Zedler:Vernunft-ähnliches
Vernunft-ähnliches, heisset dasjenige, was das Ansehen hat, als wenn es eine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge hätte, und aus einem das andere zu schliessen wüste. Die Erwartung ähnlicher Fälle hat eine Aehnlichkeit mit der Vernunfft. Denn wenn mir gemercket, daß bey gewissen Umständen etwas geschehen ist, und wir uns bey Wiedererblickung eben derselben Umstände darauf Rechnung machen, daß es wieder geschehen soll: so hat es das Ansehen, als wenn man hier eine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge hätte, und aus einem das andere zu schliessen wüste. Und also stehet diese Erwartung der Vernunfft in etwas ähnlich. Wolffs Metaph. §. 374. Sie vertritt aber in dem grösten Theile der Handlungen der Menschen nicht allein die Stelle der Vernunft; sondern kan auch der Vernunft gleichgültig, ja gar gemäß werden, wenn man die Umstände richtig determiniret, unter welchen etwas geschiehet. Denn so erkennet man, daß der Ausgang mit den Umständen zusammen hanget, ob man gleich nicht begreiffet, wie solches zugehet, und also in den Zusammenhang keine deutliche Einsicht hat. Wolffs Metaph. §. 375. Unterdessen kan die Erwartung ähnlicher Fälle auch ohne alle Vernunft seyn. Denn wenn wir von den Umständen nur einen klaren, dabey aber undeutlichen, ja öffters gar dunckelen Begriff haben, dadurch der Fall determiniret wird, und wir erblicken diese Umstände von neuem; so stellet uns auch die Einbildungs-Krafft zugleich vor, was damahls geschehen, und das Gedächtniß vergewissert uns, daß beydes bey einander gewesen, und daher suchet man es wieder da Wolffs Metaph. §. 376. Man findet, daß man in der gemeinen Philosophie den Thieren die Vernunft abgesprochen; aber doch etwas der Vernunft ähnliches, Lat. ANALOGUM RATIONIS, ihnen beygeleget. Dieses hat man in unsern Zeiten für ein unverständlich Wort gehalten. Allein wenn man es durch die Erwartung ähnlicher Fälle erkläret, wie sie bloß in den Sinnen, der Einbildungs-Krafft und dem Gedachtnisse gegründet ist: so wird man, wie Herr Wolff meynet, verständlich erkläret haben, was die Alten durch das ähnliche der Vernunft (ANALOGUM RATIONIS) verstanden haben. Wolffs Metaph. §. 377. Ob man es ihnen aber mit Recht zugeleget, ist nunmehro auszuführen: Da die Erwartung ähnlicher Fälle nicht mehr als Sinnen, Einbildungs-Krafft und Gedächtnis erfordert ohne allen Verstand; so kan man sie allerdings den Thieren beylegen, als die, wie in dem Artickel: Thier, im XLIII Bande, p. 1333. u. f. erwiesen worden, Sinne, Einbildungs-Krafft und Gedächtnis haben. Da nun dieselbe der Vernunft in etwas ähnlich ist; so haben die Thiere etwas der Vernunft ähnliches, wiewohl nicht alle in einem Grade, gleichwie selbst unter den Menschen die Vernunft nicht in gleichem Grade ausgetheilet ist. Z. E. wenn man einen Hund mit dem Prügel geschlagen, so hat er den Prügel gesehen und den Schlag gefühlet, und also zwey Empfindungen zugleich gehabt. Wenn man den Prügel wieder gegen ihn in die Höhe [1430] hebet, und er siehet es, so wird eine von denselben Empfindungen wieder von neuem erreget, und er fängt an zu schreyen und zu lauffen. Aus diesem Exempel siehet man gantz klar, daß die Erwartung ähnlicher Fälle der Vernunft ähnlich ist. Da nun die Vernunft eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten ist, die Erwartung aber ähnlicher Fälle gleichfalls einigen Zusammenhang der Dinge darstellet, als bey dem Hunde die Erblickung des Prügels die Schläge und die dadurch verursachte Schmertzen; so ist sie der Vernunft hierinnen ähnlich, und gleichsam der niedrigste Grad der Vernunft, oder die nächste Staffel zur Vernunft, oder auch der Anfang der Vernunft. Unterdessen da die Thiere niemahls weiter kommen, so bleiben sie immer auf der untersten Staffel stehen: sie fangen immer an und vollenden nichts. Gleichwohl aber siehet man, daß die Meynungen der Alten sich deutlich erklären lassen, und nicht ohne Grund sind, ob sie gleich selbst solche nicht haben zeigen können. Wolffs Metaph. §. 872. Ohnerachtet nun aber oben erwiesen worden, daß auch die Menschen das Aehnliche der Vernunft, nehmlich die Erwartung ähnlicher Fälle, mehr brauchen als die Vernunft; so ist doch dabey zwischen ihnen und den Thieren ein Unterscheid, indem gewiesen worden, daß sich der Verstand mit darein meliren, und dieses Aehnliche der Vernunft sogar derselben gleichgültig werden kan. Wolffs Anmerckungen über die Metaphys. §. 326. Inmittelst zeiget das, was bißhero von dem Vernunft-ähnlichen (analogo rationis) oder dem, was von der Vernunft ähnliches den Thieren beywohnet, angeführet worden, klärlich, daß die Menschen, welche andern blindlings folgen, und überhaupt in Erwartung ähnlicher Fälle der Vernunft gantz bey Seite setzen, sich nicht vernünftiger als das Vieh aufführen, nur daß sie durch ihre Natur nachzuthun und Fälle zu erwarten privilegiret sind, wobey das Vieh nicht intereßiret ist. Daher saget der Deutsche mit gutem Nachdrucke: Man raisonire wie ein Pferd, oder Pferdmäßig, wenn man anderer Urtheil in einem vermeinten ähnlichen Falle blindlings nachahmet, und es zu allem Unglücke am unrechten Orte anbringet. Wolffs Anmerckungen über die Metaphysick §. 119.