Große“ und der „Sägenmühlen-Geyser“; die „Löwin“, die „Riesin“, der „Bienenkorb“ und wie sie alle heißen, diese königlichen Fluthvulcane, die, wenn ihre Stunde schlägt, ganze Gebirge kochenden Wassers zur Höhe von 100, 150, 200 und 250 Fuß emporjagen und, wie sie die Luft umher mit Dampfgewölken anfüllen, so die Erde unter den Triumphdonnern des in ihnen frei werdenden Inferno rollen und zittern lassen.

Am äußersten Südrande dieses Waldes von Geysern aber steht als der getreue Eckard desselben der „Old Faithful“, der alte Zuverlässige, der mit der Pünktlichkeit einer wirklichen Schildwacht genau alle Stunden für fünf bis sechs Minuten sein bis zur Höhe von 150 Fuß auftürmendes Springfluthenspiel entfaltet. Woher diese Pünktlichkeit, wer will das sagen? Wer wird es überhaupt wagen, diesen oder irgend einen anderen dieser Geyser-Granden zu beschreiben? Sicherlich derjenige am letzten, der ihren Ausbrüchen selbst gegenüber gestanden, verloren in Staunen.

Unser Streifzug durch den Nationalpark des Yellowstone findet hier seinen Abschluß. Nahezu zwei Wochen hat er in Anspruch genommen und doch nur eben hingereicht, die vornehmsten Prachtstücke dieser natürlichen Schatzkammer im Herzen der Rocky Mountains einer eingehenden Kenntniß zu erobern. Von Norden her betraten wir sie, und zwei Mal haben wir sie von Norden nach Süden durchstreift. Unser Austritt aber aus ihrem allen Beschwerlichkeiten und Mühseligkeiten seiner einstweiligen Befahrung zum Trotz nur zu schwer zu verlassenden Bereich erfolgt jetzt nach Westen hin, über die Hauptkette der Felsengebirge, welche sich hier gegen die endlosen Hochsteppen und Wüsteneien des großen inneren Continentalbeckens des Salzsees vorlagert.

Und hier, schon auf dem Boden des Territoriums Idaho und somit auch bereits jenseits der Grenze des Nationalparks selber, aber noch immer inmitten der Gras- und Waldflächen des letzteren, machen wir noch einmal Halt, um uns noch einer, der letzten Ueberraschung bewundernd zu erfreuen. Keine Geyser stürmen hier mehr den Himmel, keine heißen Quellen entfalten ihre Farbenherrlichkeit, und keine Riesenschlünde klaffen in die Erde. Das Alles liegt hinter uns. Die Landschaft zeigt wieder ein gewöhnliches Gebirgsgesicht – ja, wäre das unfehlbare Barometer nicht, welches uns sagt, daß wir uns noch immer in einer Höhe von mehr als achttausend Fuß befinden, wir würden gerade an dieser Stelle des zu wiesenthalartiger Paßeinsattelung eingesunkenen Hochgebirgskammes uns am wenigsten auf ein neues Absonderliches oder Sensationelles gefaßt halten. Und doch kostet es uns gerade hier nur ein paar Schritte vom Wege, nach jener geringfügigen Erhöhung in dem breiten Hochwiesengürtel, um uns an einen der merkwürdigsten Punkte der ganzen Welt zu versetzen.

Ein kleiner Wiesensee mit einem sich aus ihm thalwärts windenden, kaum grabenbreiten Wasserlaufe im Nordwesten, ein zweites, kaum breiteres Wasserrinnsal im Osten – beide vom Gipfel dieser einen Erhöhung aus mit einem Blicke zu übersehen: das ist das Schauspiel, welches uns hier selbst nach der Wunderwelt des Yellowstone fesselt. „Wenig genug nach so Vielem und Großem!“ wird der Leser unwillkürlich ausrufen. Aber er gedulde sich mit seinem Achselzucken, bis ihm der Name dieser beiden winzigen Bäche genannt sein und damit Das, was dieselben in aller ihrer neugeborenen Winzigkeit eigentlich zu bedeuten haben, aufgegangen sein wird. Der kleine See und sein Flußsprößling zu unserer Linken sind der Henry’s-Lake und der den nördlichsten Quellarm des Snake River – des großen, früher als der Lewis-Fork[3] des Columbia bekannten Schlangenflusses – bildende Henry’s-Fork. Der winzige Wasserlauf zur Rechten ist der westlichste Quellfluß jenes Madisonflusses, dessen Haupttributar wir in dem von allen Dämonen der vulcanischen Unterwelt aus der Taufe gehobenen Firehole-River kennen gelernt haben. Wie aber der Henry’s-Fork durch den Snake River dem Columbia und somit dem Stillen Ocean zueilt, so strömt die silberne Quellfluth des Westarms des Madison durch diesen letzteren erst dem Missouri, dann dem Mississippi, und endlich im Golf von Mexico [591] dem Atlantischen Ocean zu. Und so steht man auf dieser niedern, unscheinbaren Wiesenerhebung auf einer der merkwürdigsten, stolzesten und weithin gebietendsten Wasserscheiden der Welt, kann man von ihr aus – wohl ein würdiger Abschluß der amerikanischen Wunderlandfahrt! – mit einem Blicke und fast in einem Athem seine Grüße jedem der beiden Weltmeere entsenden, welche diesen gewaltigen, hier mehr als dreitausend Meilen breiten nordamerikanischen Continent bespülen.


  1. Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
  2. Der amerikanische Acre ist etwas über zwei Morgen groß.
  3. Fork gleichbedeutend mit Quellfluß, Quellarm