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Zedler:Socratische Lehrart

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Socratische Methode

Band: 38 (1743), Spalte: 305–307. (Scan)

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Socratische Lehrart, Methodus Socratica, ist diejenige Art, deren sich Socrates in seinen Lehren und Disputiren bediente, und die, wie schon in dem Leben Socratis angemercket worden meistens durch die Induction geschahe. Und sie wird sich am besten erklären lassen, wenn man sie gegen die Aristotelische hält. Es ist ohne dieses ein grosser Streit unter den Gelehrten entstanden, welche der andern vorzuziehen sey, und welche den größten Nutzen in der Erkänntnis der Wahrheit habe. Allein, wenn man die Sache recht überleget; So haben sie ohne Zweifel einerley Nutzen. Nach dem Urtheile des Cicero, welchem wir hierinnen am meisten trauen müssen, besteht die Induction darinnen: Daß man denjenigen durch ungezweifelte Gründe zum Beyfall zwinge, mit dem man sich in einen Streit eingelassen hat. Da dieses nun durch Fragen am bequemsten geschehen kan, so hat diese Lehrart auch den Nahmen der Erotematischen, oder der Frag-Lehrart erhalten. Es wird also derjenige, mit dem man sich in einen Streit einlässet, durch einige unumstößliche Sätze, die zwar nicht aus der Natur der Sache selbst, sondern anders woher genommen sind, zum Beyfall gebracht. In der Ratiocination hingegen, welche besonders bey den Peripateticis gebräuchlich war, wird, wie uns Cicero lehret aus der Sache selbst etwas wahrscheinliches angenommen, welches, wenn es erklärt und erkannt worden ist, sich durch seine eigne Krafft gewiß mache, und die Gründe der Gewisheit in sich selbst enthalte. Hieraus siehet man leicht, daß diese beyden Lehrarten vornehmlich darinnen übereinkommen, daß beyde Gegner, mit guten Waffen versehen; einander entgegen gehn, und, obgleich auf verschiedene Weise, einerley Zweck zu erlangen suchen; indem dieser die Sache selbst, deren Wahrheit gezeiget werden soll, untersuchet, ihre Natur erforschet, und daher etwas nimmt, woraus er seinen Gegner eines Irthums beschuldigen kan: So entfernt sich unterdessen jener ein wenig, und bringet, gleichsam als ob er mit andern Sachen beschäfftiget wäre, einen solchen Satz vor, dem man den Beyfall gar nicht versagen kan. Hierauf geht er hefftiger auf den Feind loß, und erweißt ihm, daß zwischen den nothwendig zugegebenen Satze und der Streitfrage einerley Verhältniß sey; und hierdurch erhält er leicht den Sieg. Da nun so wohl die Natur der Induction als Ratiocination deutlich ist, kan das übrige leicht erkläret werden. Es zielet nehmlich eine jede Disputir-Art dahin, daß wir die falschen Meynungen und Vorurtheile bey dem andern ausrotten, und ihn von der Wahrheit überzeugen. Man muß sich daher um unumstößliche Grundsätze bemühen, aus welchen man gut und richtig schliessen kan. In der Verbindung der Sätze muß nichts überflüßig seyn, oder etwas fehlen, oder übel zusammen hängen. Man mag von den Gründen auf die Schlüsse, oder von den Schlußsätzen auf die Gründe zurücke gehen; und aus diesen allen muß man endlich auf eine richtige Art seinen Hauptsatz herleiten. Dieses wird ein jeder wissen, der sich die Aristotelische Lehrart nur ein wenig bekannt gemacht hat. Allein es ist auch nicht zu zweifeln, daß dieses [306] nicht eben auch durch die Socratische erhalten werde. Dann für allen Dingen fragt man nach etwas, das vermöge seiner Natur nothwendig zugegeben werden muß. Hierauf erkläret man die Aehnlichkeit dieses Satzes mit der Streitfrage, und alsdenn wendet man sich näher zum Beweise derselben; und wenn man den Gegner in die Enge getrieben hat, hört man in seinem Beweise auf. Solte wohl hier nicht, wenn man die Sache genau betrachtet, einerley Krafft in den Schlüssen da seyn? Wird hier nicht beyderseits einerley Ordnung in Befestigung der Wahrheit betrachtet? Wird nicht auf beyden Seiten die Hauptregel aus der Schlußkunst zum Grunde geleget: Welche in einem Dritten übereinkommen, sind einander selber gleich? Da die Natur der Menschen so beschaffen ist, daß sie mehr zum Irthume als zur Wahrheit geneigt sind, und leichte denjenigen ihren Beyfall geben, welche selbst nicht wissen, was wahr ist: So ist es höchst nothwendig, daß man diesem eingewurzelten Uebel zu statten komme, und das Gemüthe des andern zur Annehmung der Wahrheit vorbereite. Es giebt viele Sachen, durch welche die Lehrer der Logic die Aufmercksamkeit des andern zu erwecken und zu erhalten suchen. Unter diesen ist wohl eine von den Vornehmsten, daß man nicht so wohl die Urtheilskrafft, sondern auch die Einbildungskrafft bey dem Menschen erregen müsse, damit der andere dasjenige, was erwiesen wird, gleichsam mit seinen Augen sehe. Es wird hier zwar nicht behauptet, daß die Aristotelische Lehrart von dieser Kunst nichts wisse; doch scheinet es, als wenn die Socratische hierzu viel bequemer wäre. Denn wenn man in derselben solche Sachen, die überall vorkommen und nothwendig zugegeben werden müssen, annimmt: So erwirbt man sich dadurch, indem man neue Bilder bey ihm rege macht, seine Aufmercksamkeit, und zwinget ihm zum Beyfall, wenn er uns auch denselben verweigert. Die Socratische Lehrart hat besonders ihren besondern Nutzen in Ueberzeugung dererjenigen, bey welchen hefftige Gemüthsbewegungen der Wahrheit den Eingang verschlossen haben; Und wie wenige sind, die ihre Gemüthsbewegungen in ihrer Gewalt haben? Es trifft öfters zu, daß eine Sache, ob sie gleich die größte Wahrheit vor sich hat, dem Menschen so verhaßt ist, daß sie sogleich bey ihrer Benennung schon in Erstaunen gesetzet werden? Wird man hier wohl etwas ausrichten, wenn man seine Beweise von der Sache selbst hernimmt? Es wird zwar dieses nicht gäntzlich geläugnet; doch ist dieses gewiß, daß man sie schwerlich überwinden wird. Sie werden hefftig widerstreiten, daß die Erklärung falsch, daß schon 1000 mahl auf diese Sache geantwortet und schon alles ausgemacht sey. Jedoch wir wollen sie auf die Socratische Art angreiffen; wir wollen etwas vorbringen, daß ob es gleich hieher nicht zugehören scheinet, doch mit unserm Satze eine Aehnlichkeit hat. Auf diese Weise werden wir sie erweichen, und ihnen ihren Beyfall, da sie es am wenigsten vermuthen, entreissen. Wir werden zwar denselben schwerlich eher erhalten, bis sie mercken, wohin wir zielen. Doch nunmehro schliessen wir von demjenigen, was sie uns zugegeben haben, auf [307] dasjenige, was sie nicht zugeben wollen, und alsdenn werden sie entweder, wenn sie es noch läugnen, ihre Unwissenheit verrathen, oder durch ihr gäntzliches Stilleschweigen den Sieg zu gestehen. Es scheinet auch keine Art geschickter zu seyn, den unstudirten Pöbel, welcher beständig von Vorurtheilen und Leidenschaften regieret wird, und die tiefsinnigen Beweise, welche aus der Natur der Sache hergenommen werden, zu überzeugen. Von dieser Socratischen Lehrart, hat Cicero ein ungemein schönes Exempel gegeben, welches würdig ist, daß man es nachlieset. De Inventione Rhetor L. I.